Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Dieses Rennen hatte auf den Radsport eine ähnliche Wirkung wie der erste Wimbledon-Sieg von Boris Becker auf das deutsche Tennis knapp hundert Jahre später: Es löste einen wahren Boom aus, von dem manche Fahrer nicht nur in sportlicher Hinsicht profitierten. Innerhalb von vier Jahren verdreifachte sich die Fahrradproduktion auf 350.000 Stück. Der Rennfahrer Georg Sorge gründete Anfang der 1890er Jahre in Köln die Allright-Fahrradwerke. Die Gebrüder Opel, der Dreiradmeister Willy Tischbein (Continental-Reifen) und der Hochradfahrer Ernst Sachs taten es ihm gleich. Sie alle waren Erfinder, Produzenten und Radsportler zugleich.2
In den Anfangsjahren aber hatte der Radsport mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Vielerorts schikanierte die Obrigkeit die Zweiradfahrer und machte ihnen in den 1880er und 1890er Jahren durch Fahrverbote das Leben schwer - so in Köln, Berlin und Basel. Fuhrwerke, Pferdebahnen, Fußgänger, Radfahrer und erste Kraftwagen verursachten ein Gedränge auf den Straßen, das die Ordnungshüter schlicht überforderte - da traf das Verbot naturgemäß diejenigen Verkehrsteilnehmer, die damals die meiste Verwirrung stifteten. Zudem waren die Straßen in einem derart schlechten Zustand, daß das Befahren mit einem Velociped alles andere als ein Vergnügen war.3
Der Radrennfahrer Ernst Kaufmann: »Das Interesse des Publikums an den Radrennen der Vereine war so rege, daß Gendarmerie aufgeboten werden mußte, um die Massen in Schach zu halten.« So machte man aus der Not eine Tugend: »(.) diese Mißhelligkeiten gaben den Vereinen den Gedanken ein, das bisher auf Verkehrsstraßen abgehaltene Rennen auf einen vom Verkehr unberührten Platz zu verlegen. In einer Parkanlage schor man den Rasen kurz oder walzte einen Kreis fest und schuf damit die Urahne unserer modernen Radrennbahnen.«4
Die erste Radrennbahn Deutschlands wurde 1880 in München eingeweiht. Acht Jahre später gab es bereits dreißig deutsche Rennpisten, die meisten in Clubeigentum. Die ersten Renn-Ovale waren Sandbahnen, die jedoch nicht fest genug waren. So wurde mit verschiedenen Belägen wie Lehm, Teerpappe, Asphalt und sogar Kork experimentiert. Schließlich erwiesen sich Zement für offene Rennpisten und Holz für Hallen als die geeignetsten Unterlagen. Um die Jahrhundertwende entstanden die ersten kurvenerhöhten Zementbahnen, und damit trat der Bahnradrennsport seinen gewaltigen Siegeszug an. »(.) der Bahnradsport (.) muß als nächsthöhere, schwierige Stufe des Radsports angesehen werden, weil er mehr Voraussetzungen stellt. Zu seiner Ausübung gehörten Spezialräder und Zementbahnen oder Holzbahnen und selbstverständlich auch ein hoher Grad von Geschicklichkeit.«5
Während noch in den 1880er Jahren auf der Straße und in den Bahnen identische Räder gefahren wurden, entwickelten sich bald zwei verschiedene Gattungen. Bis heute verfügen Bahnmaschinen weder über Freilauf noch über Schaltung und Bremsen. Sie sind zudem leichter als Straßenräder und mit anderen Reifen ausgestattet.
Auch bei den Fahrern setzte eine Spezialisierung zu Straßen- oder Bahnfahrern ein. Die Bahnfahrer wiederum bevorzugten je nach Talent und körperlicher Konstitution kurze, schnelle Sprint-Disziplinen, die sogenannten »Fliegerrennen«, oder aber die »Dauerrennen«. Die Dauerfahrer absolvierten auf der Bahn meist Distanzen von über hundert Kilometern oder 6-, 12- oder 24-Stundenrennen, die üblicherweise hinter Führungsmaschinen gefahren wurden. Als Schrittmacher-Maschinen dienten zunächst unter anderem Tandems, später motorisierte Zweiräder.
