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Freudenstadt - seltsamer Name, seltsame Stadt:
mit einem ausgedehnten Nichts von zweihundertzwanzig mal zweihundertzwanzig Metern in der Mitte anstelle eines ordentlichen mittelalterlichen Stadtkerns, mit sich verdichtenden Häuserreihen, geschart um eine Kirche. Freudenstadt ist anders. Es besitzt eine grosse, unbebaute, fast leere Fläche inmitten des innersten Häusergevierts, in welches über Eck die Kirche integriert ist. Das lichte Quadrat ist leicht abschüssig, der grösste Marktplatz einer deutschen Stadt. Vor einigen Jahren noch von Autos umquirlt, hat man jetzt auf der unteren Hälfte einen Park mit einem Wasserspiel angelegt, sehr schön, sehr à la mode, an Sommerabenden mit Musik und einer darauf abgestimmten Choreographie für die Fontänen, auf und ab, hoch und tief, gestaffelt und alle vereint, im Takte der Musik, sehr poetisch.
Tagsüber, zur heissen Jahreszeit, springen Kinder und Hunde zwischen den aufschiessenden Brunnen, lassen sich von der herabwallenden Gischt berieseln, und die Knirpse versuchen jauchzend und lärmend, mit den blossen Füssen die Düsen zu verstopfen. Nach Schulschluss ergötzen sich Jugendliche am erfrischenden Nass und junge Burschen inszenieren Balzspiele, indem sie versuchen, durch nicht ganz vollständiges Zuhalten der Fontänen-Basis mit ihren Händen oder den Nike-Turnschuhen die am Rande stehenden und schon im Voraus kreischenden jungen Mädchen zu duschen. Dies gelingt oft nicht, da die Düsen schlauer sind und den Druck auf die andern verteilen. Dann stehen sie da wie begossene Pudel, dem allgemeinen Gelächter preisgegeben, weil sich auch ihre in allen Farben gegelten Haare in Form von Hahnenkämmen oder fantasievollen Kegeln in eine schlampige, pampige Masse verwandelt haben. Wie Turnierverlierer schleichen sie vom Platz, denn in ein paar Stunden muss ihr Ego für die Disco, vielleicht mit ein paar Federn im Kamm, wieder aufgerichtet sein. Andere sausen mit Rollerschuhen oder Rollbrettern übers glitschige Terrain, denn der untere Teil ist recht steil in seiner Abschüssigkeit, ideal für eine rasante Fahrt im Nass, um die Leute auf den Bänken am Rande nasszuspritzen. Allerdings empfiehlt sich hier eine ausgefeilte Bremstechnik, denn am unteren Ende kommt es sonst zu Kollisionen mit Fussgängern oder sogar Autos.
Etwas entfernt von der Gaudi geht es gesitteter zu. Im Park mit den schönen, alten Bäumen links und rechts des Wasserspiels spaziert man gemächlich und Mütter schieben ihre Kinderwagen und bändigen ihre übrige Nachkommenschaft, die natürlich das nahe Café mit seinen Eisspezialitäten an der Ecke kennt und entsprechend quengelt. Die Touristen und Kurgäste ihrerseits diskutieren die ungewohnte Form der Winkelhaken-Kirche und beraten, wo sie ihren Nachmittagskaffee trinken wollen.
Da stehen denn auch die Busse, denn Freudenstadt ist berühmt und bekannt, vor allem als Höhen- und Luftkurort, aber auch für seine Architektur, für seine die grosse Leere umlaufenden Arkaden mit den unzähligen Geschäften. Diese locken mit schönen Angeboten, vom Lodenjanker über gestickte Jacken zu Schwarzwälder Schinken und fetter Wurst, vom Anhänger in feinem Silberfiligran zum Trachtenschmuck mit Schnallenschuhen, vom Haus mit moderner Mode zur Bäckerei mit den berühmten schwäbischen Kuchen. Dabei sind natürlich nicht zu vergessen die Kuckucksuhren, in China und nur noch selten im Schwarzwald hergestellt, und all die andern Andenken aus heimischem oder anderem Handwerk, die man als Erinnerung so gern mitschleppt. Dazwischen liegen Banken, Gaststuben mit regionalen Spezialitäten auf der ausgehängten Karte, aber auch Apotheken, Fotoateliers und Schuhläden.
Einiges scheint eher modern, anderes spätmittelalterlich zu sein. Den oberen Teil der grossen Fläche hat man auch umgestaltet, die Blechlawine des Parkplatzes in den Untergrund verbannt, rings ums Stadthaus und die alte Post Plätze angelegt, Tische und Stühle herausgeräumt, im Übrigen aber Raum gelassen für den Markt. In einer Ecke des oberen Teils, dort, wo einige findige Gastwirte mit dem Charme französischer Cafés mitzuhalten versuchen und zierliche Stühlchen und Tischchen mit allerlei Sonnenschirmchen auf das schöne neue Pflaster gestellt haben, hat man mit kleinen Gräben auch eine Art von Wasserspiel angelegt. Dieses endet im Brunnen an der Ecke, einem modernen Brunnen mit vielen farbigen blechernen Tieren, lustig anzusehen und mit seiner Mechanik eine Attraktion. Die kleinen Gräben aber, in denen ein Rinnsal fliesst, sind anziehendes Spielzeug für die Kleinsten, die mit Patschhändchen das Wasser aufzuhalten suchen oder sich die Höschen und Jäckchen nass spritzen, während ihre Mütter nebenan im Café die neusten Modejournale, den Klatsch über magersüchtige Models und die angesagtesten Schminkvarianten austauschen.
