Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
NATUR IN EINER GEBAUTEN UMWELT Seit es Städte gibt, finden sich in ihnen auch Tiere und Pflanzen, die mit städtischen Bedingungen besonders gut zurechtkommen. Schon der Zürcher Naturforscher Conrad Gessner hat im Jahr 1561 in seinem unvollendeten Werk »Horti Germaniae« 30 verschiedene Pflanzenarten beschrieben, die vor allem an den Stadtmauern wuchsen. Da Felsblöcke und andere geeignete Lebensräume (Habitate) für Mauerpflanzen auch damals in der umgebenden Landschaft nicht häufig waren, mussten diese Pflanzenarten Teil einer speziellen Stadtflora sein. Denn wie eine Ackerkultur über Jahrhunderte Begleitkräuter wie den Klatschmohn (Papaver rhoeas) oder die Kornblumen (Centaurea cyanus) gefördert hat, wurden mit dem Bau von Stadtmauern für Farne wie die Mauerraute (Asplenium ruta-muraria) gute Bedingungen geschaffen. Später kam an den Stadtmauern zum Beispiel das ursprünglich mediterrane Zimbelkraut (Cymbalaria muralis) hinzu, das schnell eine der häufigsten Mauerpflanzen wurde. Auch auf den Äckern sind durch natürliche Pflanzenmigration und durch den Menschen verfrachtet neue Arten hinzugekommen, etwa die mediterrane Saat-Wucherblume (Chrysanthemum segetum), eine zeitweise in Nordeuropa gefürchtete invasive Art, die heute vielerorts wieder selten ist.
So wie auf dem Acker der Umbruch, die Bodenstruktur und die Kulturfolge die Artenzusammensetzung der Begleitkräuter beeinflussen, haben die Düngung, die Exposition und der Schnittzeitpunkt wesentlichen Einfluss auf die Blütenpflanzen einer Wiese. Genauso ist es in der Stadt: Die Versieglung, die Abwärme, die Stadtbrachen, die verdichteten Böden am Wegrand, die Luftzusammensetzung, die Hundepinkelecke und das Streusalz sind Voraussetzung dafür, welche Pflanzen sich wo ansiedeln können. Diese Präferenz für städtische Lebensräume wird als »Urbanophilie« bezeichnet. Urbanophil sind Pflanzenarten, die in städtischen Verhältnissen bessere Habitatbedingungen finden als außerhalb. Es sind Pflanzen, die das Leben in der Stadt lieben, etwa weil sie den Umbruch einer Baubrache benötigen und im erwärmten Stadtklima besser wachsen. Es gibt natürlich auch Pflanzen, die wir fast nie in Städten finden, weil sie zum Beispiel als Moor- oder Waldpflanze in den oft exponierten, kurzlebigen städtischen Böden keine guten Lebensbedingungen finden. Und dann gibt es noch jene, die sowohl außerhalb wie auch innerhalb der Städte gleichermaßen vorkommen. Dazu zählen in Europa viele häufige Arten der Fettwiesen und Weiden, beispielsweise das Knäuelgras (Dactylis glomerata) oder die Schafgarbe (Achillea millefolium). Einige Arten sind in manchen Regionen typische Stadtpflanzen, in anderen Regionen zeigen sie diese Präferenz wiederum nicht. Weil in der Stadt der pH-Wert der Böden aufgrund von Kalk in Gesteinen, zum Beispiel in Kiesflächen oder im Zement, oft hoch ist, gelten kalkliebende Arten in bodensauren Regionen als Stadtpflanzen, während sie diese Präferenz in anderen Regionen nicht zeigen. Ein Beispiel hierfür ist die Gewöhnliche Waldrebe (Clematis vitalba), die in Städten eher selten vorkommt, aber in der bodensauren Region Berlins nur in den urbanen, kalkreicheren Gebieten überleben kann.
WO SIND ALL DIE BLUMEN HIN? Einst waren in Europa die Wiesen blumenreich, die Äcker rot und blau gesprenkelt von Mohn und Kornblumen, wie auf den Gemälden von Monet und Van Gogh. Der Blumen- und sinnbildlich der Artenreichtum der traditionellen Acker- und Weidelandschaft waren ihrer vielfältigen Struktur zu verdanken, aber auch den oft mageren Böden und der jahrhundertelangen, ähnlichen Kultur. Es war eine Kultur, die nicht viel abwarf. Die Erträge waren niedrig, die Felder klein. Dafür boten sie Lebensraum für unzählige Arten.
