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1870 war St. Louis die viertgrößte Stadt Amerikas. Ein bedeutender Eisenbahnknotenpunkt, der größte Binnenhafen des Landes, ein Umschlagplatz für den halben Kontinent. Nur New York, Philadelphia und Brooklyn hatten mehr Einwohner - Zeitungen in Chicago, der dichtauf folgenden fünftgrößten Stadt, stellten allerdings die Behauptung auf, bei der Volkszählung von 1870 seien neunzigtausend St. Louisianer zu viel gezählt worden, und hatten Recht damit. Alle Städte aber sind Ideen. Sie erschaffen sich selbst, und die Welt nimmt sie nach Belieben wahr oder ignoriert sie.
Als St. Louis 1875 von seinen Lokalpropheten zur natürlichen Hauptstadt der Nation erklärt wurde, der es bestimmt sei, zur größten Stadt des Landes aufzusteigen, machte man sich daran, ein entscheidendes Hindernis auf diesem Weg beiseite zu räumen. Das Hindernis war die St. Louis County, der Teil des Staates Missouri, zu dem die Stadt nominell gehörte. Ohne die Stadt war die St. Louis County gar nichts - eine große Fläche Farmland und Wald im Gebiet zwischen zwei Flüssen. Trotzdem beherrschte die County seit Jahrzehnten schon die Stadt. Instrument war eine urtümliche Verwaltungsbehörde, der County Court. Die sieben «Richter» waren notorisch korrupt und gegenüber den städtischen Belangen gleichgültig. Ein Farmer, der eine Straße zu seinem Hof bauen lassen wollte, konnte die Richter billig kaufen - mit Geld oder Wählerstimmen. Wenn aber die Stadt Grünanlagen oder Straßenbeleuchtung brauchte, hatte der County Court nichts beizusteuern. Für eine aufstrebende Provinzstadt war die engstirnige Behörde ein Ärgernis; für die viertgrößte Stadt Amerikas war sie untragbar.
Eine Gruppe einflussreicher Geschäftsleute und Juristen überzeugte die Vordenker einer neuen Verfassung für den Staat Missouri, dass Vorkehrungen für eine Gemeindereform in den Entwurf einzubringen seien. Ungeachtet aller Behinderungen durch den County Court entwarf die Gruppe eine Strategie für die Ausgliederung von St. Louis aus der St. Louis County, über die im August 1876 von den Bewohnern des Verwaltungsbezirks abgestimmt werden sollte.
Vor der Wahl hatte sich die Kritik an dieser Strategie vor allem auf einen Punkt konzentriert - die Ausweitung des städtischen Landbesitzes von einundzwanzig auf einundsechzig Quadratmeilen, wobei so etwas wie Abfindungen gezahlt wurden. Die Landbewohner erhoben Einspruch gegen den «Landraub» der Stadt. Der Globe-Democrat sah in der Annexion «von Getreidefeldern und Melonenäckern und in deren Besteuerung als städtisches Eigentum» ein empörendes Unrecht. Die Verfechter der Ausgliederung aber beharrten darauf, dass die Stadt diese Flächen für Parks und Industrieanlagen der Zukunft dringend nötig habe.
Bei einer Wahl, die der County Court durchführte, entschieden sich die Wähler mit knapper Mehrheit dagegen. Betrugsvorwürfe wurden laut. Den Kritikern fiel es nicht schwer, einen Richter des Oberlandesgerichts (einen Louis Gottschalk, der den Reformvorbehalt für die Verfassung von 1875 persönlich ausgearbeitet hatte) dafür zu gewinnen, dass er eine Untersuchungskommission einsetzte und die Wahl überprüfen ließ. Ende Dezember präsentierte die Kommission ihr Ergebnis: Die Ausgliederung war befürwortet worden, mit einer Mehrheit von 1253 Stimmen. Sofort erhob die Stadt Anspruch auf ihr neues Land und gab sich eine neue Gemeindeordnung, und fünf Monate später, nachdem alle Revisionen abgewiesen waren, löste sich der County Court auf.
Jahrzehnte vergingen. Bald zeigte sich, dass die einundsechzig Quadratmeilen nicht ausreichten. Schon 1900 platzte die Stadt aus allen Nähten, und die County weigerte sich, weitere Flächen abzutreten. Die alteingesessenen Fabriken nahmen Reißaus vor den Zerstörungen, die sie angerichtet hatten. Neue Fabriken ließen sich in der County nieder. In den dreißiger Jahren zogen verarmte schwarze Familien aus den ländlichen Südstaaten zu und beschleunigten die Abwanderung der Weißen in die Vororte. Um 1940 schrumpfte die Stadtbevölkerung bereits, und damit sanken auch die Steuereinnahmen. Altehrwürdige Wohnquartiere verkamen und waren nur noch alt. Siedlungsprojekte wie Pruit-Igoe, in den fünfziger Jahren begonnen, scheiterten spektakulär in den Sechzigern. Bemühungen um eine Neubelebung der Stadt führten dazu, dass betuchte Bewohner der County in einige exklusive Wohnlagen zogen, halfen aber der kränkelnden Stadt nicht weiter. Jedermann beklagte den Zustand der städtischen Schulen, doch darin erschöpfte sich der Reformwille schon. Die siebziger Jahre, als riesige Asphaltwüsten die halb leeren Bürogebäude im Zentrum ersetzten, wurden zur Ära der Parkplätze.
