Schweitzer Fachinformationen
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Einer, der weiter im Osten gewohnt hatte und gestern angekommen war, hatte den Knall gehört. Er zitterte am ganzen Leibe, was seiner Nachricht zusätzliche Glaubwürdigkeit verlieh und unsere Vorsteherin veranlasste, ihn in die Krankenstation auf Sohle zwei einzuweisen. Dort konnte ich in den folgenden Tagen mehrmals mit ihm sprechen, denn ich war dort als Sanitäter zugeteilt worden, obwohl, das gestehe ich, mir dazu jegliche berufliche Voraussetzung fehlte. Leider verstarb der Neuzugang nach wenigen Tagen, in denen ich mein Möglichstes gab, um ihn am Leben zu halten, doch die Verbrennungen, die zuerst nur durch leichte Rötung erkennbar, dann aber in eine Blasenbildung vor allem auf Rücken und der Hinterseite von Schenkeln und Unterschenkeln übergingen, überforderten seine Widerstandskraft. Er mochte wohl auch innere Verletzungen gehabt haben, denn einem totalen Nierenversagen am dritten Tag war eine intensive Blutung kurz nach Einführung eines Harnkatheters vorausgegangen. Trotz seines sich von Tag zu Tag rapide verschlechternden Zustands, teilte mir Herr Camci, das er wie Tschammschi aussprach, aber Camci geschrieben wurde, wie aus seinem Personalausweis hervorging, mit, dass er auf seine Familienangehörigen warte, die eigentlich vor ihm hätten eintreffen müssen, da sie schließlich sofort losgelaufen seien, gleich nach dem grellen Blitz über den Werkshallen, dem ein unmenschlicher Knall gefolgt wäre. Schon vom dritten Tag an war Camci kaum noch zu verstehen. Schließlich vermochte ich nur noch das Wort Knall klar von seinem sonstigen Gebrabbel zu unterscheiden, zumal er, wenn er es aussprach, die Augen weit öffnete, so als ob er mir zu verstehen geben wollte, dass er dabei war, mir etwas besonders Wichtiges mitzuteilen.
Nachdem der Doktor den Totenschein ausgestellt hatte, war es an mir, Camci in einen Leichensack zu stecken. Hatte mich diese Art von Tätigkeit am Anfang noch einigermaßen befremdet, führte ich sie nun, so kann ich sagen, beinahe routiniert aus. Beim besten Willen hätte ich nicht sagen können, wie oft ich diese technisch gesehen doch recht simplen Handgriffe schon ausgeführt hatte. Es mochten wohl einige hundert Mal gewesen sein. Was mich zunehmend sorgte, war, dass unser Vorrat an Leichensäcken von Woche zu Woche schrumpfte und abzusehen war, dass er irgendwann endgültig zur Neige gehen würde. Aber noch war es nicht so weit, und ich karrte den hygienisch in einem olivgrünen Plastiksack verpackten Camci bis zum Rand des Schachtes, wo ich ihn, ohne mich selbst dabei zu weit nach vorne zu beugen, in die Tiefe gleiten ließ. Von Zeit zu Zeit kippte in einer der weiter unten liegenden Sohlen ein Bulldozer Abraum in die Tiefe, so dass ich, wenn ich an meine ehemaligen Patienten denke, mit Fug und Recht sagen kann, dass sie ordentlich begraben worden sind. Platz war noch ausreichend vorhanden, belegten doch die Bunkerinsassen nur die Stollen der fünf oberen Sohlen, die, selbst wenn man die ersten zwei, die ausschließlich sanitären Zwecken dienten, abzieht, in ihren verzweigten Gängen Platz für mehrere tausend Personen boten. Wie viele genau dort unten waren, wusste niemand. Als ich den Doktor einmal danach fragte, schüttelte er den Kopf und meinte, er hätte wohl schon Tausende hinabfahren sehen, aber niemanden wieder hinauf, er schlösse daraus, dass es an Platz wohl nicht fehle. In der Tat waren auf jeder Sohle vor langer Zeit Stollen horizontal in das Gestein getrieben worden, wo sie dann auf Kohleflöze stießen, die nach und nach abgebaut worden waren. Es waren schließlich kilometerlange Strecken entstanden, welche die Bergleute zurücklegen mussten, um noch an Kohle zu kommen. Nur ganz unten, in einer Tiefe von mehr als tausend Metern hatte es zuletzt noch Kohle gegeben. Die Teufe, wie die Kumpel diesen tiefsten Ort des Bergwerks nannten, war nur deshalb nicht voll Wasser gelaufen, weil beständig die Pumpen liefen. Alle anderen Gruben im Land waren, nachdem man sie aufgegeben hatte, entweder mit Abraum verfüllt worden, oder standen bis zum Grundwasserspiegel unter Wasser. Man hatte unseren Schacht betriebsfähig gehalten, nicht weil man Kohle abbauen wollte, denn das war schon lange unrentabel geworden, sondern weil man ein Industriemuseum aus den ober- und unterirdischen Anlagen gemacht hatte.
"Unser Glück," sagte der Doktor, "sonst säßen wir jetzt irgendwo da oben und wer weiß, was aus uns geworden wäre." Ich musste ihm Recht geben, fragte mich aber, wie lange die Pumpen noch laufen würden, denn das Stromnetz funktionierte nur stundenweise und es war ein Wunder, dass unsere elektrischen Geräte, die Beleuchtung, die Förderkörbe und die Pumpen eingeschlossen, noch liefen.
