Schweitzer Fachinformationen
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Eine halbe Stunde nach dem überwältigenden Erlebnis der Kunstausstellung stand er in ihrer Diele. Er dachte, mein Gott, wie schön sie doch ist. Guter Gott! Habe ich sie denn noch nie richtig angesehen? Er starrte sie an, ihren großzügigen Mund in dem kleinen dreieckigen Gesicht mit den hohen Backenknochen. Das fast schwarze Haar, das so kurz geschnitten war, dass es die Kopfform betonte. Und dann die Augen, die so dunkelbraun waren, dass man die Pupillen nur ahnen konnte. Der in die Ferne schweifende Blick hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert.
Sie lächelte, als sie sagte:
»Du starrst mich an, als hättest du mich noch nie gesehen.«
Er konnte ihr doch nicht sagen, wie es sich tatsächlich verhielt. Er wurde rot, und zu ihrem Schrecken fing er an zu weinen. Sie sagte, sie wolle Kaffee kochen, er solle sich zu ihr in die Küche setzen und erzählen.
Der starke Kaffee beruhigte ihn.
Er erzählte ihr von seinem langen Tag, wie ihm bei der Arbeit alles schief gelaufen war, sodass er um drei Uhr Schluss gemacht hatte. Er berichtete ihr von dem dürftigen Imbiss in dem kleinen Lokal in der Stadt.
»Ich bin durch den Park gegangen und vor der Synagoge stehen geblieben. Und da brach das Unwetter los.«
»Ja, ich habe es in Danderyd vom Fenster aus gesehen«, sagte sie. »Es sah so aus, als ob der Himmel geplatzt wäre.«
»Genau.« Er schüttelte den Kopf.
»Erzähl weiter«, sagte sie.
»Ich bin vor dem Regen in die Bukowski-Ausstellung geflüchtet, bin einfach so herumgegangen und habe mir komische Bilder angesehen.«
Er fand nur schwer die richtigen Worte, wurde aber sicherer, als er zu der Begegnung mit dem gewissen Bild kam. Und entdeckt hatte, dass er sich, wie ein Dreijähriger, mit allen Sinnen erinnern konnte.
»Das ist wirklich wahr«, sagte er. »Es klingt verrückt, aber ich weiß, dass ich die Wirklichkeit wahrgenommen habe. Es war ein großes Meer mit steilen Klippen und einem weißen Haus. Ich wusste, dass dort freundliche Menschen wohnen.«
Sie versuchte, ihn auf die Erde zurückzuholen.
»Vielleicht war es eine Kindheitserinnerung.«
»Das habe ich zunächst auch gedacht. Aber es war mehr als das, es war noch etwas anderes dabei.«
Sie grübelte schweigend vor sich hin und sagte dann:
»Kinder erfahren die Welt nun mal mit allen Sinnen und dem ganzen Körper, solange sie neu und voller Wunder ist. Später wiederholen sich die Bilder einfach, sie werden zur Gewohnheit, zu etwas ganz Alltäglichem. Das ist traurig, und darum stimmt einen der Anblick von etwas Schönem vielleicht manchmal so wehmütig, weil man weiß, dass es schön ist, es einen aber nicht wirklich berührt. Etwas ist verloren gegangen.«
»Es war etwas anderes«, sagte er hartnäckig.
Sie sagte: »Jetzt machen wir uns was zu essen.«
Das hatten sie schon viele Male getan, die gemeinsame Arbeit in der Küche war von schlichter Selbstverständlichkeit, die Körper bewegten sich im sicheren Rhythmus, berührten sich bisweilen, sie tauschten ein Lächeln oder wechselten ein paar Worte, etwa wenn sie die Soße abschmeckten.
Gut.
Sie aßen ihre gebratenen Strömlinge mit Kartoffelbrei und beschlossen, zeitig schlafen zu gehen.
»Ich weiß so wenig von deiner Kindheit«, sagte sie. Es wurde eine lange Nacht.
Er begann mit dem Wal im Öresund.
Er war erst sechs Jahre alt, als er seinen Vater und dessen Kumpel auf dem jährlichen Segeltörn nach Kopenhagen begleiten durfte. Erinnerungen an die Großstadt hatte er nicht. Erinnerte sich nur an das Gefühl, dass sie ihm Angst gemacht hatte. Auf der Heimfahrt wurden sie auf der Höhe von Ven von einem Wal begleitet. Das riesige Tier tauchte plötzlich backbord auf und erschreckte ihn fast zu Tode. Dann sah er, dass sein Vater ganz gelb im Gesicht war und das Ruder so fest gepackt hatte, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Der macht uns mit einem einzigen Schlag der Schwanzflosse zu Kleinholz«, meinte er.
Der Wal begleitete das Boot bis zur Nordspitze von Jütland, wo der Riese dann auf westlichen Kurs Richtung Atlantik abtauchte. Jan lachte auf, bevor er weitersprach:
»Es war ein bemerkenswerter Wal, denn er wurde von Jahr zu Jahr größer. In Järnbott war er noch so groß wie ein vierstöckiges Haus gewesen, aber bald wuchs er mit den Wolkenkratzern von New York um die Wette. Die Begebenheit wurde Jahr für Jahr erzählt. Ich liebte sie, sie gehörte zur Tradition, wenn das Boot im Frühjahr seeklar gemacht wurde. Mutter verabscheute sie, genauso wie Vaters übrige Erzählungen.
Mein Vater stammte aus Värmland und aus einer Familie, in der jeder eine Geschichte auf Lager hat. Eine Sage, eine Geistergeschichte, ein Gedicht. Mutter verabscheute das. Lauter Angeber und Lügner, behauptete sie immer.