Die Leere ist also, wie so oft, eine grosse Chance. Denn was steckt in einem leeren Blatt? Nur wer Stift, Pinsel und Farbe holt, wird es wissen.
Der Platz ist aber auch bei Regen sehr schön. Kinder hüpfen, in farbige Pelerinen gehüllt, von Pfütze zu Pfütze, die Spazier- und Müssiggänger und die eiligen Hausfrauen bleiben lieber unter den Arkaden im Trockenen. Der Platz gehört ausser den Kindern den Philosophen und Künstlern, die auch Nuancen von Grau zu schätzen wissen, einem vom Schirmrand gefallenen Tropfen nachzutrauern vermögen und im unteren, älteren Teil den Nebelschleiern in den verwitterten, knorrigen Bäumen ihre Gedanken zuwenden. Das lispelnde Flutschen der Schuhe auf den Platten erinnert an eine Schneckenpiste, und die schmaleren und breiteren Häuser nicken einander verhangen über die grosse Fläche hin zu.
Still ist es nicht, denn noch führt die grosse Ader der Bundesstrasse von Stuttgart zur Schwarzwald-Hochstrasse im Bogen über den Platz. Unvermutet ist eine Lücke zwischen den Häusern, aus der je nach Tageszeit die Autos auf den Platz drängeln, wenige geradeaus, die meisten im Bogen schwenkend, um in der Häuserlücke schräg vis-à-vis zu verschwinden, entweder Richtung Kniebis-Rheintal oder aber Tübingen-Stuttgart. War nicht die Rede von einem Tunnel? Die Freudenstädter könnten sich im Jura die grosse Fräse ausleihen, mit einem Bohrrad, so gross wie das Tunnelloch, das es für eine zweispurige Strasse braucht. Eine solche Maschine erstellt die Transjurane, das heisst, sie durchlöchert die Jurawellen querwärts wie den berühmten Emmentalerkäse, um die Schweiz im Nord-Nordwesten durch eine Autobahn Richtung Paris an Frankreich anzuschliessen. Diese Fräse würde unter der Stadt, tief in ihrem Gedärme, in null Komma nichts einen Tunnel bohren, von der Sparkasse Richtung Langenwaldsee, beziehungsweise bis zum Boschenloch, und der Marktplatz wäre frei von Autos! Wie wäre es dann mit einem langen, sehr langen botanischen Garten an Stelle der Strasse?
»Ich habe einen Vorschlag: fahr doch mal nach Freudenstadt im Schwarzwald, und frag nach, ob sie immer noch nicht herausgefunden haben, wer ihnen am Ende des Zweiten Weltkrieges die Stadt angesteckt hat.« Der Mann einer Freundin, Historiker und Spezialist für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, hatte das zu mir gesagt. Er wusste, dass ich auf der Suche war für ein Thema, das Geschichte und Deutsch verbinden würde, denn ich wollte mit einer Maturklasse, die ich in beiden Fächern unterrichtete, im Laufe ihres letzten Jahres am Gymnasium ein paar Tage in Deutschland verbringen. Die Schülerinnen und Schüler sollten das Nachbarland etwas näher kennenlernen, und ich hoffte, Mittel und Wege zu finden, um ihnen Begegnungen mit gleichaltrigen Deutschen zu ermöglichen.
Der Historiker fuhr fort: »Es sind ja noch sehr viele Fragen ungeklärt, was den Zweiten Weltkrieg betrifft. Doch jetzt, nach fünfzig Jahren, da die Archive aufgehen, wird man wohl viele offene Fragen beantworten können. Eine davon betrifft Freudenstadt, das im April 1945 plötzlich brannte. Es fielen längst keine Bomben mehr, die Alliierten gingen daran, das Land zu übernehmen. Für den äussersten Süden waren die Franzosen verantwortlich, unter dem Kommando des Generals de Lattre de Tassigny. Rasch kam das Gerücht auf, dass die marokkanischen Kolonialtruppen, die von den Franzosen dort eingesetzt worden waren, die Stadt angezündet hätten. Aber ich glaube das nicht«, fuhr er weiter fort, »höchstens aus Unachtsamkeit, und dann war es ein Unglück und nicht Absicht. Denn sonst ergibt es einfach keinen Sinn. Die grossen Städte waren zerbombt, die Deutschen hatten kapituliert, Rache durch die alliierten Truppen war verboten. Warum also sollte ein Befehl zur Zerstörung der Stadt herausgegeben worden sein? Und warum Freudenstadt, ein Höhenkurort ohne grosse, bedeutende Industrie? Denn für diese spätmittelalterliche Stadt mit ihren zusammengebauten Häusern bedeutete der Brand eine Katastrophe.« Ich empfand dies als eine interessante, weil auch sehr konkrete Frage, die das Ende des Zweiten Weltkriegs betraf und damit in mein Programm passte. Ich setzte mich in mein Auto und fuhr nach Freudenstadt - und war erst einmal überrascht über dieses grosse Viereck in der Stadtmitte, mit blauem Himmel anstelle des üblichen Gässchengewirrs. Ich liebe leere weisse Blätter, leere Leinwände und andere grosse leere Flächen. Darin stecken Geheimnisse. Aber wo anfangen mit dem Ausgraben? Wo fand ich einen roten Faden?
Ich ging auf die grösste Buchhandlung zu, die ich fand, und sagte der freundlichen Dame, dass ich alle Bücher über Freudenstadt und Umgebung kaufen wolle. Die Dame öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse, behielt aber Fassung. Doch plötzlich war der stille Laden ein einziger Ameisenhaufen. Am Schluss stand vor mir auf dem Ladentisch ein...
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