Schweitzer Fachinformationen
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Wien, April 1919.
Askese, dachte Melchior Bruckner, war nichts als der Versuch, durch äußeren Verzicht wettzumachen, was einem an innerer Standfestigkeit fehlte. Aber diese philosophische Erkenntnis trieb ihm noch mehr Sorgenfalten auf die Stirn.
Aus dem Fond der Mietkraftdroschke blickte er durchs Fenster. Hier in der Lobau war die Natur unberührt wie einst, lange vor Kultur und Industrie. Vor Giftgas und Bomben, welche die Wälder von Verdun zu grauen, nach Verwesung stinkenden Wüstenlandschaften gemacht hatten. Wo die ehemaligen Schleifen der Donau nach und nach begradigt worden waren, hatten sich verschwiegene Seen und Altwässer gebildet. Weidenzweige streiften tiefgrüne Algenteppiche, und Stämme spiegelten sich in geheimnisvollen schwarzen Flächen. Es roch nach Erde. Nicht nach der Erde der Massengräber, sondern nach feuchtem, fruchtbarem Humus, nach frischem Gras und hellgrünen Tannenspitzen. Die sich selbst zurückgegebene Natur überwucherte die Reste der Zivilisation. Regenschauer hatten die Spuren verwischt, niedergetretenes Gras stand jetzt hoch, von keiner Sense geschnitten. Bemooste Äste verwitterten im Wasser, Biberburgen stauten ungehindert Nebenarme des Flusses zu flachen Seen auf. Enten und Frösche quakten am Ufer, wo kein Jäger lauerte. Wenn die Sonne zwischen den Zweigen hindurchfiel, ließ sie das stille Wasser wie flüssiges Quecksilber gleißen. Die atmende Natur brachte die aufgewühlte Seele zur Ruhe, ließ die verkohlten Stämme und zerfetzten Leiber der Westfront verblassen, erinnerte an die unbezwingbare Macht des Lebens.
«Die Nackerten!», empörte sich der Fahrer vorn und riss Melchior profan aus seinen Betrachtungen. «Da wären wir. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie da hinwollen?» Er blickte nach seinem eleganten Fahrgast, der, wann immer er sich die Stirn mit einem Tüchlein aus feinem Kattun tupfte, dreinsah, als sei dieser schöne Apriltag schuld an dem Unbill, welches ihn hierhergeführt hatte.
Melchior entstieg dem Automobil, ohne zu antworten. Er schwang nur sich räuspernd den Gehstock und fragte: «Diese Richtung also?»
«Die sind das Ärgernis der ganzen Stadt», schnaubte der Fahrer. «Freikörperkultur nennen sie die Sauerei! Die haben nicht das kleinste Fetzerl Stoff am Leib, sag ich Ihnen, Männer und Frauen!» Er musste erst einmal tief durchatmen, um der Bedeutung dieses Skandals gerecht zu werden. «Sodom und Gomorrha!» Sprach's und betätigte im Zorn der Gerechten das Gaspedal, sodass der Wagen einen Satz nach vorn machte und Melchior Bruckner samt Gehstock zur Seite springen musste.
«Nix für ungut», entschuldigte er sich. Melchior justierte mit einer Grimasse den Sitz seines modischen schwarzen Huts, was ihn immerhin einer Antwort enthob.
«Was macht ein Herr wie Sie eigentlich hier?»
Melchior hob das Kinn, worauf der Fahrer zusammenzuckte und sich unwillkürlich stramm aufrichtete.
«Sie haben gesagt, das geht mich nichts an. Scho recht, Herr Geheimrat. Ich warte hier. Gehorsamster Diener.»
Aber sein Fahrgast hatte bereits den Gehstock mit einem eleganten Schwung unter dem rechten Arm verstaut und war in die angegebene Richtung losmarschiert.
Der Taxifahrer stieg aus und lehnte sich an seinen Wagen. Nachdenklich schob er sich die Mütze aus der Stirn und sah dem hochgewachsenen, schlanken Mann mit dem schmalen, glattrasierten Gesicht und dem modisch aus der Stirn frisierten hellbraunen Haar nach, der zwischen den Bäumen verschwand. Im Grunde konnte es ihm gleich sein. Die Uhr lief, und jede Minute brachte ihm mehr Geld ein. Das war es schon wert, in diesem Sumpf eine Weile herumzustehen. Dennoch beschäftigte ihn die Frage, was so ein feiner Herr wohl hier wollte, bei den Nackerten?
Melchior schlenderte den schmalen Pfad entlang. Seine Schuhe waren aus Leder, und er achtete darauf, nicht die zahlreichen Pfützen zu treten, was die Sohlen schnell durchnässt hätte. Sumpfdotterblumen und Wiesenschaumkraut, das überall an den lichten Stellen zwischen den Bäumen wuchs, streiften seine Hosenbeine. Immer wieder blitzte Wasser im Grün auf, und Algenteppiche schimmerten geheimnisvoll wie grüner Samt im Schatten. Die Luft war warm, und irgendwo roch er sogar schon Flieder. Er hätte den Spaziergang genossen, hätten nicht die sorgenvollen Gedanken auf seiner Seele gelastet.
Er erreichte eine Lichtung, die sich sanft zu einem der Altwässer senkte. Und da waren sie. Unübersehbar.
Er seufzte.
Auf der Wiese war ein Transparent aufgespannt, auf dem zu lesen stand «Alkohol verdirbt den Geist». Unterhalb davon lagen nackte Leiber in der Sonne. Tatsächlich nackt. Ohne das geringste bisschen Kleidung.