"Diesel," sagte der Doktor, "wir haben Dieselgeneratoren, die springen an, wenn der Strom ausfällt."
Ich war dermaßen erleichtert, dass mir erst Tage später einfiel, dass man, was ja auf der Hand lag, zum Betrieb von Dieselmotoren, Diesel braucht. Und, so durchfuhr es mich, war dieser in ausreichender Menge vorhanden? Wurde er nachgeliefert, wenn er zur Neige ging? Und wie sollten wir nach oben kommen, wenn es eines Tages keinen Diesel und folglich keinen Strom mehr gab?
Irgendwo hatte ich eine Tafel gesehen, auf der, wie auf einem Metrofahrplan, das Gewirr von Stollen unserer Sohle vereinfacht dargestellt war. Richtig, sie hing im Büro unserer Vorsteherin, gleich in der Nähe des Eingangs zum Förderkorb. Ob ich auch die Pläne der anderen Sohlen haben wolle, fragte sie, als ich, nachdem ich den Staub vom Plexiglas mit dem Ärmel abgewischt hatte, versuchte, in dem Gewirr von Gängen und Stollen, einen Ausgang nach oben zu entdecken. Sie hätte auch einen vertikalen Schnitt, da seien die Schächte zu sehen, meinte sie, nachdem ich ihr gesagt hatte, was ich suchte. Tatsächlich fand ich auf dem von ihr auf ihrem Schreibtisch ausgebreiteten Plan rasch den Schacht, neben dem wir uns befanden und einen weiteren, in ungefähr achthundert Metern Entfernung.
"Das ist der Wetterschacht". Und sie fügte hinzu, als sie mein fragendes Gesicht sah: "Für die Lüftung. Dort wird die stickige Luft aus dem Bergwerk abgesaugt. Durch den Förderschacht kommt deshalb beständig frische Atemluft nach. Sehen Sie." Sie trat vor ihr Büro und hielt ein Papiertaschentuch in die Höhe, welches sie, nachdem sie sicher war, dass ich ihr zusah, fallen ließ. Sofort wurde es von der Luftströmung ergriffen und einige Meter mitgerissen. Tatsächlich hatte ich mich schon mehrmals gewundert, woher die beständige Brise auf unserer Krankenstation kam und einen Ventilator dafür verantwortlich gemacht, den ich allerdings nirgendwo hatte ausfindig machen können.
Es gab also keinen Ventilator auf unserer Sohle, sondern oben, über Tage, eine Maschine, groß genug, um immense Luftmassen aus den kilometerlangen Stollen, die man vor beinahe hundert Jahren begonnen hatte, in den Fels zu treiben, nach oben zu saugen. "Deswegen riecht es hier nicht," sagte die Vorsteherin und auf meinen verständnislosen Blick hin, deutete sie diskret mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand, nach unten. Ich verstand. Nicht auszudenken, was geschehen würde, fiele eines Tages die Entlüftung der Schachtanlage, für die Abfuhr von Gasen und Zufuhr von Sauerstoff unerlässlich, aus. Einen Förderkorb oder einen einfachen Personenfahrstuhl gab es in diesem Wetterschacht nicht. Noch ein weiterer Sachverhalt stand mir jetzt klar vor Augen: nicht nur der Förderkorb, der in vielleicht stündlichen Abständen nach oben oder unten raste, war von einem mit Diesel betriebenen Stromaggregat abhängig, auch das Funktionieren der Klimaanlage, wenn man sie denn so nennen will, war von einer beständigen Versorgung mit Elektrizität und damit vom Diesel abhängig.
Als ich wieder auf der Krankenstation war und den Doktor suchte, um ihm von meinen Entdeckungen zu berichten, war dieser damit beschäftigt, einige Neuzugänge zu versorgen. Ich ging ihm wie immer zur Hand und hätte meinen Besuch bei der Vorsteherin fast vergessen, wenn er nicht selbst, nach getaner Arbeit, darauf zu sprechen gekommen wäre. Dass es einen Wetterschacht gab, wusste er, nur dass dieser mit Diesel betrieben wurde, war ihm entgangen. "Eigentlich logisch", sagte er, "sonst wäre hier unten sicherlich schon oft der Strom ausgefallen." Und nachdem wir beide an dasselbe gedacht hatten, fügte er hinzu: "Schlimmer als die Hitze und der knapper werdende Sauerstoff und der Gestank, welcher alsbald aus der Teufe nach oben steigen würde, sobald der Strom einmal länger ausfällt, wäre, dass wir dann hier unten festsäßen. Der Förderkorb ist die einzige Möglichkeit uns zu versorgen und, wenn es eines Tages möglich ist, hier wieder herauszukommen."
Tagelang gingen wir unserer Arbeit nach, ohne wieder auf dieses beängstigende Thema zurückzukommen, bis mich der Doktor zu einem Patienten rief, der vor Kurzem wegen starken Unwohlseins eingeliefert worden war. "Es ist der Maschinist." Ich verstand nicht gleich. "Er ist für den Motor des Förderkorbs und des Wetterschachts verantwortlich." Wieder...
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