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Eine von oben bis unten gewöhnliche Eiche«, sagte der Junge zu dem Baum. »Knapp fünfzehn Meter hoch, was zum Angeben nicht gerade viel ist.«
»Und hunderttausend Jahre bist du auch nicht alt. Vielleicht so ungefähr hundert«, schätzte er und dachte an seine Großmutter, die fast neunzig und auch nichts weiter als eine ganz gewöhnliche unzufriedene alte Frau war.
Benannt, vermessen und verglichen verlor der Baum an Großartigkeit für den Jungen.
Aber dennoch konnte er in der mächtigen Krone ein wehmütiges und vorwurfsvolles Rauschen hören. Da blieb ihm nur Gewalt, und er schlug den großen Stein, den er schon lange in seiner Hosentasche mit sich herumtrug, fest in den Stamm.
»Das hast du davon, und jetzt schweig«, brummte er.
In diesem Augenblick wurde der große Baum still und der Junge, der wußte, daß etwas Wesentliches geschehen war, schluckte den Kloß im Hals herunter und achtete nicht auf seine Trauer.
Es war der Tag, an dem er Abschied von seiner Kindheit nahm. Er tat es zu einer bestimmten Stunde und an einem bestimmten Ort, und deshalb würde er sich immer daran erinnern. Und viele Jahre lang würde er darüber nachgrübeln, was es gewesen war, worauf er an diesem Tag in dieser sehr fernen Kindheit verzichtet hatte. Mit zwanzig sollte er eine Ahnung davon bekommen, und von da an würde er sein Leben lang versuchen, das Verlorene wiederzufinden.
Doch jetzt stand der Junge auf dem Felsen hinter Äppelgrens Garten und sah aufs Meer hinaus, wo sich der Nebel zwischen den kleinen Inseln verdichtete, um sich dann langsam auf die Küste zuzuwälzen. Im Land seiner Kindheit hatte der Nebel viele Stimmen, von Vinga bis Älvsborg sangen an einem Tag wie diesem die Nebelhörner.
Hinter sich hatte er den Berg und die Wiese mit dem Land, das es eigentlich nicht gibt. Am Ende der Wiese, wo der Boden tiefer wurde, lag der Eichenwald, dessen Bäume all die Jahre zu ihm gesprochen hatten.
In ihrem Schatten war er dem kleinen Mann mit dem seltsamen runden Hut begegnet. Nein, dachte er, so war es nicht. Er hatte den Mann immer gekannt, aber im Schatten der Laubbäume hatte er ihn auch gesehen.
Das konnte ihm jetzt gleichgültig sein.
»War alles nur Quatsch«, sagte der Junge laut und kroch unter dem Stacheldraht von Äppelgrens Zaun hindurch.
Er entging der Frau, Edit Äppelgren, die an einem Vorfrühlingstag wie diesem aus schnurgeraden Beeten Unkraut zu reißen pflegte. Die Nebelhörner hatten sie ins Haus getrieben, sie vertrug keinen Nebel.
Der Junge verstand das. Der Nebel war die Trauer des Meeres und ebenso unendlich wie das Meer. Eigentlich unerträglich .
»Quatsch«, sagte er dann, denn er wußte es ja besser, hatte er doch soeben beschlossen, die Welt so zu sehen, wie andere Leute sie sahen. Der Nebel war die Wärme des Golfstroms, die in den Himmel stieg, wenn die Luft sich abkühlte.
Das war alles.
Aber so ganz konnte er die Traurigkeit, die im langgezogenen Heulen der Nebelhörner an der Hafeneinfahrt lag, nicht abstreiten, als er Äppelgrens Rasen überquerte und zu Hause in die Küche schlüpfte. Dort bekam er heiße Schokolade.
Er hieß Simon Larsson, war elf Jahre alt, klein von Wuchs, mager und von etwas dunklerer Hautfarbe als andere. Seine Haare waren borstig, braun, fast schwarz, und die Augen so dunkel, daß es manchmal schwierig sein konnte, die Pupillen zu erkennen.
Das Andersartige an seinem Aussehen war ihm bisher nie aufgefallen, denn bis zu diesem Tag waren ihm Vergleiche kein Anliegen gewesen, und er war dadurch vielen Qualen entgangen. Er dachte an Edit Äppelgren und ihre Schwierigkeiten mit dem Nebel. Aber vor allem dachte er an Aron, ihren Mann. Simon hatte Aron immer gern gemocht.
Als Junge war Simon ein kleiner Ausreißer gewesen, eines von diesen Kindern, die wie übermütige junge Hunde den Lockungen der Landstraße erliegen. Es konnte mit einem grellbunten Bonbonpapier im Straßengraben vor dem Zaun beginnen, mit einer leeren Zigarettenpackung weitergehen, und dann lag irgendwo eine Flasche und dann noch eine, und dort blühte eine rote Blume und weiter weg lag ein weißer Stein und dann tauchte vielleicht schattenhaft irgendwo eine Katze auf.
So kam es, daß er sich weiter und weiter von daheim entfernte, und er erinnerte sich sehr deutlich daran, wie ihm bewußt wurde, daß er verloren war. Das war, als er die Straßenbahn erblickte, groß und blau auf rumpelnder Fahrt aus der Stadt heraus. Er war fast von Sinnen vor Schreck, aber genau in dem Augenblick wo er den Mund öffnete um zu schreien, stand Aron vor ihm.