Viele Tiere und Pflanzen sind erst in diese Landschaft eingewandert, weil der Mensch kontinuierlich die Urwälder gerodet hat, die Mitteleuropa ansonsten bedecken würden. Solange diese Eingriffe des Menschen die Vielfalt der Habitate erhöhten, wurde Raum für eine neue, heute als heimisch betrachtete Biodiversität geschaffen. Weder den Weißstorch, den Feldhasen noch den Klatschmohn könnten wir zu den heimischen Arten zählen, hätte der Mensch nicht die für diese Arten geeigneten Habitate in Mitteleuropa geschaffen. Wärmeliebende Arten sowie solche, die offene Wiesen brauchen, wären ohne die traditionelle Kulturlandschaft nur im natürlichen Grasland Osteuropas und im mediterranen Raum heimisch. Die über Jahrtausende kultivierte, kleinräumige Kulturlandschaft aus Wäldern, Weiden, Äckern, Ur- und Kulturwäldern hat jene Artenvielfalt erst ermöglicht, die wir heute einheimisch nennen. Der Naturschutz, besonders in Europa, orientiert sich über weite Teile am Idealbild dieser Landschaft, wenn es um den Schutz von Insekten, Pflanzen oder selten gewordenen Vogelarten geht.
Obschon also die Artenvielfalt Europas durch den Menschen stark positiv mitgeprägt wurde, sind wir auf dem Weg, alles wieder zu verlieren und der menschenbeeinflussten Vielfalt eine menschengemachte Einfalt gegenüberzustellen. Während ein Acker über Jahrtausende nicht nur dem Getreide, sondern auch dem Mohn, der Kornblume, der Kornrade und dem Erdrauch eine Heimat war, der Wachtel ein Ort zum Brüten und dem Feldhasen eine Kinderstube, so sind diese Flächen heute vielerorts Teil einer industriellen Bewirtschaftung und kein Lebensraum mehr. Die größtmögliche Produktion von Nahrungsmitteln war zwar schon immer Ziel der Ackerbauern, auch als die Äcker noch rot und blau vor Blumen leuchteten. Geändert hat sich nicht das Ziel der Bewirtschaftung, sondern die Methode. Düngung, Saatgutreinigung, Herbizide, neue und effizientere Bewirtschaftungsmethoden, größere Maschinen sowie dichtere Felder lassen keinen Raum mehr für diese Werte der Natur, die einst mit der Produktion einhergegangen sind.
Den Garten Eden des Naturschutzes, die liebliche, unendlich lebendige Welt der traditionellen Landwirtschaft haben wir in Mitteleuropa fast komplett verloren, weil sie eines nicht war, was unsere Landschaft heute ist: ertragreich. Die Böden waren zu mager, die Wiesen zu feucht, die unberechenbaren Einflüsse der Natur zu vielfältig. Verloren haben wir sie mit dem Hunger, der davor herrschte, an den Wohlstand von heute.
Vielfältig an Struktur ist die Landschaft heute nicht mehr. Stattdessen ist sie ausgeräumt und kahl, großflächig angelegt und landwirtschaftlich aufgewertet (melioriert), da entwässert, dort bewässert, bodenverbessert, gedüngt und planiert. Das hat den Erträgen und der optischen Qualität unserer täglichen Speisen zweifelsfrei gutgetan, wir essen täglich davon und wollen sie nicht missen. Doch sollten wir uns der Kosten dieses Konsums und des eigenen Wohlergehens bewusst sein: Für viele Arten, denen diese Landschaft einst als Lebensraum diente, ist sie heute lebensfeindlich. Eindimensional ist die Landwirtschaftszone damit geworden. Während die Landwirtschaft in ihrer traditionellen Form den Lebensraum für unzählige Arten geschaffen hat, hat sie in den letzten 70 Jahren weiträumig fast alle Funktionen außer der der Produktion verloren. Natürlich gibt es Strategien dagegen, natürlich gibt es viele Initiativen und alternative Konzepte, um diese Situation zu verbessern und die Produktion und den Naturreichtum (wieder) zu verknüpfen. Aber ihre Umsetzung ist nicht einfach, denn im gegenwärtigen Landwirtschaftssystem ist jede Verbesserung für die Natur mit der Angst vor Ertragseinbußen und der Rückkehr zu den vergleichsweise unproduktiven Zeiten der traditionellen Landwirtschaft verbunden. Und während sich für manche Art die Situation durch teure Maßnahmen ein wenig entspannt, lesen sich die Roten Listen anders: Zu viele Arten haben in dieser Landschaft keinen Lebensraum mehr.
Gleichzeitig hat die Artenvielfalt in der Stadt stark zugenommen, sind neue Arten hinzugekommen, und alte Ackerbegleitkräuter haben neue Refugien im urbanen Umfeld gefunden. Heute sind die Städte in Bezug auf manche Artengruppen reicher und biodiverser als viele intensiv bewirtschaftete Landwirtschaftsgebiete. Auch weil hier ein anderer Nutzungsdruck herrscht, der weniger einer Artenvielfalt entgegensteht.
DIE NEUE, GLOBALISIERTE NATUR Durch Zufall bin ich auf das Buch »Wild Plants in the City« von 1975 gestoßen. Darin beschreibt die Autorin Nancy N. Page die für New York typischen Pflanzen in den urbanen Habitaten. Fast alle diese Arten kenne ich aus Zürich oder Basel, sie wachsen auch in München, Wien, Hamburg, San Francisco, Philadelphia und nicht wenige in Peking oder Kapstadt. Es hat sich eine globale Stadtnatur...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.