Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Meine Freundin V und ich hatten nach unserem Collegeabschluss einen Sommer frei, bevor es mit etwas anderem weiterging, und New York lockte uns beide. V fuhr hin und unterschrieb einen Dreimonatsmietvertrag für die Wohnung eines Columbia-Studenten, Bobby Atkins, der vielleicht der Sohn des Erfinders der Atkins-Diät war, aber es kann auch sein, dass es uns nur Spaß machte, uns das vorzustellen. Die Wohnung, an der Südwestecke der Kreuzung 110th Street und Amsterdam Avenue gelegen, hatte zwei kleine Zimmer und war heillos verdreckt. Wir kamen im Juni mit einem Dreiviertelliter Tanqueray, einer Stange Marlboro Lights und dem italienischen Kochbuch von Marcella Hazan dort an. Irgendwer hatte einen rückgratlosen schwarzen Plüschpanther, made in Korea, dagelassen, den wir befreiten und zu unserem machten.
Wir lebten auf einer Grenze. Vor der Gentrifizierung in großem Stil, vor den um sich greifenden Verhaftungen, schien die Stadt gänzlich in Schwarz und Weiß gezeichnet zu sein. Als ein junger Harlemer Komiker in der Subway-Linie 3, Richtung Norden, das «Zauberkunststück» vollführte, an der 96th Street alle weißen Passagiere verschwinden zu lassen, fühlte ich mich des Weißseins angeklagt und für schuldig befunden. Unser Freund Jon Justice, der in jenem Sommer mit Thomas Pynchons V in der Gesäßtasche seiner Cordhose herumlief, wurde an Grants Grabmal überfallen, wo er eigentlich nichts zu suchen hatte. Ich fand Städte ästhetisch reizvoll, hatte aber panische Angst, erschossen zu werden. Die Amsterdam Avenue bildete in New York eine scharfe Trennlinie, und ich stand nur ein einziges Mal östlich davon, als ich nämlich den Fehler begangen hatte, mit der C bis 110th Street zu fahren und von dort zu Fuß nach Hause zu gehen. Es war später Nachmittag, und niemand achtete auf mich, aber mir war schwindelig vor Angst. Die schweren, das Licht schluckenden Sicherheitsgitter vor unseren Fenstern und das Schloss in der Eingangshalle, dessen im Boden verankerte Stahlstange diagonal bis zu einem Schlitz in der Haustür führte, verstärkten meinen Eindruck, in Gefahr zu sein. Ich brachte das Schloss mit unserem direkten Nachbarn in Verbindung, einem älteren Weißen mit demenzbedingten Tobsuchtsanfällen. Er hämmerte oft an unsere Tür oder stand in Schlafanzughose auf dem Treppenabsatz und versicherte uns ein ums andere Mal, unter Verwendung eines üblen Schimpfworts, dass seine Frau mit schwarzen Männern verkehre. Auch vor ihm hatte ich Angst, und ich hasste ihn dafür, dass er eine Trennung der Rassen benannte, die wir liberalen jungen Leute stillschweigend hinnahmen.
Theoretisch versuchten V und ich zu schreiben, aber mich bedrückten die Sommerhitze und die zuchthausähnliche Düsternis der Atkin'schen Wohnung, die Kakerlaken, der umherirrende Nachbar. V und ich stritten, weinten, versöhnten uns wieder und spielten mit unserem schwarzen Panther. Wir übten uns im Kochen und in semiotischer Kritik, und wenn wir uns hinauswagten - immer gen Westen -, dann zum Thalia-Kino, zum Chinarestaurant Hunan Balcony oder zu Papyrus Books, wo ich mir die neueste Ausgabe von Semiotext(e) und dicke Theorieschinken von Derrida und Kenneth Burke kaufte. Ich weiß nicht mehr, woher ich überhaupt Geld hatte. Wahrscheinlich hatten meine Eltern mir ein paar hundert Dollar gegeben, obwohl sie New York und mein eheähnliches Zusammenleben mit V missbilligten. Dagegen weiß ich noch, dass ich Briefe an verschiedene Zeitschriften schickte, in denen ich nach bezahlten Praktika fragte, und zur Antwort bekam, dafür hätte ich mich sechs Monate früher bewerben müssen.
Glücklicherweise war mein Bruder Tom in jenem Sommer in New York, wo er für den jungen Starfotografen Gregory Heisler ein Loft umbaute. Tom, damals in Chicago ansässig, war mit einem Chicagoer Freund von Heisler in die Stadt gekommen, der ein Bau- und Sanierungsunternehmen gründen wollte und darauf hoffte, von meinem Bruder ein paar Handgriffe zu lernen und den Gewinn mit ihm zu teilen. Heisler konnte jedoch sehen, dass das ganze Know-how bei Tom lag. Der Freund wurde ziemlich bald nach Chicago zurückgeschickt, und Tom stand ohne Hilfsarbeiter da. Das wurde mein Job.
Heisler war Porträtfotograf und sollte einmal besonders für seine doppelt belichtete Aufnahme von George H.W. Bush auf dem Cover der Time bekannt werden. Das Loft befand sich am Broadway Ecke Houston Street, in der obersten Etage des Cable Building, damals eine Sweatshop-Höhle, später der Sitz des Angelika-Kinos. Das Gebäude sollte an sich rein gewerblich genutzt werden, und Tom und Heisler hatten sich um städtische Genehmigungen nicht weiter geschert, weshalb das versteckte Apartment, das Tom hinter der Südwand des Fotostudios baute, den Reiz des Verbotenen hatte, zumindest für mich. Heisler wollte jede Fläche in der Wohnung mit einem trendigen grauen Plastiklaminat auskleiden, dessen kleine erhabene Punkte das Abschleifen mit der Oberfräse zu einem Albtraum machten. Ich verbrachte lange Nachmittage in einer Wolke aus Acetondämpfen, weil ich das Laminat von Gummikitt reinigen musste, während Tom, in einem anderen Raum, die erhabenen Punkte verfluchte.
