Kapitel 1:
Einschüchterungstaktiken
Die Nachtluft war feucht, und der Times Square glitzerte wie Modeschmuck. Neonlichter summten, Scheinwerfer blitzten auf, und Tausende von bunten Glühbirnen sandten die Botschaft aus: New York - liebe diese Stadt oder geh dein Geld anderswo verschwenden. Der Times Square, nachts am strahlendsten und gleichzeitig am abstoßendsten, zog die passenden Leute an, was allerdings keine besonders freundliche Aussage über diese Gegend ist. Zwielichtige Individuen, schon an ihren Pelzen als solche zu erkennen, klebten wie ausgespuckte Kaugummis am Broadway und den hell erleuchteten Querstraßen und bahnten sich einen Weg zum Dinner bei Carame's mit anschließender Show. Die anderen Nomaden, die hierher und ansonsten heruntergekommen waren, ließen sich im wesentlichen als kleine Fische bezeichnen: Bettler, Taschendiebe, Hütchenspieler. Prostituierte aller Altersgruppen und Geschlechter hängen immer vor dem Playland auf der Forty-third Street herum, aber wenn man nicht auf der Suche nach Vergnügen ist, lassen sie einen in Ruhe. An Wochenendabenden, wie es dieser Freitagabend war, heizt sich die Energie auf wie erwärmte Moleküle in einem Reagenzglas. Die Kids aus Bushwick, East New York und von der Jerome Avenue - Teile von Brooklyn und der Bronx, die zu besichtigen ich noch nie den Mut besessen habe - kommen dann hierher. Mit den Kids kommen die Pistolen und mit den Pistolen die Mörder.
Ich versuchte heute, so auszusehen, als hätte ich nicht sechs Hunderter im Portemonnaie und eine Pistole in meiner Handtasche, während ich im Rhythmus der Straße mitging und mich durch die Menschen schlängelte. Ich nenne meine 22-Kaliber-Pistole mit Perlmuttgriff >Mama<. Ich nehme Mama immer mit, wenn ich auf der Pirsch bin. Mein Kollege und Ex-Liebhaber, Alex Beaudine, ging an meiner Seite und blies mir Schwaden der Novemberkälte ins Ohr.
»Da«, flüsterte Alex plötzlich und griff nach dem Kragen meines Kamelhaarmantels von Donna Karan. »Er geht in den Koreanerladen.«
Ich folgte Alex' ausgestrecktem Zeigefinger und sah, wie unser Freundchen sich durch die selbstgebastelte Plastik-und-Holz-Tür des koreanischen Spezialitätenladens an der Ecke schob. Er trug eine blau und rot gestreifte Jacke von Patagonia, Nikes mit Plateausohlen und eine grüne Wollmütze, unter der seine mausblonden Fransen in die Stirn hingen. Ich boxte Alex gegen den Arm, um ihm zu danken. Wir haben ein etwas merkwürdiges Verhältnis. Die Fußgängerampel wollte uns zwar auf unserer Straßenseite halten, aber Alex und ich wichen wahnsinnig gewordenen Taxis und einem amokfahrenden Downtown-Bus aus und gelangten unversehrt auf die andere Seite.
Vor dem Laden zu stehen und genau zu wissen, daß der Typ drinnen ist - so etwas ist immer das Schwerste an der Sache. Ich hatte sorgfältig entworfene und gut einstudierte Pläne in bezug auf dieses Kid. Ungeduld, mein schlimmster Feind, knabberte an meinen Magenschleimhäuten. Warte, wies ich mich an. Benimm dich unauffällig. Alex und ich verschmolzen mit dem bunten Bild der Passanten, indem wir sozusagen als Kunden die Melonen am Eisstand vor dem Laden betasteten. Manche waren ziemlich fest, und ich konnte nicht davon abhalten, an meinen Freund Max zu denken.
Irgend jemand brüllte: »Hey, du Perverser«, und ich drehte mich sofort um. Alex kicherte und sagte dann: »Ich wußte, daß du reagieren würdest.«
»Guck mal, da drüben«, antwortete ich und packte meine Melone noch fester. Unser Typ erschien plötzlich wieder. Er marschierte auf dem Bürgersteig ganz dicht an uns vorbei. Ich fragte mich, warum er nicht stehengeblieben war, um mich anzuglotzen. Ich beschloß, ihm das nicht übelzunehmen.
Er drehte nach links ab, und ich konnte sein Profil wunderbar sehen. Seine straßenköterblonden Ponyfransen wurden von einer plötzlichen Bö, die mit Dreck und Müll daherkam, zurückgeblasen. Er schien mindestens fünf Kilo um den Bauch herum zugenommen zu haben, das war unter seiner Patagoniajacke deutlich zu erkennen. Er eilte in Richtung Uptown. Ich lächelte Alex an. Er lächelte zurück, ganz Zahnfleisch und keine Zähne (was bei ihm eigentlich zum Dahinschmelzen süß aussieht).
»Trödle nicht, Watson, sonst verpassen wir noch den Aderlaß«, sagte ich und beendete damit unsere Obstüberprüfung. Wenn man bedenkt, daß wir diese Operation selbst durchführen wollten, war das Risiko natürlich nicht besonders groß, daß wir sie verpassen würden. Nichtsdestotrotz eilten wir den belebten Bürgersteig entlang.
Der Typ war nur ein paar Schritte von uns entfernt. Ich hob vorsichtig meine Pistole aus der Handtasche und ließ sie, um später schneller an sie heranzukommen, in meine Manteltasche gleiten. Ich leckte mir über die Lippen und kam mir vor wie ein Flittchen, weil ich mich dermaßen auf diese Sache freute.
