»Eine Ausdrucksform des Lebens«
Der Gerontopsychologe Andreas Kruse über das Altern als Gewinn, die Bringschuld der Gesellschaft und die Ansprüche der 68er
Interview: Jacqueline Vogt
Herr Professor Kruse, wann ist ein Mensch alt?
In der Altersforschung sprechen wir lieber von altern als von Alter in dem Sinne, dass von einem bestimmten Lebensjahr an ein Mensch alt sei. Entwicklung vollzieht sich lebenslang, geistig, körperlich und seelisch. In Studien haben wir allerdings festgestellt, dass sich ungefähr in der Mitte des neunten Lebensjahrzehnts bei vielen Menschen zahlreiche körperliche, geistige und seelische Merkmale verändern, so dass wir davon ausgehen, dass hier noch einmal ein Gestaltwandel stattfindet, dass etwas Neues entsteht.
Und dieses Neue ist das Alter?
Uns haben immer wieder sehr alte Menschen gesagt, wenn sie auf ihre Biographie zurückblickten, dann hätten sie das Gefühl, die Zeit um den 85. Geburtstag herum sei der Punkt, an dem sie wirklich alt geworden seien.
Bis zum 85. Geburtstag ist man also gar nicht alt?
Wir würden sagen: Man befindet sich an einem späteren Abschnitt des Lebenslaufs, nicht mehr, nicht weniger. Natürlich verändern sich im Laufe des Lebens einzelne körperliche und geistige Prozesse in der Hinsicht, dass die maximale Leistungskapazität zurückgeht. Aber wir haben zugleich Möglichkeiten, diese Rückgänge wenigstens in Teilen zu kompensieren. Dies geht durch körperliches und kognitives Training, auch durch eine emotional-geistig tiefe Auseinandersetzung mit der Welt und der eigenen Person. Und durch kontinuierliche Erweiterung des Wissens.
Was bedeutet der Alterungsprozess im Berufsleben?
Man kann in Betrieben feststellen, dass ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, also Leute über 55, wenn sie körperlich und kognitiv trainiert sind, so gut kompensieren können, dass sie nicht weniger leistungsfähig sind als junge Mitarbeiter.
Grundsätzlich lässt aber neben der körperlichen auch die geistige Leistungsfähigkeit nach?
Es gibt bestimmte Bereiche des Gehirns, in denen in der Tat Leistungsrückgänge zu beobachten sind: die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung, die Umstellungsfähigkeit in neuartigen Situationen, das Kurzzeitgedächtnis. Aber, wie gesagt, es gibt Möglichkeiten des Ausgleichs von Verlusten durch Training und, ebenfalls wichtig, durch Reflektion. Wer sich ein differenziertes Bild von sich und der Welt macht, der gewinnt einen Überblick, den ein junger Mensch nicht haben kann. Auch das ist eine Methode der Kompensation.
Wie erwirbt man so einen Überblick?
Durch Bildung, durch Offenheit, auch durch die Bereitschaft, Neues zu lernen und sich mit Neuem auseinanderzusetzen. Und durch die reflektierte Auseinandersetzung mit dem, was man erlebt und erfahren hat. So kann es einem gelingen, den Alterungsprozess durchaus als einen Gewinn zu interpretieren.
Sollte das Rentenalter heraufgesetzt werden?
Sagen wir es einmal so: Unternehmen sollten Strukturen schaffen, die auch Leuten, die 66 Jahre oder älter sind, die Möglichkeit geben, zu arbeiten, wenn sie das denn können und wollen. Das muss ja auch nicht jeden Tag sein, es kann projektbezogen sein, es gibt viele Möglichkeiten.
Hierzulande leben die Menschen immer länger. Was bedeutet das für die Gesellschaft generell?
Wenn wir das Alter seelisch-geistig betrachten, sozial-kommunikativ, kulturell und alltagspraktisch: Dann bietet es dem Einzelnen viele Möglichkeiten, Neues zu erleben und Vertrautes tiefer zu erleben. Für die Gesellschaft bedeutet das Alter die Möglichkeit, vermehrt auf leistungsfähige Wissenssysteme zurückzugreifen. Ich kenne Formen bürgerschaftlichen Engagements, in denen alte Leute mit sehr jungen Leuten zusammenarbeiten, so etwas ist ein ganz hohes Gut für ein Gemeinwesen.
Deutschland altert glücklich. Von Andre Piron (Grafik) und Dyrk Scherff. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.06.2017.
Das klingt, als seien das Altern und das Alter eine tolle Sache.
Das Alter insgesamt bietet ein starkes ideelles, geistiges, soziales, kulturelles Kapital.
Und das klingt, als meinten Sie, dieses Kapital liege brach.
In vielerlei Hinsicht schon. Was Leute mit 60, 65, 70 Jahren angeht, da hat man inzwischen begriffen, was die zu leisten in der Lage sind. Wenn es um die Gruppe der Hochbetagten, also um die Menschen ab 80 aufwärts geht, ist das anders. Wir haben hier bei uns im Institut viele Untersuchungen gemacht, die uns zeigen: Menschen in diesem Alter sind körperlich sicher vermehrt verletzbar. Aber wenn sie vor Erkrankungen des Gehirns bewahrt bleiben, dann besitzen sie dieses geistige, soziale und kulturelle Kapital - und zwar in hohem Maße. Das nutzen wir viel zu wenig.
Ist uns das Alter unbequem?
