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Weihnachten #1, 2008
Ich, Hannah Gallangher, bin eine Art Expertin für deprimierende Playlists.
Natürlich ist das eine bescheuerte Superkraft, ich würde auch lieber fliegen können oder Gedankenlesen oder mich in eine Pfütze aus metallischem Glibber verwandeln können wie Alex Mack, aber wir können uns die Karten, die uns zugeteilt werden, eben nicht aussuchen. Und das weiß ich auch.
Ich füge der Playlist, an der ich gerade arbeite, »Brick« von Ben Folds Five hinzu, direkt gefolgt von »Skinny Love« von Bon Iver. Sicherheitshalber lege ich noch »Vindicated« von Dashboard Confessional obendrauf. Ein Problem der Musik heutzutage ist meiner Meinung nach, dass es zu viele Songs übers Verlassenwerden gibt oder darüber, dass man jemanden liebt, der diese Liebe nicht erwidert, und zu wenige über den besorgniserregenden Zustand der ganzen verdammten Welt.
Ich habe die letzten vier Jahre damit verbracht, meine Skills zu verfeinern, und die heutige Playlist wird mein Meisterwerk.
Ich verkleinere ein Browserfenster, um meine LimeWire-Downloads zu checken. Verdammt! Der Ladebalken hat sich kaum bewegt, und der Lüfter meines Laptops brummt, als würde er jeden Moment von meinem Schoß abheben.
Wenn ich »Hide and Seek« wirklich will, könnte ich es kaufen. Aber neunundneunzig Cent sind viel Geld für einen einzigen Song, und es nervt mich immer noch, dass dieser Hit durch Marissa Cooper aus O.C., California den unangenehmen Beigeschmack eines niedlichen und beliebten Mädelssongs bekommen hat. Andererseits ist meine Playlist sonst etwas männerlastig, und seit wann haben Männer das Monopol auf Lebensangst?
Ach, egal! Es ist Weihnachten. Wenigstens das hab ich mir verdient.
Ich hopse von meinem Hochbett und mache mich auf den beschwerlichen Weg - ganze drei Schritte - zum Schreibtischstuhl, über dessen Lehne mein Rucksack hängt. Mein Portemonnaie ist irgendwo ganz unten, zusammen mit einem Haufen eingetrockneter Stifte und halbfertigen Spanisch-Arbeitsblättern vom letzten Semester.
Gerade als ich meinen Geldbeutel zu fassen kriege, klopft es an der Tür.
Das ist seltsam.
Es kann niemand von meinen Freunden sein, denn ich habe hier keine. Und selbst wenn ich welche hätte, wären sie in den Winterferien zu Hause und würden mit ihren glücklichen, intakten Familien Weihnachtsschinken essen.
Als ich die Tür öffne, stehe ich einem gertenschlanken Typen mit hellbrauner Haut gegenüber, der gekleidet ist, als wäre er eben von einem Mittelaltermarkt geflohen. Das Smokinghemd mit Rüschen hat er in eine Hose gesteckt, die so schmal geschnitten ist, dass sie einem Mädchen gehören könnte. Sein Look wird noch durch einen grünen Krawattenschal mit Paisleymuster und einen schwarzen Samtumhang abgerundet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er Eyeliner trägt, was ihm, das muss man fairerweise sagen, wirklich gut steht.
»Wer bist du?« Ich halte mich nicht mit Höflichkeiten auf, weil ich mir sicher bin, dass er sich im Zimmer geirrt hat.
»Ich bin Finn Everett«, verkündet er, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, obwohl ich weiß, dass ich ihn noch nie in meinem Leben gesehen habe. Ich würde mich an ihn erinnern. Um seine Aussage zu unterstreichen, wirft er den Umhang theatralisch über die eine Schulter, wobei ein purpurrotes Seidenfutter aufblitzt, und stemmt eine Hand in die Hüfte. Er starrt mich an, als würde er auf eine Antwort warten, obwohl er derjenige ist, der an meine Tür geklopft hat.
»Okay, Finn Everett, was willst du?«
»Was machst du an Weihnachten auf dem Campus? Du weißt schon, dass du eigentlich nicht hier sein darfst, oder?«
Ich kenne ihn erst seit dreißig Sekunden, und er regt mich jetzt schon auf. Aber ich weiß, wie ich ihn loswerde: »Ich bin Waise.«
Mit Genugtuung sehe ich, dass er bei diesem Wort zusammenzuckt. Normalerweise würde ich mich nicht so bezeichnen, aber ich will wieder meine Ruhe haben, und in den letzten Jahren habe ich gelernt, dass nichts ein Gespräch schneller beendet als das W-Wort. Ich selbst wäre jedenfalls am liebsten davongerannt, als ein Sozialarbeiter mittleren Alters in einem kastigen braunen Blazer mir und meiner Schwester gegenübersaß und das Gespräch mit den Worten eröffnete: »Jetzt, da Hannah eine Waise ist, müssen wir uns überlegen, wie wir ihre Vormundschaft regeln.«
Finn Everett mustert mich von oben bis unten, betrachtet meine karierte Pyjamahose, meinen übergroßen Boston-College-Pulli und mein fettiges Haar, das seit drei Tagen zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden ist.
