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Als ich zehn war, machte mein Dad, Pat Wilson, den Witz, dass ich mir mit den Mandeln auch gleich die Tränenkanäle hätte herausoperieren lassen sollen.
Mir war klar, warum er das sagte. Ich habe früher ständig geweint. Ich habe geweint, wenn einer meiner Buntstifte zerbrochen ist. Ich habe geweint, nachdem die rote Schleife, die mein Lieblingsteddy um den Hals getragen hatte, verloren gegangen war. Ich habe geweint, als ich die Hintertür zur Garage kaputt gemacht habe. Wegen Letzterem vergoss mein Dad allerdings auch beinahe eine Träne. Hara, du bist acht Jahre alt. Wie in Gottes Namen hast du es geschafft, die Tür aus den Angeln zu reißen?
Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe, die Tür kaputt zu machen, aber der Grund, warum ich mit zehn in Tränen ausgebrochen bin, ist mir noch lebhaft in Erinnerung. Warum mich ausgerechnet dieses Ereignis aus meiner Kindheit verfolgt, kann ich nicht sagen, aber Beschämung haftet an einem wie Alleskleber. Meine Grundschultage bilden ein Mosaik aus verlorenen Buchstabierwettbewerben, Röcken, deren Saum hinten in meiner Strumpfhose steckt, Pullis mit Erdnussbutterflecken, die ich den ganzen Tag nicht bemerke, der Tatsache, dass mein Schwarm am selben Tag, an dem ich ihm mein Viertklässlerinnenherz schenken wollte, einem anderen Mädchen seine Liebe erklärte, und dann noch das. Ich würde gerne sagen, dass all diese Dinge in der Vergangenheit wehgetan haben und ich inzwischen drüber hinweg bin, aber ich erinnere mich an jedes einzelne Ereignis, als hätte es gestern stattgefunden.
Es war sonnig, und das Schuljahr neigte sich dem Ende zu. Wir konnten es nicht abwarten, dass die Sommerferien begannen, und vielleicht war das der Grund, warum wir alle leicht reizbar waren. In der Pause fragten mich ein paar dämliche Kinder, ob mein Gesicht so flach sei, weil ich mit dem Gesicht nach vorn vom Hangelgerüst gefallen war. Erstens, ich war nie vom Hangelgerüst gefallen. Ich war schon damals, mit zehn, unglaublich stark und hangelte mich im Spurt die verdammten Streben entlang. Zweitens, mein Gesicht ist nicht flach. Wenn überhaupt, ist es zu rund. Mein Kinn ist geschwungen, und meine Wangen sind voll. Ich habe keine prominente Stirn oder tief liegende Augen, aber das ist nichts Schlimmes. Es ist etwas Asiatisches. Obwohl ich all das wusste, schämte ich mich für mein Gesicht, also weinte ich, weil das Zehnjährige nun mal tun, wenn ihre Gefühle verletzt werden.
Die Tränen störten meinen Dad.
Hara, weinst du wirklich, weil irgendein Kind gesagt hat, dass du ein flaches Gesicht hast? Das ist doch keine große Sache. Tränen werden kein anderes Kind davon abhalten, sich über dich lustig zu machen. Ellen, sag ihr, dass sie aufhören soll zu weinen.
Er hatte recht. Das Weinen änderte absolut nichts, und ein Jahr später schlossen sich meine Tränenkanäle und haben seitdem nie wieder funktioniert. Nicht mal dann, wenn sie es tun sollten. Wenn der Held oder die Heldin in einem Buch stirbt, obwohl alles nach einem Happy End aussah. Oder wenn Allie in Wie ein einziger Tag sich erinnert, dass es Noah war, der ihr die Geschichten vorgelesen hat. Oder wenn ich im Bestattungsunternehmen sitze, in dem Dads Körper in einem Sarg im Raum nebenan liegt.
Selbst wenn ich auf Kommando Tränen produzieren könnte, hätte ich heute kaum Grund zu weinen. Seit meinem elften Lebensjahr hatten Dad und ich keine besonders innige Beziehung. Das war, nachdem er beschlossen hatte, dass das ganze Vaterexperiment für ihn nicht wirklich funktioniert. Er war damit beschäftigt gewesen, sich selbst zu finden, was dazu führte, dass er Männerurlaube unternahm, die er sich eigentlich gar nicht leisten konnte, mit Frauen flirtete, die halb so alt waren wie er, und ganz generell dafür sorgte, dass es Mom nicht gut ging. Ich war froh, dass er auf Distanz ging; jegliche Interaktion zwischen meinen Eltern führte nämlich dazu, dass meine Mutter in eine Negativspirale geriet. Einmal machten wir einen Witz, dass sie genug für zwei Leute weinte, aber es war nicht nur ein Scherz. Sie wünschte sich, dass ich mehr weinte, und ich wünschte mir, dass sie es seltener tat. Ab einem gewissen Zeitpunkt habe ich mich offensichtlich in meinen Dad verwandelt. Wie deprimierend.
»Trink das, du siehst aus, als hättest du Durst.« Mom drückt mir einen Becher in die Hand.
»Nein danke.« Allein beim Gedanken, irgendetwas hinunterschlucken zu müssen, fängt mein Magen an zu rebellieren. Nicht nur, dass die Leiche meines Vaters in einer Holzkiste nebenan liegt, in diesem Gebäude werden Tote hergerichtet. Ich würde eher meine eigenen Zehen essen, als etwas von diesem Beerdigungsfraß zu mir zu nehmen.
»Du hast den ganzen Tag noch nichts getrunken oder gegessen. Ich verstehe ja, dass dir übel ist, aber nimm wenigstens Flüssigkeit zu dir.«
Ich tue so, als würde ich an dem Becher nippen. Auf einer Beerdigung über eine Tasse heißes Wasser zu streiten, scheint mir nicht die beste Vorgehensweise. Es ist einfacher nachzugeben.