Die hohe Zahl immer älter werdender Leute konfrontiert uns mit Verletzlichkeit, mit Krankheiten, mit deren Folgekosten, aber eben auch mit einer neuen gesellschaftlichen Verantwortung. Zu der zählt, Leuten in diesem Alter nicht nur eine sehr gute medizinische und pflegerische Versorgung anzubieten. Es müssen auch öffentliche Räume geschaffen werden, in denen sie ihr Wissen, ihre reflektierten Erfahrungen, ihr Verantwortungsgefühl gegenüber jungen Menschen umsetzen können. So spüren sie, dass hohes Alter eine natürliche Ausdrucksform, ein natürlicher Teil des Lebens ist.
Was könnte eine konkrete Klammer sein zwischen der Bringschuld der Gesellschaft und dem, was alte Leute sich wünschen?
Das fängt bei der Barrierefreiheit in den Städten an und geht hin bis zu den Wohnformen und der Darstellung in den Medien. Das Alter sollten wir nicht vordringlich als defizitären Zustand begreifen und schildern. Das heißt ja nicht, die zunehmende körperliche Verletzlichkeit zu ignorieren. Ideal ist es, wenn Möglichkeiten geschaffen werden, die eine Begegnung zwischen den Generationen fördern. Das kann zum Beispiel in Bürgerzentren oder Mehrgenerationenhäusern geschehen. Wenn sich alte Leute sicher und geschützt fühlen, dann sind sie sehr oft bereit, sich noch für die Gemeinschaft zu engagieren. Ich denke, das wird man zum Beispiel beim Thema Flüchtlingsbetreuung in den nächsten Jahren noch sehen. Alte Menschen wollen sich im öffentlichen Raum aufhalten können und wollen dort etwas tun. Nur zu Hause zu sitzen und sich um sich selbst zu kümmern macht weiß Gott nicht jeden froh.
Ist das eine belegte Erkenntnis?
Wir haben einmal eine Studie durchgeführt, nämlich die Generali Hochaltrigkeitsstudie, in der wir 400 Personen zwischen 85 und 100 Jahren in sehr ausführlichen Interviews danach gefragt haben, was ihre zentralen Lebensthemen sind. Und drei Viertel haben gesagt, sie wünschten sich, für andere etwas tun, für andere sorgen zu können, auch für jüngere Menschen. Sie haben auch gesagt, dass sie Sorge hätten, sonst aus der Welt zu fallen.
Sind die Alten heute anders, als die vor 30 Jahren waren?
Dem Gros geht es gesundheitlich besser als früheren Generationen, es ist auch finanziell besser situiert. Allerdings darf man nicht vergessen, dass es eine große Ungleichheit gibt, und die wird eher zunehmen als abnehmen.
Jetzt sind auch 68er schon im Rentenalter. Macht sich das bemerkbar?
Ja, natürlich. Das ist eine Generation, die Ansprüche formuliert, gegenüber Institutionen, auch gegenüber anderen Generationen, gegenüber dem Leben überhaupt. Die 68er im altern zu erleben ist etwas Hochinteressantes. Wir beobachten dabei nämlich eine Kontinuität in den Lebensstilen und in der Lebenseinstellung, die mit Blick auf die Gestaltung des Alters innovativ ist. Eine bestimmte Einstellung und Haltung geben die ja nicht auf, nur weil sie in ein höheres Lebensalter kommen.
Verändert sich die Persönlichkeit im Alter nicht?
Die Psyche insgesamt muss man als etwas Fließendes begreifen. Bestimmte Eigenschaften hat man, aber im Kontext dieser Eigenschaften gibt es eine potentielle Durchlässigkeit für neue Eindrücke. Insofern können im Alter auch neue Seiten der Persönlichkeit eines Menschen sichtbar werden. Das kann Humor sein, eine höhere Intellektualität oder Spiritualität oder eine emotional stärkere Durchlässigkeit.
Emotionale Durchlässigkeit: Ist das die vielbesungene Altersmilde? Viele haben ja schon gesagt, sie seien im Laufe ihres Lebens immer gelassener geworden.
Na, ob die Leute im Alter besonders milde sind, ich weiß nicht ...
Wenn man nicht milder wird, was dann?
Manchen gelingt es im Alter besser als in jungen Jahren, ihre Gefühle auszudrücken. Wir beobachten auch nicht wenige alte Menschen, die ein sehr gesundes Verhältnis zu sich selbst entwickeln, sie werden sich mehr Freund, entwickeln aber auf der anderen Seite eine gewisse und gesunde Distanz zur eigenen Person.
Hängen solche Veränderungen von der Umgebung ab, in der einer lebt? Bieten Städte per se mehr Anregungen als das Land? Oder sind die Familienverhältnisse entscheidend?
Ja, die Umgebung spielt eine Rolle, man kann aber auch bestimmte Prozesse neuropsychologisch erklären. Ein wichtiger Aspekt ist zum Beispiel die Inhibitionsschwäche: Menschen gelingt es im hohen Alter nicht mehr so gut wie früher, einschießende Gedanken und Emotionen zurückzudrängen und zu kontrollieren.
Ziemlich unvorteilhaft im Umgang mit anderen, oder?
Na ja, der eine geht dann vielleicht mit seinen Reaktionen übers Ziel weit hinaus. Es kann aber auch sein, dass jemand im positiven Sinne freier ist, als er einmal war.
Gemeinsam alt werden kann durchaus eine schöne Sache sein. F.A.Z.-Foto Patrick...