»Nein«, sagt er und schüttelt den Kopf, als wäre ich eine Matheaufgabe, die er nicht lösen kann. »Für ein Waisenkind bist du zu hübsch.«
»Wie bitte?«
»All die feinen weißen Damen hätten sich darum gerissen, dich aus dem Waisenhaus zu holen. Du bist süß. Underdressed, aber süß.« Als ich nicht reagiere, fügt er hinzu: »Das war übrigens ein Kompliment!«
Tja, Mist. Offensichtlich gehört er nicht zu den Leuten, denen es die Sprache verschlägt, wenn sie von meinen toten Eltern hören. Ganz im Gegenteil, er interessiert sich für mich. Dabei gibt es nichts Schlimmeres als Leute, die nachfragen. Wie ist es passiert? Zur gleichen Zeit? Wie alt warst du? Wie geht es dir damit?
»Nicht so ein Waisenkind. Ich bin keine von diesen Kohlkopfpuppen mit Adoptionsurkunde, oder was auch immer du denkst. Meine Eltern sind gestorben, als ich fünfzehn war.«
»Oh, okay. Na gut, aber jetzt wartet jedenfalls ein Abenteuer auf uns.«
Mein ganzer Körper entspannt sich, als ich merke, dass er zum nächsten Thema übergeht. »Ach, wirklich?« Ich habe das Studentenwohnheim seit zwei Tagen nicht mehr verlassen, weil der gesamte Campus dicht ist, sogar die Mensa. Ich habe mich von einer Packung Special K Red Fruit ernährt und von Bohnen-Käse-Burritos aus dem nächsten Laden, die ich mir in der Mikrowelle warmgemacht habe. Was für ein Abenteuer könnte uns da schon erwarten?
»Oder hast du was Besseres vor?«, fragt Finn.
Nein, habe ich nicht. Ich werde meine Playlist hören, während ich einen ganzen Becher Ben & Jerry's Cookies & Cream verputze, und dann werde ich mir vielleicht Stirb langsam ansehen, den am wenigsten kitschigen Weihnachtsfilm, um mir einzureden, dass ich in Weihnachtsstimmung bin. Doch das will ich ihm nicht verraten, weil ich weiß, wie das klingt.
Aber Finn Everett braucht keine weitere Ermutigung. Er schiebt sich an mir vorbei, und sein Blick wandert zwischen den beiden Seiten meines Zimmers hin und her, die jeweils mit einem Bett, einem Schreibtisch und einer Kommode ausgestattet sind. »Welcher Schrank ist deiner?«
Auf der einen Seite liegt eine einfache marineblaue Bettdecke. Jeder Quadratzentimeter der Wand aus Schlackenbetonstein ist mit Bandpostern zugekleistert. Guster, O.A.R., Weezer, Wilco, The Postal Service. Die andere Seite ist mit einer Lilly-Pulitzer-Bettdecke und einem einzigen Poster von Jessica Simpson dekoriert, die in Unterwäsche staubsaugt. Ich denke, es ist offensichtlich, welcher der Schränke mir gehört, aber ich zeige trotzdem auf den rechten. Er fängt an, sich durch die Kleiderbügel zu arbeiten. Ich weiß nicht recht, was er sucht, aber ich bin mir sicher, dass er es nicht finden wird. Ich trage ausschließlich Band-T-Shirts, die ich an den Merch-Tischen im Paradise Rock Club und im Orpheum erstanden habe.
»Das war's?« Er seufzt so dramatisch, dass ich mir eine Entschuldigung für meinen Mangel an Abendkleidern verkneifen muss.
»Wonach suchst du denn?«
»Etwas Besseres als .«, er deutet auf meinen Pyjama und verzieht das Gesicht, als hätte er verdorbene Milch gerochen, »das hier.«
»Und wo gehen wir hin, wo es so eine strenge Kleiderordnung gibt?«
»Jetzt müssen wir erst noch einen Boxenstopp einlegen. Schnapp dir deinen Mantel. Los geht's.« Er schnippt zweimal mit den Fingern, um seine Aufforderung zu unterstreichen. Ich bin so verdutzt, dass ich nach meinem Daunenmantel greife und in ein Paar salzbefleckte Ugg-Boots schlüpfe. Anscheinend wartet ein echtes Abenteuer auf uns.
Wir treten aus dem Wohnheim in die kalte Nachtluft hinaus. Schneeflocken tanzen im Wind, doch am bemerkenswertesten ist nicht der Schnee, sondern die Stille. Normalerweise wuseln hier tausende Studierende herum, auf dem Weg zu einem Seminar über Perspektiven auf die westliche Kultur oder zu einem Spinning-Kurs im Plex, oder sie strömen nachts - und seien wir ehrlich, manchmal auch tagsüber - zu Partys außerhalb des Campus, um Flip-Cup zu spielen. Aber heute Abend sind nur wir da.
Wir überqueren die etwas unglücklich als Dustbowl bezeichnete Grünfläche auf dem College-Campus. Sie ist alles andere als staubig und den Großteil des Jahres ein grasbewachsener Platz, umringt von stattlichen Steingebäuden, aber jetzt ist sie mit einer zwei Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt. Als ich den Campus zum ersten Mal besichtigte, war es Frühling, und der Rasen war übersät mit Freundinnenpaaren, die sich auf Strandtüchern sonnten, während um sie herum Gruppen von Jungs Frisbee spielten. Es war genauso, wie es am College sein sollte, zumindest wenn man von der Serie Dawson's Creek ausging. Und es war das Stückchen Normalität, nach dem ich mich sehnte.
»Wie hast du mich überhaupt ausfindig gemacht?«, erkundige ich mich. Vielleicht hätte ich mehr Fragen stellen sollen, bevor ich mich auf diesen Ausflug eingelassen habe. Nicht, dass ich jemals...
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