»Dein Eyeliner ist verschmiert.«
Das kommt davon, dass ich zu Beginn dieser Veranstaltung versucht habe, Tränen zu produzieren, indem ich mir einen Finger in die Augen gebohrt habe. Es hat nicht funktioniert, nur wehgetan.
Mom befeuchtet einen Finger und fährt mir damit unter dem Auge entlang, als wäre ich wieder ein kleines Mädchen, das Dreck im Gesicht hat.
Die feuchte Stelle oberhalb meiner Wange stört mich, aber ich widerstehe dem Drang, sie abzuwischen, weil ich nicht möchte, dass Mom sich zurückgewiesen fühlt. Sie steht ohnehin schon am Rande eines Zusammenbruchs. Also lasse ich mein Gesicht an der Luft trocknen.
»Dein Dad ist wahrscheinlich wütend wegen dem hier.« Sie deutet auf den Tisch, den irgendjemand aufgebaut hat und auf dem ein großer Rahmen mit Fotos steht. »Es ist so billig. Und dann die wenigen Leute .« Sie schnalzt mit der Zunge. »Er wäre am Boden zerstört. Ich kann nicht glauben, dass Geoff Kaplan nicht gekommen ist. Die beiden waren Geschäftspartner, verdammt noch mal.«
Gescheiterte Geschäftspartner, wenn ich mich richtig erinnere, aber Mom hat absolut recht. Dad wäre mit der Veranstaltung unzufrieden. Wenn das hier Geoffs Beerdigung wäre, stünde Dad jetzt mit einem Golfkumpel da drüben in der Ecke und würde verkünden, dass dieses Event hier sowohl stinklangweilig als auch geschmacklos sei. Auf dem Büfetttisch steht ein Kuchen aus dem Supermarkt, daneben vegetieren Käsehäppchen auf einem Plastiktablett vor sich hin, auf dem ein Aufkleber mit Barcode prangt. Dazu weiße Wegwerfbecher, literweise Softdrinks und zwei Edelstahlkannen mit Kaffee und Tee.
Dad würde das alles hier mit seinem Gesellschaftslächeln aufnehmen - dem Verkäufergrinsen, das sich so dauerhaft in sein Gesicht gegraben zu haben schien wie die Narben beim Joker -, aber innerlich würde er vor Wut kochen. Die Teilnehmerzahl an der Totenwache ist spärlich, und niemand klingt, als würde er ihn vermissen. Selbst die zweite Mrs. Wilson ist damit beschäftigt, ihr Kleinkind davon abzuhalten, das Getränkebüfett vollzusabbern, anstatt still in ihrem schwarzen Kleid dazusitzen und dezent in ein Taschentuch zu schluchzen. Die letzten Strohhalme sind der Sonnenschein und die gelb-rosa Tulpen, die in den Blumenbeeten entlang des Gehwegs zur Trauerhalle hinauf blühen. Pat hätte sich Klagelaute und Regen und eine Szenerie gespickt mit schwarzen Regenschirmen gewünscht. Er war ein Fan von dramatischen Auftritten und liebte Aufmerksamkeit, was der Grund dafür war, dass er bei Nina Mathews landete. Meine Mutter besitzt Handtaschen, die älter sind als Nina.
Die zweite Mrs. Wilson war Kellnerin in einer Bar, in die Dad regelmäßig ging. Eins führte zum anderen, und sie war schwanger. Ich wurde per SMS informiert: Hey, Sportsfreundin. Frisch deine Babykenntnisse auf. Du bist bald eine große Schwester.
Dass er zum zweiten Mal Vater wurde, musste ihn so in Panik versetzt haben, dass sein Herz aussetzte. Das und die Tatsache, dass seine Arterien so hart wie Beton gewesen waren.
»Alles wirkt so unglaublich . geschmacklos«, erklärt Mom mit gerümpfter Nase. »Aber was soll man von einer wie der auch erwarten. Billig kennt eben nur billig.«
Ich zucke zusammen. Mom war Dads neuer Frau gegenüber nicht immer so feindselig eingestellt. Bis zum gestrigen Tag hat sie für die aktuelle Mrs. Wilson vor allem eins empfunden: Mitleid. Das arme Mädchen sollte besser anfangen, das Haushaltsgeld zu verstecken oder Sie verschwendet ihre Jugend an den Mann. Aber am vergangenen Abend hat die neue Mrs. Wilson verkündet, dass Dad eine Hypothek hinterlassen hat, die deutlich höher ausfällt, als das, was ihr kleines Zweizimmerapartment, in dem sie zusammen gewohnt haben, wert ist, und außerdem Leasingraten für ein Auto, mit denen er drei Monate im Rückstand war. Ach ja, und eine Lebensversicherung in Höhe von zwanzigtausend Dollar. Mom hat darauf bestanden, dass ich die Hälfte davon erhalte. Dad hat keinen Letzten Willen hinterlassen, und per Gesetz steht mir anscheinend ein gewisser Anteil zu. Mrs. Wilson hielt dagegen, dass dies alles sei, was für den Collegefonds von Klein-Ryder zurückgelegt werden könne. Du warst schon auf dem College und hast einen Abschluss, hat Nina gesagt, wobei ihr schmales Gesicht noch verkniffener als sonst ausgesehen hat. Sei nicht egoistisch. Mom hat lautstark protestiert und darauf bestanden, dass Patrick Wilsons Tochter ihr gerechter Anteil zusteht. Darauf machte Nina den Fehler zu verkünden, dass Ryder das Erbe mehr verdient habe, weil er Pats richtiges...
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