In seiner Jugend hatte Melchior es selbst genossen, seine Mutter mit künstlerischen Abbildungen nackter Frauen zu schockieren. Dennoch blieb er jetzt einen Moment stehen und schnappte nach Luft.
Dann presste er grimmig die Lippen zusammen und steuerte auf die kleine Blockhütte zu, die am Rande des Auwaldes stand.
Während er über die Wiese lief, richteten sich alle Augen auf ihn. Auf einmal hatte er das Gefühl, er wäre der Nackte und alle anderen angezogen. Es war ein seltsames Gefühl der Scham, das ihn ergriff und unangenehm in seinem Nacken saß. Das Gefühl, unpassend zu sein. Als ob sich alle Blicke auf ihn richteten, empört ob der Schamlosigkeit, hier Kleidung zu tragen.
Der Mann auf den Stufen der Blockhütte erhob sich, als Melchior auf ihn zutrat.
«Ich suche Clara Bruckner», sagte Melchior. Obwohl er sich bemühte, war es gar nicht so leicht, hier einen würdevollen Ton zu bewahren.
Der Nackte wies hinter die Hütte, und als Melchior sie umrundete, verlor er doch beinahe die Contenance. Gemeinsam mit einer zarten Blondine, die er unschwer als Claras Freundin Magdalena Moser erkannte, war sein Nachwuchs über ein weiteres Transparent gebeugt. Und die Aufschrift, mit der sie es versahen, lautete «Bier - das Große Tier».
Demnach verdiente er also sein Geld mit einem apokalyptischen Monster. Es hat mich zwar schon so mancher für eine Inkarnation des Leibhaftigen gehalten, dachte Melchior, aber das hier ist doch ein wenig provokant. Ich hätte es ahnen müssen. Dass Antonia und ich keine bezopften Klosterschülerinnen zeugen würden, war absehbar.
Als die Mädchen ihn hörten, richteten sie sich auf. Seine Tochter streifte sich mit der einen Hand das offene braune Haar aus dem Gesicht und schirmte die Augen gegen die Sonne.
«Vater!», rief sie überrascht.
Sie hat meine Augen, dachte Melchior mit einem Anflug von Rührung. Riesengroß und blau, dieselben geraden Brauen. Und Antonias hübschen Mund. Nur wann, um Himmels willen, ist sie so erwachsen geworden?
Clara warf den Pinsel hin und lief auf ihn zu, um ihn zu umarmen.
Mit einem peinlich berührten Räuspern schob er sie von sich weg. «Ich bin keineswegs prüde», meinte er, «aber wie wäre es, wenn du dir wenigstens ein Feigenblatt anziehst?»
«Nacktheit ist nichts Unmoralisches», wandte Magdalena ein und rollte das Transparent zusammen. Melchior erinnerte sich, dass ihr Vater, der Inhaber der Malzfabrik Moser, im Sommer gefallen war. «Der Körper benötigt Luft und Licht, um gesund zu bleiben. Es ist die Kleidung, das schamhafte Verbergen der Haut, das überhaupt erst zu erotischen Begierden führt. Hier gibt es kein Reich und Arm, kein Männlich oder Weiblich. Hier gibt es nur Menschen.»
Sie stand auf und schob die hellblonden Locken über die Schulter. Auch wenn sie eher ein Modell für Cranach denn für Rubens abgegeben hätte, war das Gesicht mit den wasserblauen Augen und den fein geschwungenen Lippen von einer klassischen Schönheit. Wie eine Heilige auf dem Bild eines alten Meisters, dachte Melchior unwillkürlich. Allerdings hatten die mehr Kleidung getragen.
«Sie hat recht», stimmte Clara zu. «Wir holen nur den Naturzustand des Paradieses zurück. Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein - allerdings sollte er dabei vielleicht nicht gerade im Glashaus sitzen, nicht wahr, lieber Vater? Pflegtest du nicht zu sagen: ?»
Melchior hob die Brauen. Vermutlich waren Mädchen wie Clara der Grund, warum sich so viele Väter hübsche, dumme Töchter wünschten. Die merkten sich nicht alles, was man sagte, um einen im falschen Moment wieder daran zu erinnern. «Kann das Paradies einen Augenblick warten? Ich habe mit dir zu reden.»
Es war eigentlich ein viel zu schöner Tag, um sich anzuziehen, dachte Clara, als sie mit Magdalena in der Hütte verschwand, um ihr Kleid zu holen. Es war blau und weit geschnitten. Ein wenig zu klein, aber der Krieg war gerade erst ein paar Monate vorbei, und selbst wer es sich leisten konnte, hatte keine Zeit für seine Garderobe gehabt. Nach dem Vormittag an Luft und Licht kam es ihr kratzig vor, eine überflüssige künstliche Haut.
«Er will uns zurück nach München holen», meinte Magdalena, während sie sich anzogen.
Claras Lebhaftigkeit verflog, und mit einem Schlag war die Erinnerung an das, wovor sie hierhergeflohen war, wieder da.
«Das war zu erwarten», sagte sie endlich. «Weißt du noch, wie es im Februar nach Unruhen aussah, nachdem Ministerpräsident Eisner ermordet wurde? Vermutlich ist Vater uns nur deshalb nicht sofort nachgereist. In unserer Wiener Pension bei der dicken Frau Kammerer waren wir sicherer. Aber jetzt scheint es ruhiger zu sein, sonst wäre er nicht hier.» Clara zupfte das Kleid am Saum gerade und schlüpfte in ihre Schuhe. Sie wollte nicht über das reden, was hinter ihnen...
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