Meine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, Sachen zu besorgen. Tom gab mir jeden Morgen eine Einkaufsliste mit gängigen und weniger gängigen Baumaterialien, und ich klapperte die Läden an der Bowery und Canal Street ab. Östlich der Bowery waren die gefährlichen Alphabet-Straßen und Sozialwohnungssiedlungen - auf meiner geistigen Karte der Insel ein No-go-Gebiet. Aber woanders im südlichen Manhattan fand ich das ästhetische Erlebnis, nach dem ich gesucht hatte. SoHos Verwandlung war noch im Larvenstadium, auf den Straßen des Viertels herrschte Ruhe, die Eisenpfeiler schälten sich. Am südlichen Broadway wimmelte es von Leuten, die im Textilgewerbe arbeiteten, und unterhalb der Canal Street schien die Stadt einen Kater von den Siebzigern zu haben, als wären die Gebäude erstaunt, dass sie noch standen. Am Wochenende des 4. Juli gingen V, Jon Justice und ich auf den alten West Side Elevated Highway (gesperrt, aber noch nicht abgerissen), liefen am Fuß der neu gebauten Türme des World Trade Center entlang (brutalistisch, aber noch nicht tragisch) und begegneten keinem Menschen, weder weiß noch schwarz. Szenen romantischer Verlassenheit - das war es, was ich als Einundzwanzigjähriger in einer Stadt sehen wollte.
Am Abend des 4. Juli, als die Geräuschkulisse in Morningside Heights mehr und mehr an Beirut zu Kriegszeiten erinnerte, gingen V und ich zur East End Avenue, um uns das offizielle Feuerwerk aus der elterlichen Wohnung unserer Freundin Lisa Albert anzuschauen. Ich war überrascht, als wir vom Fahrstuhl des Gebäudes direkt in die Diele der Wohnung traten. Der Koch der Familie fragte mich, ob ich ein Sandwich haben wolle, und ich sagte, ja, bitte. Mir war nie in den Sinn gekommen, dass meine und Lisas Herkunft nicht mehr oder weniger gleich waren. Ich hatte nicht geahnt, dass eine Wohnung wie die ihrer Eltern existierte oder dass jemand, der nur fünf Jahre älter war als ich, Greg Heisler, ein Team von Assistenten zur Verfügung haben könnte. Noch dazu hatte er eine gertenschlanke, überwältigend schöne Frau, Pru, die aus Australien kam und luftige weiße Sommerkleider trug, die mich an Daisy Buchanan denken ließen.
Die Scheidegrenze des Reichtums in dieser Stadt hing zwar mit jener anderen Scheidegrenze zusammen, war aber nicht so eindeutig geographisch und leichter für mich zu überwinden. Unter dem Bann meines Elite-Hochschulstudiums malte ich mir aus, in naher Zukunft die kapitalistische Volkswirtschaft zu stürzen, indem ich Literaturtheorie zur Anwendung brächte, doch vorerst befähigte meine Hochschulbildung mich dazu, auf der Seite des Reichtums zu bestehen. In dem feinen Midtown-Restaurant, in das Vs Großmutter uns während ihres Besuchs in New York zum Mittagessen einlud, gab man mir zu meinen Jeans einen blauen Blazer, und das genügte.
Ich war zu idealistisch, um mehr Geld haben zu wollen, als ich zum Leben brauchte, und zu arrogant, um Heisler zu beneiden, und so waren die Reichen für mich lediglich eine Kuriosität, interessant, weil ihre Sparsamkeit genauso ins Auge stach wie ihr Konsum. Als wir Vs andere Großeltern auf ihrem ländlichen Anwesen außerhalb der Stadt besuchten, zeigten sie mir die kleinen Gemälde von Renoir und Cézanne in ihrem Wohnzimmer und servierten uns muffige, im Laden gekaufte Kekse. Im Tavern on the Green, einem Lokal, in das uns die Schwiegereltern meines Bruders Bob einluden, beide Psychoanalytiker mit einer Wohnung, die kaum kleiner war als die der Alberts, stellte ich empört fest, dass man extra bezahlen musste, wenn man zu seinem Steak Gemüse haben wollte. Das Geld schien für Bobs Schwiegervater keine Rolle zu spielen, doch andererseits war einer der Schuhe der Schwiegermutter, wie wir bemerkten, mit Isolierband zusammengeklebt. Auch Heisler neigte zu großen Gesten, flog zum Beispiel Toms künftige Ehefrau für ein Wochenende aus Chicago ein. Aber die 12500 Dollar, die er Tom für den Umbau des Lofts bezahlte, waren ungefähr ein Achtel dessen, was es bei einem New Yorker Bauunternehmen gekostet hätte.
Es waren Leute wie Tom und ich, die den Wert dessen, was sie mitbrachten, nicht erkannten. Tom begriff zu spät, dass er von Heisler ohne weiteres das Doppelte oder Dreifache hätte verlangen können, und als ich Manhattan Mitte August verließ, schuldete ich dem St. Luke's Hospital 225 Dollar. Um das Ende des Sommers und auch, glaube ich, unsere Verlobung zu feiern, waren V und ich ins Victor's gegangen, ein kubanisches...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.