Bis zur Jahrhundertwende überwogen die Fliegerrennen auf der Bahn, der Sprint war der größte Publikumsmagnet. Willy Arend erläuterte dem Unkundigen seine Disziplin so: »Ein Fliegerrennen, das z.B. über eine Distanz von 1000 m führt, wird gewöhnlich nicht vom Start aus im schnellsten Tempo gefahren; denn das würde zur Folge haben, daß der führende Fahrer sich bald ausgibt und das Publikum am Schlusse an Stelle eines Kampfes ein auseinander gezogenes Feld vor sich hätte. Ein Fliegerrennen wird gewöhnlich bis zum Glockenzeichen, d.h. wenn wir eine Bahn von 500 m vor uns haben, bis zur zweiten Bahnrunde in nicht zu forciertem Tempo gefahren. Es ist bis dahin Aufgabe der Fahrer, sich gegenseitig zu beobachten, um die Absichten betreffs der Taktik im Rennen zu erforschen. Nach dem Glockenzeichen wird meistens das Rennen schneller, um zirka 200 bis 300 m vor dem Ziel zur Endphase, dem sogenannten Spurt, überzugehen. (.) Ich will zugeben, daß es kein hübscher Anblick ist, wenn bei einem Hauptrennen die Fahrer, gegenseitig sich beobachtend, langsam um die Bahn bummeln, keiner an die Spitze gehen will, und es schließlich zum vollständigen Stillstehen der Fahrer kommt. Aber andererseits habe ich schon von vielen Sportkennern gehört, daß auch in diesem Positionskampfe ein gewisser Reiz liegt, und muß ich, der ich schon Hunderte von Rennen gefahren habe, sagen, daß gerade dieses Suchen, eine gute Position zu erlangen, manchmal das Schwerste im ganzen Rennen ist.«6
Allerdings mußten die Flieger ihren ersten Platz auf der Beliebtheits-Skala zur Jahrhundertwende an die »Steher« abtreten, als Motorräder als Schrittmacher ihren Dienst antraten. Das breite Publikum zog die Rennen mit den donnernden Maschinen vor, weil sie schneller, gefährlicher und spektakulärer waren.7
Steher-Weltmeister Peter Günther
Die zunehmende Schnelligkeit forderte allerdings auch ihren Tribut: Zahlreiche Rennfahrer verloren bei Stürzen ihr Leben, darunter auch die Kölner Fahrer Willy Schmitter (┼1905) und der Weltmeister von 1911, Peter Günther (┼1918). 1909 wurden bei einem Steherrennen in Berlin zwei Schrittmacher und ein Rennfahrer ins Publikum geschleudert. Bei dieser sogenannten »Rennbahnkatastrophe« kamen neun Menschen ums Leben, zweiundfünfzig wurden verletzt. Der Unfall führte zu einem vorübergehenden Verbot von Steherrennen. Erst unter bestimmten Auflagen, die die Renngeschwindigkeit reduzierten, wurden sie wieder zugelassen.
Zu einer weiteren Zuschauerattraktion neben den Steherrennen entwickelten sich die Sechs-Tage-Rennen. Die »Six-days« waren eine englische Erfindung, die jedoch in den USA ihre erste Blütezeit erlebte. Die Fahrer waren anfangs einzeln, ab 1899 zu zweit als Mannschaft unterwegs. Wann die Sportler fuhren oder ruhten, konnten sie selbst entscheiden - um aber möglichst wenig Pausen machen zu müssen, aßen sie auf dem Rad und lasen im Sattel sogar Zeitung. Am Ende der tagelangen Strapaze, bei der die Einnahme »stimulierender« Mittel wie Heroin und Kokain an der Tagesordnung war, wurden die Kilometer zusammengezählt, die die Teilnehmer »erfahren« hatten - durchschnittlich waren es rund viertausend.
Der Madison Square Garden in New York, eine der Geburtsstätten der »Six days«
Die europäische Premiere des Sechs-Tage-Rennens fand 1909 in der Berliner Ausstellungshalle am Zoologischen Garten statt. Der erste deutsche Radsport-Weltmeister August Lehr gab den Startschuß unter den Augen des deutschen Kaiserpaars. Im Berlin der »Goldenen Zwanziger« waren die »Six Days« der Sport schlechthin, Rummelplatz, Olympiade und Karneval in einem - und Treffpunkt der Reichen und Schönen, unter ihnen Richard Tauber, die Schauspielerin La Jana, Barbara Hutton, Gerhard Hauptmann und viele andere.8 Egon Erwin Kisch animierten diese Veranstaltungen zu skeptischen Betrachtungen von der »elliptischen Tretmühle«, in denen »lebende Roulettebälle« rollten.9
Der französische Rennfahrer und Sportjournalist - und spätere Freund Albert Richters - Jean Leulliot war 1933 zu Gast beim Dortmunder Sechs-Tage-Rennen: »Und was er dann sah, ließ ihn Augen, Ohren, Mund und Nase aufsperren! Was für ein Trubel! Ein Tohuwabohu! Ein Jahrmarkt! Er war mitten in eine Kirmes geraten! Lotteriebuden, (.), Pferdchenspiele, Würfelbuden, Schießbuden, Würstchenbuden, Obstbuden, Boulespiele, Restaurants, Zigarettenbuden, Büchereien, Zeitungsstände, Friseure, Kegelbahnen, unzählige Bars und Schankstätten. Und alles schreit, johlt, singt, heult, springt, tanzt, und Rund- und Chorgesänge grölen immer wieder: >Oh Mona!<«10
Mit dem Radsport war also viel Geld zu verdienen. Clevere Geschäftsleute hatten das schon fünfzig Jahre vorher erkannt, und so waren bereits gegen Ende der 1880er Jahre weitere ovale Arenen entstanden, die kommerziell geführt wurden. Um die Rennen attraktiver zu machen und möglichst viele Zuschauer anzulocken, verpflichteten die Veranstalter vorrangig Berufsfahrer, die bessere Leistungen brachten als Amateure. Die Spezies des »Allround-Fahrrad-Experten« hatte ausgedient. Der Radsport gehörte damit zum Ende des 19. Jahrhunderts neben Boxen und...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.