Schweitzer Fachinformationen
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Ich bin stolz auf mein Treibhaus. Nicht weil es etwas Besonderes ist, es ist weder schön noch groß. Aber es besteht aus Panzerglas, hat Fußbodenheizung und Dachfenster, die sich selbsttätig öffnen, wenn es drinnen zu warm wird. Während der kalten Jahreszeit stehen meine Topfpflanzen dort und die Orangenbäumchen mit ihren gelben Früchten, die Zitronen, die richtige Dauerblüher sind. Und duften.
Jetzt, zu Beginn des Frühjahrs, dient das Glashaus dem Kultivieren der Aussaat. In den Torftöpfchen auf Bänken und Wandbrettern keimen die Samen der einjährigen Pflanzen, die irgendwann im Juni in den Garten gesetzt werden, wenn kein Nachtfrost mehr zu befürchten ist.
Kapuzinerkresse hängt über einen Topfrand und öffnet ihre feuerroten Blüten.
»Wie schön es hier ist!«, sagt Mira und es klingt glücklich.
Ich sage ihr, dass das für mich die einzige Möglichkeit ist, das lange Warten zu ertragen. Im langen, langsamen schwedischen Frühling.
Mira erzählt mir, dass sie eine Glasveranda in Südwestlage hat. Dort gibt es einen langen Tisch, und nun stellt sie sich vor, dass an jedem Ende dieses Tisches eine afrikanische Lilie stehen wird. Dazwischen sollen rosa Geranien blühen.
Mit der Zeit begreife ich, dass Mira Symmetrie liebt.
Wir sehen uns gemeinsam meine überwinterten Geranien an. Sie sehen abgestorben aus.
»Am Wochenende werde ich mich ihrer annehmen«, sage ich. »Sie zurückschneiden und in größere Töpfe umpflanzen.«
»Leben die denn noch?« Mira klingt verwundert.
»Verlass dich drauf«, sage ich und fange an zu erklären. Ich klinge wie eine Lehrerin und verabscheue diese Stimme.
Also halte ich den Mund und wende mich den Knollengewächsen aus Madeira zu. Wir sehen sofort, dass die Wurzeln kurz davor sind, die Torftöpfchen zu sprengen.
»Sie entwickeln sich wunderbar!«, jubelt Mira. Und ich sage, dass ich große Tontöpfe und neue Blumenerde kaufen muss.
Wir einigen uns, dass Mira in etwa einer Woche wieder herkommt, um zu sehen, wie die Pflänzchen das Umtopfen vertragen haben.
»Hättest du gern eine Tasse Kaffee?«
»Bitte.«
Wir gehen durch die Küchentür, ich stelle Wasser auf.
»Es gibt leider nur Pulverkaffee.«
»Haben Sie keinen Tee?«
Ich wühle im Vorratsschrank und finde tatsächlich eine ganze Tüte Tee. Und eine Packung amerikanische Kekse, zwar alt, aber immerhin .
»Wohnen Sie hier alleine?«
Wie, um Himmels willen, kann ich sie dazu bringen, du zu mir zu sagen, denke ich, wage aber keinen Versuch.
»Ja, ich bin geschieden.«
»Das bin ich auch.«
Unsere Blicke begegnen sich, und bald beginnen wir, wie alle Frauen es tun, von unseren Kindern zu erzählen.
»Ich habe zwei Töchter, schon erwachsen.«
»Ich habe zwei Söhne«, sagt sie, und ich höre ihrer Stimme an, dass sie stolz ist. Ihr Gesicht leuchtet auf, wird aber gleich wieder ernst.
»Sie sind schon richtige Schweden geworden.«
»Aber das ist doch gut?«
Ich höre selbst, wie es klingt.
»Doch«, sagt sie. »Mag sein. Aber manchmal beunruhigt mich das. Zum Beispiel wenn ihnen auf diese schwedische Art alles egal ist. Ein Chilene darf nicht naiv sein.«
»Meinst du, dass deine Söhne hier in Schweden benachteiligt
werden?«
Jetzt wird sie verlegen, gibt aber nicht klein bei.
»Das ist nie vorgekommen. Noch nie.«
Ich wage nicht zu lachen, aber sie tut es.
»Manchmal bin ich entsetzlich dumm.«
Ich schweige, denke aber, dass Mütter immer nach einer Begründung für ihre Sorgen suchen.
Ganz unvermittelt sagt sie: »Ich habe immer wieder das Gefühl, dass ich neu geboren wurde, als ich nach Schweden kam und meine Menschenwürde erhielt.«
Sie lächelt entschuldigend, als schämte sie sich der feierlichen Worte: »Sofern man noch geboren werden kann, wenn man schon Kinder hat und über dreißig ist.«
»Erzähl mir davon.«
»Wir kamen vom dänischen Flughafen Kastrup auf dem Bahnhof von Malmö an. Es war merkwürdig dunkel, obwohl es schon nach neun Uhr morgens war. Plötzlich hörten wir Musik und sahen eine Menschenmenge mit einer Heiligenfigur auf uns zukommen.
Ich dachte nur, sie jedenfalls sind Christen.
Als sie näher kamen, sah ich, dass die Heilige mit ihren eigenen Beinen lief und elektrische Kerzen im Haar hatte. Das Seltsame war, dass sie sang, laut und falsch, obwohl eine Musikkapelle ihr den Ton vorgab.
Außerdem war sie ziemlich dick.
Ich versuchte zu verstehen und kam zu dem Schluss, dass hier in diesem Land die Heiligen gewöhnliche Menschen sind. Ich fand das großartig.«
»Erzähl weiter«, sage ich, als wir uns ausgekichert haben.