Mittlerweile hatten natürlich die meisten amerikanischen Städte ähnliche Probleme. Verglichen mit St. Louis aber war selbst Detroit eine blühende Metropole, war selbst Cleveland eine familienfreundliche Großstadt. Andere Städte hatten Optionen, gute Nachbarn, eine Chance, sich zu behaupten. Philadelphia nutzte sein Umland, Pittsburgh konnte auf die Unterstützung der Allegheny County rechnen. Das abgeschnittene und eingeschnürte St. Louis hingegen war 1980 auf Platz siebenundzwanzig der amerikanischen Großstädte abgerutscht. Es hatte nur noch 450 000 Einwohner, kaum halb so viele wie 1930.
Die Lokalpropheten waren in der Defensive. Hatten sie einst die Vorrangstellung der Stadt beschworen, klammerten sie sich nun an jedes Überlebenszeichen. Vierzig Jahre lang hatten sie gepredigt: «St. Louis schafft den Aufstieg.» Sie verwiesen auf den Gateway Arch (192 Meter hoch und nicht zu übersehen). Sie verwiesen auf das neue Kongresszentrum, auf drei neue Hochhäuser und zwei riesige Einkaufsmärkte. Auf Slumsanierungsprojekte, Verschönerungsprogramme und Pläne für eine Gateway Mall, die der Prachtstraße in Washington Konkurrenz machen sollte.
Aber Städte sind Ideen. Welchen Eindruck gewannen die Leser der New York Times, wenn sie sich aus der Ferne ein Bild von St. Louis machen wollten? Vielleicht hatten sie den Artikel über eine neue städtische Verordnung gelesen, die das Wühlen in Mülltonnen unter Strafe stellte. Oder den Bericht über die bevorstehende Einstellung des schwächelnden Globe-Democrat. Oder die Geschichte von den Gaunern, die leer stehende Gebäude abrissen, jeden Tag ein anderes, und die Ziegel an Baufirmen außerhalb des Staates verkauften.
Warum traf es gerade St. Louis?
Die Propheten gaben sich nicht geschlagen und verkniffen sich diese Frage. Dasselbe galt für die alten Verfechter des Fortschritts, die die Stadt mit ihren guten Absichten in den Ruin getrieben hatten. Längst hatten sie ihre Wohnsitze und Aktivitäten aufs Land verlegt. Die Frage stellte sich, wenn überhaupt, im Stillen - in der Stille der leeren Straßen und, beharrlicher noch, in der Stille des Jahrhunderts, das zwischen dem aufblühenden und dem toten St. Louis lag. Was wird aus einer Stadt, an die sich kein Lebender erinnert, aus einem Zeitalter, dessen Untergang kein Lebender betrauert? Nur St. Louis wusste es. Die Stadt war der einzige Zeuge ihres Schicksals, einer ganz besonderen Tragödie, die nirgendwo sonst besonders war.
Nach dem Gespräch mit Jammu brachte Singh die dicke Probst-Akte in sein Apartment im West End, las sie von vorn bis hinten durch, rief Baxti achtmal an, um sich Verschiedenes erklären zu lassen, und in der Absicht, den Schauplatz zukünftiger Verbrechen zu besichtigen, fuhr er am nächsten Morgen hinaus nach Webster Groves.
Die Probsts bewohnten eine dreigeschossige Villa an einer langen und breiten Straße, dem Sherwood Drive. Barbara Probst war pünktlich losgefahren. Dienstags, genau wie donnerstags, arbeitete sie in der Beschaffungsabteilung der Universitätsbibliothek von St. Louis und kam um halb sechs nach Hause. Der Dienstag war auch der Tag, an dem der Gärtner frei hatte. Als das Piepen in Singhs Ohrhörer erstarb und nur noch statisches Rauschen vernehmbar war (Baxti hatte Barbaras BMW mit einem Positionsmelder versehen, der eine Reichweite von einem Kilometer besaß), hörte er die zwei im Haus platzierten Mikrophone ab, stellte fest, dass alles ruhig war, und näherte sich dem Haus zu Fuß. Während der Schulstunden waren Fußgänger am Sherwood Drive so rar wie auf einem Friedhof.
Singh hatte sich als Gasmann verkleidet. Er trug eine Umhängetasche aus schwarzem Leder. In der Hosentasche hielt er OP-Handschuhe zur Vermeidung von Fingerabdrücken bereit. Er stieg eine rote Ziegeltreppe hinab und öffnete die Kellertür mit dem Schlüssel, den er von Baxti erhalten hatte. Die Massen von Gerümpel beeindruckten ihn. Insbesondere die vielen abgefahrenen Reifen, die vielen...
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