Und Aron beugte sich mit seiner langen Gestalt über den Jungen und seine Stimme kam wie aus dem Himmel als er sagte: »Guter Gott, Junge, willst du schon wieder ausreißen.«
Dann hievte er Simon auf den Gepäckträger seines schwarzen Fahrrads und begann heimwärts zu gehen. Er sprach von den Vögeln, von dem dicken Buchfinken und den geschäftigen Kohlmeisen und von den Spatzen, die im Staub der Landstraße ganz in ihrer Nähe herumhüpften. Für sie hatte er nur Verachtung übrig, fliegende Ratten, sagte er.
Im Frühling gingen sie zusammen über die Weiden und der Junge lernte das Lied der Lerchen erkennen. Danach sang Aron mit dröhnender Stimme ein Lied, das die Hänge bergab rollte und als Echo von den Klippen zurückkam: »Wenn der Früüühling in den Bergen .«
Am schönsten war es, wenn Aron pfiff. Er konnte jeden Vogelruf nachmachen, und der Junge platzte fast vor Spannung, wenn Aron das Amselweibchen zum Antworten brachte, sehnsüchtig und willig. Dann grinste Aron sein breites, gütiges Grinsen.
Nun war es aber so, daß das Vogellied, das alle anderen zwischen den Felsen dort an der Flußmündung übertraf, das Schreien der Möwen war. Aron konnte auch sie nachmachen, und es kam vor, daß er sie bis zum Irrsinn reizte und sie sich wütend auf den Mann und den Jungen herabstürzten.
Da mußte Simon so sehr lachen, daß er fast in die Hose gemacht hätte. Auch die Nachbarn, die auf dem Weg geschäftig vorbei eilten, blieben stehen und verzogen den Mund über den großen Mann, der ebensoviel Spaß hatte wie der kleine Junge. »Aron wird nie erwachsen«, sagten sie.
Aber das hörte Simon nicht. Bis zu diesem Tag war Aron in seiner Welt König gewesen.
Jetzt saß der Junge am Küchentisch vor seinem mehr als süßen Kakao und sah Aron so, wie andere Leute ihn sahen. Begriff vor allem, daß die seltsame Fähigkeit des Mannes, ihn, Simon, zu retten, wenn er sich als kleiner Junge verlaufen hatte, mit Arons Arbeitszeiten zusammenhing. Simon war nach dem Frühstück ausgerissen, Aron hatte zumeist erst in den Morgenstunden Arbeitsschluß und war gerade aus der Straßenbahn gestiegen, als der Junge an der Haltestelle ankam und feststellen mußte, daß er sich verlaufen hatte. Aron hatte dort sein Fahrrad stehen und, wie es eben so war, stand manchmal auch dieses merkwürdige Kind dort, das sich so oft verirrte.
Plötzlich sah Simon die Verachtung, das schiefe Grinsen und die abgehackten Worte, die Aron seit jeher von sich gegeben hatte. Er war Rausschmeißer in einer schlecht beleumundeten Hafenkneipe und hatte einen Spitznamen, den Simon nicht verstand, der aber so gemein war, daß seine Mutter, wenn sie ihn hörte, vor Ärger rot anlief.
Simon mußte wiederum an Tante Äppelgren denken, die dauernd saubermachte und eine so feine Küche hatte, daß er dort nie hineingehen durfte. Er glaubte zu verstehen, daß man Küche und Gartenbeete so adrett halten mußte, wenn man einen Mann mit einem widerwärtigen Spitznamen hatte, der die Frauen erröten ließ.
Als Simon das letzte Stück Hefebrot gekaut und die Kakaotasse mit dem Löffel ausgekratzt hatte, dachte er, daß Aron den Schritt nie getan hatte, den er heute vollzog. Aron Äppelgren hatte nie auf einem Felsen gestanden und Abschied von seiner Kindheit genommen.
Die Küchenbank diente dem Jungen als Bett. Das ließ ihn zum Sozialisten werden.
Es war eine geräumige Küche, sonnig, mit großen Sprossenfenstern nach Westen und Süden, mit weißen Gardinen, Topfpflanzen drinnen und alten Apfelbäumen draußen. Unter dem Südfenster befand sich das eingelassene Zinkbecken mit dem Kaltwasserhahn, in der Ecke gegenüber stand der eiserne Herd und daneben die Holzkiste mit dem zweiflammigen Spirituskocher darauf. An der langen Wand unter dem anderen Fenster nahm die Küchenbank ihren Platz ein, blau gestrichen wie die Stühle, und davor stand der große Küchentisch mit dem Wachstuch am Werktag und einer bestickten Baumwolldecke an den Sonntagen.
Kochfleisch, häufig Suppe. Kaffee. Selbstgebackenes, gute Düfte am Mittwoch, wenn das weiße Hefebrot aus dem Ofen kam. Nachbarschaftsklatsch. Man konnte jedes Wort von der Holzkiste aus in sich aufsaugen, wenn man sich klein und unsichtbar machte, die endlosen Gespräche über all das, was um ein Haar hätte passieren können, oder wer ein Kind erwartete und wer einem leid tun mußte.
Es konnten einem viele leid tun, eigentlich sogar alle. Der Junge lernte Mitleid zu haben anstatt Abneigung zu empfinden. Dadurch kam ihm der Zorn so frühzeitig abhanden, daß er eigentlich nie damit umgehen lernte. Es gab ihn, manchmal versuchte er in seinem Leben einen Aufschrei, aber immer zu spät und immer an der falschen Stelle.
Er wurde ein lieber Junge.
Er selbst hatte es gut, das brachte man ihm früh und so gründlich bei, daß er im Verlauf der Jahre nie auf die Idee gekommen wäre, sich selbst leid zu tun.
Da gab es diesen Hansson, der arbeitslos war und aus diesem Grund seine Frau jeden Samstag schlug, wenn er seine Schnapsration zugeteilt bekommen hatte. Da war Hilma, die...
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