Schweitzer Fachinformationen
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Das Leuchten erfasste das silbrige Band des Flusses, auf dem glitzernde Schaumkronen elfenfunkengleich tanzten. Aus geometrischen Fassaden schienen sich blumenumrankte Säulen zu lösen und mit den strengen Formen zu spielen. Mysteriöse Fabelwesen bewachten Fenster und Türen, aus denen das Licht unzähliger Kristallleuchter strahlte wie aus einem allsehenden goldglänzenden Auge .
«Schläfst du?»
Antonia schreckte aus ihren Tagträumen hoch. Ein schmerzhaftes Pochen in ihren Rippen, da, wo sie der Ellbogen ihrer jüngeren Schwester Theres getroffen hatte, belehrte sie, dass sie den Rest der Totenmesse verträumt hatte. Sie riss sich von den bunten Kirchenfenstern los, schlug hastig das Kreuz und stand von der harten Bank aus Eichenholz auf. Gemeinsam mit der Mutter und ihren jüngeren Geschwistern Theres und Max reihte sie sich hinter dem Pfarrer in seiner purpurfarbenen Trauertracht und dem Sarg ein.
«Zu viel g'soffn .» Ein Tuscheln in Antonias Rücken holte sie unsanft, aber endgültig zurück in die Wirklichkeit. Elfen, Blumenranken und goldene Tore verblassten, wichen der unbezwingbaren Erdhaftigkeit tratschender Stimmen: «Der Hofer macht's auch nimmer lang, wirst sehen!»
«Ach wo! Das war die lange Krankheit im Sommer, der Pacher konnt doch kaum noch schnaufen.»
Doch im Grunde waren sich alle einig, dass es das Bier gewesen war, welches das vorzeitige Ende von Nepomuk Pacher herbeigeführt hatte.
Der Trauerzug war länger, als es dem Ansehen oder gar dem Reichtum des Vaters angemessen gewesen wäre. Auch wenn sie nicht zur Beerdigung kamen, um ihn zu ehren, wollten die meisten doch sehen, wie es nun mit seiner Familie weiterging.
«Das schafft die Pacherin nicht allein mit den Kindern», tratschten die Stimmen in Antonias Rücken weiter, als sie auf den winzigen Kirchhof hinaustraten. In der Nacht hatte es geregnet, und die gekiesten Wege waren noch feucht. Die Dorfkapelle spielte blechern und immer wieder schief, und die Stola des Pfarrers wurde genauso vom leichten Wind erfasst wie die Töne. «Mit einem achtzehnjährigen Mädel kann sie keinen Hof führen, und der Bub ist zu jung. Sie wird verkaufen müssen.»
Das hätten sie wohl gern, die Tratschweiber!, dachte Antonia. Am liebsten wäre sie ihnen übers Maul gefahren, doch von Kindheit an hatte sie gelernt, dass es meistens mit Prügeln endete, wenn man Gefühlen nachgab. Das eintönige Geräusch der vertrauten Gebete half ihr, Trauer, Wut und Hilflosigkeit zurückzudrängen, während der Sarg in die Erde gesenkt wurde. Nepomuk Pacher war kein liebevoller Vater gewesen. Aber nun, da er tot war, dachte Antonia mit Trauer an ihn. Sie erinnerte sich an den Tag, als er ihr unter dem vorspringenden Dach ein Holzpüppchen geschnitzt hatte, während der Regen über ihnen von den Schindeln troff, funkelnd aufleuchtend im Schein der durch die Wolken brechenden Sonne. An die Winterabende, wenn er ihnen am Kamin aus der Bibel vorlas. Das meiste davon war ihr kaum je aufgefallen, aber jetzt, da sie es nie wiederhaben sollte, spürte sie den Verlust.
Wenigstens bleibt uns der Hof, dachte sie. Das kleine windschiefe Häuschen mit Scheunen, Schweinekoben, Pferdestall und Gemüsegarten an der Dorfstraße war ihr Zuhause. Die winzige Kammer unter dem Dach, die sie mit Theres teilte, war zugig und ihr Bett nicht mehr als eine Strohmatratze. Doch seit sie denken konnte, war es ihr Reich. Durch ein winziges Dachfenster blickte man auf die Zufahrt, und wenn es stürmte, rüttelte der Wind am wurmzerfressenen Gebälk. Aber das Geräusch war ihr so vertraut, dass sie sich kaum vorstellen konnte, ohne es einzuschlafen.
Nach der Trauerfeier strömten die Gäste ins Wirtshaus gegenüber, ebenjenes, in dem Nepomuk Pacher seinen letzten fatalen Schluck genommen hatte. Von Jahr zu Jahr schienen mehr Leute stolz die neumodischen Gewänder und Hüte auszuführen, die man in der Stadt trug. Bauer Salzmeier, der reichste Hopfenbauer am Ort, trug natürlich auch schon so eines, mit Gehrock und Weste samt Uhrenkette. Aber man sah auch immer weniger Frauen in der Hallertauer Tracht, in langen seidenen Kleidern mit gerüschten Schürzen, schwarzen Miedern mit Silbertalern und Amuletten, Schultertuch, Kropfkette und Fellmütze.
Antonia blickte seufzend an ihrem altmodischen Gewand hinab, das sie von der Mutter geerbt hatte.
Sie ließ die anderen vorausgehen und streifte das Kopftuch von dem dunkelbraunen Zopf. Für ein neues Festtagskleid hatte sie ohnehin keine Verwendung mehr. Ihre Träume von einer Ausbildung in der Stadt konnte sie mit dem Vater begraben. Außer ihr gab es niemanden, der ihn auf dem Hof ersetzen konnte. Vielleicht war es besser so. Onkel Marius waren diese Träume nicht gut bekommen. Ihr Vater hatte seinen zehn Jahre jüngeren Bruder mehr als ein Mal verprügelt, wenn er von stuckverzierten Fassaden faselte, während der Hopfen von den Stangen gerissen werden musste. Dann, eines Tages nach der Ernte, war Marius verschwunden gewesen. Was seit letztem Jahr aus ihm geworden war, wusste niemand.