»Nun, unser Zug setzte sich in Bewegung und wurde schneller, dum, dum, schneller, immer schneller. Aber die Dämmerung ließ lange auf sich warten. Sie schlich sich so vorsichtig an, dass ich dachte, irgendwann wird sie sich's noch anders überlegen.
Und das stimmte irgendwie auch.
Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Wald. Es hatte geschneit, und die Bäume waren schwer von diesem Weiß. Und wie weiß es war!«
Miras Gesicht drückt immer noch Erstaunen aus.
»Ich hatte zu Hause vom Fenster aus Schnee auf den Gipfeln der Anden gesehen. Als Kind reimte ich mir Geschichten über dieses Weiße zusammen, das in der Dämmerung blau wurde. In weiter Ferne, unmöglich zu erreichen.«
Miras Blick verliert sich.
»Mutter behauptete, dass alles nur gefrorener Regen sei. Und von Vater hörte ich, dass dort oben wilde Indianer lebten, Chiles berühmte Krieger, die sowohl die Inkas als auch die Spanier besiegt hatten.«
Ich schenke Tee nach und zünde auf dem Küchentisch Kerzen an. Gerade will ich sagen, dass ich mehr über die Indianer wissen möchte.
Aber Mira bleibt bei ihrem Thema. Und ich merke, dass ihre Erinnerung aus Bildern besteht, dass sie ein fotografisches Gedächtnis hat. Und einer Bilderflut, die keine Unterbrechung duldet.
»Wir blieben irgendwo auf einem Bahnhof stehen, und nichts konnte meine Söhne daran hindern, ins Freie zu stürmen. Sie waren wie von Sinnen, hüpften in dem Weiß herum, ballten es mit den Händen zusammen, leckten daran, riefen: >Wie Softeis, Nana.<
Dann kamen sie ins Abteil zurück, nass und durchgefroren.
Und der Zug rollte weiter durch die Wälder. Aber nach einigen Stunden öffnete sich die Landschaft, wir fuhren an schönen roten Häusern mit großen Stallungen vorbei, Herrensitze, dachten wir. Durch die Ortschaften fuhren wir langsamer. Dort gab es elegante Villen. Und höhere Wohnhäuser mit großen Fenstern und Balkons, auf denen Tannenbäume standen.
Ich erinnere mich, dass ich dachte, wo wohnen hier nur die gewöhnlichen Leute? Die Armen.«
Sie lacht. Und was vom Lachen übrig bleibt, reicht für ein Lächeln, als sie weiterspricht: »Dann geschah etwas Überraschendes. Der Schaffner kam in unseren Wagen und sagte, irgendwo sei ein Chilene zugestiegen. Der Schaffner versuchte es mit Zeichensprache, wir verstanden nicht richtig, was er meinte, aber es wirkte freundlich. Und dann kam ein Mann herein, der uns auf Spanisch begrüßte. Er heiße Luis, sagte er. Und sei in Valparaiso geboren.
Wir waren nicht allein gelassen in diesem fremden Land.
Er sagte uns, dass es in Schweden viele Chilenen gebe.
Er selbst lebte schon seit zehn Jahren hier und war schwedischer Staatsbürger.
Wir konnten hören, dass er stolz darauf war.
Wir waren zu achtzehnt unterwegs, und die Männer stellten viele Fragen. Luis schien auf alles eine Antwort zu wissen. Er sprach von Politik und Demokratie, von Einwanderungsbehörden und Aufenthaltsgenehmigungen. Das sagte mir nichts.
>Die Schweden wissen eine Menge über Chile, vom Militärputsch und den Folterungen und davon, dass viele Menschen spurlos verschwinden. Sie haben in ihren Zeitungen darüber gelesen und das ganze Inferno im Fernsehen verfolgen können<, erklärte Luis.
Ich schämte mich. Ich wusste nichts über Schweden. Hatte nie von diesem Land gehört. Aber Luis sprach weiter, sagte, Schweden sei ein gutes Land, und vieles, was Allende sich für Chile erträumt habe, sei hier schon Wirklichkeit.
Aber dann sagte er - und da merkte mein ganzes Ich auf -, dass in Schweden die Frauen dieselben Rechte hätten wie die Männer. Sie verdienten eigenes Geld und trafen ihre Entscheidungen selbst.
>Hier sitzen auch Frauen in der Regierung<, sagte er und lachte über unser Erstaunen, erzählte dann aber weiter, dass lateinamerikanische Männer nicht selten mit der schwedischen Polizei in Konflikt kämen. Hier sei es nämlich gesetzlich verboten, eine Frau zu schlagen.
>Und wenn sie ihm untreu ist?<
Es war ein jung verheirateter Mann, der das fragte.
>Dann hat sie ein Recht dazu. Sie entscheidet selbst über Leib und Leben<, antwortete Luis.
>Das ist ja absolut verrückt!<, schrie der junge Mann und ringsum stimmte man ihm aufgebracht zu.
>Aber denkt doch einmal nach<, wandte Luis ein. >In Chile werden Männer wegen Untreue nicht bestraft. Und ich habe schon gesagt, dass hier in diesem Land Frauen dieselben Rechte haben wie Männer.<
Ab und zu übertönte das Lachen einer Frau die aufgeregten Männerstimmen. Ich selbst war so erstaunt, dass mir der Mund offen stand und ich nicht sprechen konnte. Ich schielte zu meinem Mann hinüber, doch der war ganz in sich versunken. Also konnte ich in das Lachen der Frauen einstimmen.
Ich hätte gerne Fragen gestellt, traute mich aber nicht. Alle Frauen hielten ihre Worte zurück, aber ihr Lachen klang immer hysterischer.
Nach...
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