Sie stammte aus einem norrländischen Dorf, in dem man frühzeitig lernte, mit Worten sparsam umzugehen. Wer viele Worte machte, wollte sich hervortun. Und das war schäbig.«
Angelika musste laut lachen. Jan rollte sich auf den Rücken, musste mitlachen und sagte, es gibt in unserem Land noch ganz andere kulturelle Probleme als die, mit denen die Einwanderer sich herumschlagen.
Das übermütige Gelächter löste eine Lust in ihm aus, die seine Schläfen pochen und sein schamloses Glied sich unter der Decke wie ein Kanonenrohr aufrichten ließ.
»Ich verliere noch den Verstand!«, japste er.
»Gut«, sagte sie.
Danach überkam ihn die Angst. Vorsicht im Bett war sein eisernes Prinzip. Dieses Mal hatte er sich einfach treiben lassen. Er suchte ihren Blick. Und der erschien ihm erstaunlich zufrieden.
Jetzt bekamen sie Hunger und entschlossen sich für Käse, Brot und Obst. Auf dem Bettrand sitzend tranken sie Rotwein dazu. Aber trotz des Weines konnten sie nicht einschlafen.
»Erzähl weiter«, bat sie, und er kramte in seinen Erinnerungen und landete bei den Großeltern auf dem Bauernhof in Värmland. Den Eltern seines Vaters.
»In meinen ersten Sommerferien wurde ich nach Värmland geschickt. Großmutter und ich streiften durch den Wald. Wir nannten es Kühe hüten. Aber eigentlich kümmerten wir uns kaum um sie, wenn sie am Waldrand weideten.«
Angelika hatte das Gefühl, seine Stimme habe an Klang und Lebhaftigkeit gewonnen.
»Großmutter war besonders darauf aus, mir seltene Vögel und Blumen zu zeigen.«
Er verfiel in nachdenkliches Schweigen.
»Erzähl weiter«, forderte Angelika.
»So nach und nach zeigte Großmutter mir dann aber das kleine Volk, das unter den riesigen Bäumen der Wildmarken lebte. Sie schilderte, wie sie ihre Häuser unter der Erde bauten und die Wurzelfäden der Bäume zu kleinen Grotten flochten.«
Wieder lag er eine Weile schweigend da. Dann aber fand er doch Worte:
»Es dauerte nicht lange, und ich konnte sie auch sehen, ja, ich konnte sogar ihr Geschnatter hören. Schon damals wusste ich, dass ich meiner Mutter davon nie ein Wort erzählen würde. Und auch keinem anderen Menschen.
Mama lag im Krankenhaus. Es hieß, sie werde mir ein Brüderchen schenken. Aber irgendwann klingelte in aller Herrgottsfrühe das Telefon, und ich hörte Großmutter in den Hörer weinen. Als sie zu mir in die Kammer kam, sagte sie, aus dem Brüderchen sei nichts geworden.
Mehr habe ich nie erfahren.
Während meiner Studienjahre habe ich dann den Sommer in Värmland vergessen. Eines Abends aber ließ ich die Bücher Bücher sein und ging ins nächstbeste Kino. Es war reiner Zufall, dass dort >Ronja Räubertochter< gezeigt wurde. Und da waren sie dann, die kleinen Trolle. Sie sahen genauso aus, wie ich sie in den Wäldern von Värmland gesehen hatte.«
Wieder schwieg er, um nach einer Pause fortzufahren:
»Gib zu, es war doch merkwürdig, dass Astrid Lindgren und ihr Regisseur Tage Danielsson die gleichen Trolle gesehen hatten wie Großmutter und ich.«
»Ich glaube, dass kleine Kinder und große Dichter sich in andere Wirklichkeiten versetzen können«, sagte Angelika.
»Wie kannst du so etwas glauben?«, fragte Jan.
»Ich bin selbst einmal ein Kind in einer erfundenen Wirklichkeit gewesen«, meinte sie, und ihre Stimme wurde ganz tief vor Verwunderung.
»Jetzt musst du aber erzählen«, sagte Jan.
»Nicht jetzt«, sagte sie. »Dies ist deine Nacht.«
Jan seufzte, fuhr aber fort:
»Ich war in körperlicher Hinsicht ein erbärmlich kleiner Junge und wuchs nicht wie andere Kinder. Erst als ich ins Gymnasium kam, schoss ich in die Höhe. Zu dieser Zeit hörte ich auch mit dem Lügen auf. Ich, der ich doch immer gelogen, immer Geschichten erfunden hatte. Vielleicht war das ein Erbe von Vater und seiner Familie. Aber viel eher glaube ich, dass ich mich hervortun musste, weil ich ansonsten eine Niete war. Während meiner Schulzeit war ich immer der Kleinste in der Klasse, ich war so klein, dass ich beim Sport nirgends mitmachen durfte. Ich hatte feuerrote Haare und Sommersprossen. Kurz gesagt: Ich war hässlich und ein Außenseiter. Heute würde man sagen, ich wurde gemobbt. In diesem Punkt aber hat Mutter mir den Kopf zurechtgestutzt.
>Habe ich dir nicht beigebracht, dass die einzige Möglichkeit, sich in der Welt zu behaupten, die ist, festen Boden unter die Füße zu bekommen<, sagte sie. >Und diesen Boden baut man nicht mit Phantastereien auf.<
Sie hatte ein längeres Gespräch mit meiner Lehrerin geführt, die meinte, ich sei zwar begabt, aber faul. Aber Mama hatte ihr geantwortet, ich sei nicht faul, sondern ich langweilte mich.«
»Das hat deine Mutter gut gemacht«, sagte Angelika. »Aber ich finde, es hat ihr . ein bisschen...
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