«Mein Beileid», riss sie die Stimme der alten Erna aus ihren Gedanken. Verhüllt in Berge von schwarzem Stoff, wuselte die winzige Gestalt heran und bekreuzigte sich mit gichtigen Händen. «Magst nicht rüberkommen zu den Lebenden? Du bist doch so schon ernsthaft genug. Immer beim Arbeiten, nie auf dem Tanzboden.»
«Ach, da versuchen die Burschen bloß, einen zu küssen», erwiderte Antonia abfällig. «Ruinieren einem den Ruf, nur um damit anzugeben, so wie der Ferdi es mit der Annamirl gemacht hat. Ich habe zu tun.»
Vorsorglich verschwieg sie der redseligen Alten, dass sie eigentlich ganz gern turtelte. Man musste nur aufpassen, sich nicht zu verlieben, und sobald einer anfing, sie als seinen Besitz zu betrachten, setzte es eine Watschn. Antonia hatte kein Mitleid mit Burschen, die zwar gerne auf Kosten anderer spielten, aber selbst ungern verloren.
«War ein hartes Jahr für euch», meinte die alte Bäuerin mitleidig.
«Der Salzmeier wollte uns schon wieder den Hof abluchsen», bestätigte Antonia und warf einen giftigen Blick in Richtung Wirtshaus, in dem der Bauer verschwunden war. «Zum Glück habe ich es den Eltern ausgeredet.»
«Gut g'macht, Dirndl, des is' recht. Der alte Ruach, der alte.»
Das konnte sie laut sagen. Salzmeier war ein Geizkragen, wie er im Buche stand. Vor allem wenn es darum ging, den Lohn für seine zahlreichen Mägde und Knechte zu bezahlen.
«Arbeit bloß net für den. Der langt seine Taglöhnerinnen untern Rock, sagt die Katharina», lieferte Erna sofort einen umfangreichen Bericht. «Und den armen Deifi, den Abensberger drüben in Reichertshausen, den hat der Salzmeier aus dem G'schäft mit einer Münchner Brauerei g'schmissen. A so a dreckerter Saukerl, so a dreckerter. Aber in der Kirch' schaut er allweil drein wie der Heilige Geist persönlich. Falt' die Händ' wie a' Engerl und verdraht die Augen zum Himmel, dass d' meinst, er tät gleich an Heiligenschein kriegen. Der verlog'ne Heuchler, der verlog'ne. - Aber .» Sie legte den Finger an die faltigen Lippen und grinste verschwörerisch. «Des bleibt unter uns.»
«Versprochen.» Antonia hatte für Franz Salzmeier auch nichts übrig. «Aber ich werde nicht für ihn arbeiten. Der Hopfen sieht gut aus, wenn kein größeres Unwetter kommt, kommen wir übers Jahr.»
Sie sagte es mit einem gewissen Stolz. Auch wenn sie den kranken Vater nicht hatte ersetzen können, dass sie den Hof überhaupt noch besaßen, war ihr Verdienst. Voll Wärme dachte sie an das Häuschen mit dem vorspringenden Dach, unter dem man bei Regen im Trocknen, bei Sonne im Schatten saß. Der Vater hatte eine Bank gezimmert, auf der die Kinder spielten oder die Mutter Handarbeiten erledigte. Den Sommer über mästeten sie Ferkel, ansonsten bewohnten nur der Hund Rudi und ein paar halbwilde Katzen die wenigen Gebäude. Das Zentrum bildete die Scheune, in der sie die Hopfendolden von den Schlingpflanzen zupften. Unterhalb des Kirchhügels, der von den wenigen Höfen umgeben war, erstreckten sich die Felder. Weite grüne Flächen voll meterhoher Stämme, an deren Drähten sich die Pflanzen hochrankten. Als Kind hatte sie darunter gespielt. Der herbe Duft der weiblichen Pflanzen mit ihren großen, hellgrünen Dolden begleitete sie schon ihr ganzes Leben.
«Weiß der Marius, dass der Nepomuk tot ist?», riss Erna sie erneut aus ihren Gedanken.
«Nein. Seit er nach München ist, haben die Eltern nicht mehr über ihn geredet.» Niemand ahnte, dass sie in ihrer Kammer unter getrockneten Hopfendolden Bilder ihres Onkels aufbewahrte: ungelenke Zeichnungen von Pferden und Höfen, von zerfurchten Gesichtern im Wirtshaus, von Männern in verschwitzter Arbeitskleidung mit Müdigkeit in den Augen, von Frauen mit Körben frischer Wäsche und von der Arbeit am Waschbrett aufgequollenen Händen. Auch ein Porträt der alten Erna war dabei. Von dem die natürlich nichts wusste.
«Ja, die Stadt, die Stadt!», raunzte die alte Erna. «Schön sauber soll's da sein, sagt' man. Koa Dreck net auf der Straß, aber so viel Leut'. G'schleckte feine Herrschaften, überall Droschken, die wo alles über'n Haufen fahr'n. Und des neumodische Zeug mit Elek. Elek.»
«Elektrizität?»
«Genau. Straßenlaternen und so. Naa, sag' i'. Mich kriegst net weg in die große Stadt. Net mit zehn Rösser.»
Marius hatte ganz anders geredet. Für ihn war die Stadt ein strahlender Sehnsuchtsort gewesen, voll Glanz und Licht und Schönheit. Wo die Männer ihre Frauen wie Prinzessinnen verehrten,...
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