Der Name dieses Knaben war Benjamin Savage. Als weißer Fünfzehnjähriger mit großen roten Pickeln entsprach er durchaus dem Durchschnitt. Außerdem hatte er lange, schwer zu bändigende Gliedmaßen, die ihn ungeschickt und tölpelhaft wirken ließen. Seine Mutter, die ich nur als Mrs. Savage kannte, hatte Großes mit ihrem Jungen vor.
»Er wird an der Olympiade teilnehmen«, hatte sie während unserer ersten Unterhaltung am Telefon gesagt. »Er ist ein begabter Schwimmer. Aber auch wenn er die Qualifikation für die Olympiamannschaft nicht schafft, werde ich ihn trotzdem lieben.« Mrs, Savage hatte meine Anzeige in den Gelben Seiten gesehen. Sie erklärte sich bereit, in die Räume von Do It Right Detectives zu kommen, also in mein Büro, und mir dort von ihrem Problem zu erzählen. Sie stimmte außerdem einem unverschämt überhöhten Honorar zu - ich glaubte, daß sie reich sei, und außerdem wollte ich die Gebühren für meine Anzeige sofort wieder raushaben.
Alex, mein Teilzeit-Partner bei gleicher Bezahlung, war bei Mrs. Savages Besuch am nächsten Nachmittag auch zugegen. Sie brachte Benjamins Schulphoto von Dalton, einer der elitärsten Privatschulen der Stadt, mit. Die Mutter sah ihrem Sohn sehr ähnlich, nur älter und weiblicher. Und, wie ich schon sagte, ihr Sohn hatte Pickel. Es war schwierig, mehr aus einem Klassenphoto herauszulesen als das. Jedenfalls war es alles, was ich jemals auf meinen Photos gesehen habe. Ich habe seit langem die Lebensphase der Pickel hinter mir gelassen, außer vielleicht einem oder zwei an bestimmten Tagen des Monats. Ich war mir hingegen sicher, daß Benjamin dieses Problem noch eine Weile mit sich herumschleppen würde.
»Also«, fing ich an und zog an meiner Zigarette, »was genau ist Benjamins Problem?« Ich betrachtete Mrs. Savage durch meinen Rauch, mit einem perfekten Augendeckelsenken auf eine verruchte Halbmastposition, Alex zerstörte meine dramatische Selbstinszenierung, indem er mit seinen Händen herumwedelte, um die Luft aufzuklaren, und laut hustete.
»Benjamin ist drogenabhängig.« Mrs. Savage kam eindeutig sofort zum Thema. »Ich habe diese Dinger in seinem Zimmer gefunden.« Sie steckte ihren Patagonia-jackengewandeten Arm in die Handtasche und holte etwas heraus, das aussah wie feuchte Petersilie. »In Ihrer Anzeige stand, daß Sie auf jugendliche spezialisiert sind, die Betäubungsmittel mißbrauchen«, sagte sie.
Alex schnaufte auf. Ich warf ihm Dolchblicke zu. Er hielt den Mund. Eigentlich stellt nämlich eine Anzeige diese Behauptung auf, die genau über meiner gedruckt ist. Ich hingegen bin auf untreue Ehemänner spezialisiert. Das mußte Mrs. Savage aber nicht wissen. Ich glaubte auch nicht, daß ich in diesem Fall außerhalb meiner Kompetenzen arbeiten würde. So wie das hier aussah, mißbrauchte dieses Kind etwas, womit normalerweise Schinkenplatten garniert werden.
Ich sagte: »Ich habe einige Erfahrung mit botanischen Rauschmitteln, Mrs. Savage, und das hier sieht wie eine seltene Züchtung von cannabis marijuanus aus.« Ich versuche immer, meine Kunden durch detektivische Fachsprache zu beeindrucken.
Mrs. Savage seufzte. »Es ist kein Hasch.«
»Dessen bin ich mir sehr wohl bewußt«, bluffte ich und versuchte, verlorenen Boden zurückzugewinnen. »Selbstverständlich kann das nicht cannabis marijuanus sein. Bei näherer Betrachtung« - ich hielt einen schlappen Stengel in die Höhe - »sieht es ganz entschieden aus wie diese seltene Züchtung aus der Ostmongolei, man nennt sie -«
»Khat«, sagte sie und sprach es Kott aus.
»Natürlich«, sagte ich. »Khat. Aus den nördlichen Gebieten der iberischen Halbinsel.«
»Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Chefin«, sagte Alex und klang viel zu höflich. »Ich glaube, Khat wird im Jemen und in den Ländern des nordafrikanischen Horns angebaut. Die somalischen Soldaten haben es letztes Jahr an die amerikanischen Truppen verkauft. Sie können ihre eigenen Leute verhungern lassen, ihr Land zerstören, und haben dabei trotzdem Zeit, Rauschgift in die USA zu exportieren.« Alex schüttelte voller Abscheu den Kopf, während Mrs. Savage ihre Zustimmung nickte. Wie konnte er es wagen, mehr über Drogen zu wissen als ich!
»Benjamin kauft es seit einiger Zeit von dem arabischen Lebensmittelhändler an der Ecke Columbus und Eighty-sixth Street«, sagte sie und würdigte mich keines Blickes. »Ich bin ihm eines Tages dahin gefolgt. Als ich danach in den Laden ging, um mich zu beschweren, sagte mir der Händler, es wäre in New York legal, Khat zu verkaufen. Ich habe die Polizei angerufen, und die hat mir erklärt, daß es das nicht ist. Also bin ich wieder in den Lebensmittelladen gegangen - der Mann, mit dem ich damals gesprochen hatte, war nicht da -, und ein anderer Mann sagte, er hätte noch nie in seinem Leben etwas von Khat gehört.« Alex...