Kapitel 1:
Die nackte Stadt
Ich stand auf der Brooklyn Heights Promenade und blickte auf die berühmte Skyline von Manhattan. Es war schwer, einer solch eindrucksvollen Aussicht zu widerstehen. Suchstrahler richteten sich vom Heliport des World Trade Center in den Himmel, als wären sie Rufsignale an Batman. Die leuchtenden Schlußlichter der Autos ließen den Verkehr, der über die Brooklyn Bridge strömte und dann auf den Franklin Delano Roosevelt Drive bog, wie riesige rote Schlangen aussehen. Zwischen den Masten der großen Schiffe, die am South Street Seaport festgemacht hatten, hingen weiße und gelbe Glühbirnen aufgereiht. Manhattan sah eher wie ein schwimmendes Volksfest aus als wie die Welthauptstadt des Verbrechens.
Das Geräusch von brechenden Wellen und Gelächter zog meine Aufmerksamkeit auf den Lustdampfer, der den East River hochtuckerte. An Deck tanzten betrunkene Ausflügler zu den Klängen einer Mariachigruppe. Über das Klingen der Gläser und die gekitzelten Gitarren hinweg hörte ich eine Frau schrill aufkreischen, die wohl gerade in den Hintern gekniffen worden war. Sie schien aber nicht ernsthaft etwas dagegen einwenden zu wollen. Nachdem das Schiff vorbeigedampft war, wandte ich mich wieder dem Pärchen zu, das ich gerade observierte. Die beiden hielten Händchen, lehnten sich über die Reling und zeigten wie dämliche Touristen auf das Chrysler Building und das Empire State. Die Luft war sexgeschwängert und voller Abgase vom Brooklyn Queens Expressway.
Ich gönnte mir eine herzhafte Nase voll und versteckte mich dann hinter einer dieser eulengesichtigen Fernglasmaschinen, die auch am Rand des Grand Canyon stehen. Meine traumhaften roten Locken hatte ich unter eine schwarze Baskenmütze gestopft, wodurch meine Ohren weit abstanden. Ich trug eine schwarze Jacke (leichter Stoff, mittlere Länge) und schwarze Kniestrümpfe, die ich bis zu den Oberschenkeln hochgezogen hatte. Sie reichten nicht ganz an die Unterkante meiner Bikershorts heran. Das schwarze Top hatte ich noch nie ohne BH getragen. Ich machte mir eine gedankliche Notiz, endlich die Kiste mit meiner Unterwäsche auszupacken. Eine Welle der Befangenheit überspülte mich, und ich zog die Jacke über meiner Brust zusammen. Dieses ganze Outfit war das Ergebnis meiner Unfähigkeit, Umzugskartons auszupacken. Aber ich hatte es ja auch darauf angelegt, nicht so auszusehen, wie ich sonst aussehe. Normalerweise würde ich mich nämlich nie dermaßen langweilig anziehen.
Ich steckte 25 Cents in den Eulenkopf und drehte den Sucher auf das Pärchen. Er trug Jeans und ein Marlboro-T-Shirt und sah aus, als wäre er hart im Nehmen und trotzdem sensibel. Nicht unbedingt ein Typ, der davon träumte, wie das Leben wohl auf der anderen Seite des Gesetzes aussehen könnte. Aber ich war davon überzeugt, daß er sich im Herzen doch einen Kern Unanständigkeit bewahrt hatte - zumindest wenn er sich in der Kiste befand. Er hatte langes rotes Haar, glitzernde grüne Augen, einen guten Knochenbau und große Muskeln. Und groß war er auch - habe ich schon erwähnt, daß er groß war? So attraktiv er auch sein mochte - seine Begleiterin war diejenige, die ich mir genauer ansehen wollte. Sie hatte die Figur einer Aerobiclehrerin, und daraus machte sie in ihren geblümten Leggings und einem orangefarbenen, tief ausgeschnittenen T-Shirt auch keinen Hehl. Ich bemerkte zufrieden, daß mein Busen erheblich größer war als ihrer. Mein Hintern allerdings auch. Eine übergroße Seelenfülle lag im Blick ihrer braunen Augen. Sie wollte eindeutig etwas. Einen Gefallen. Geld. Vielleicht auch Sex. Als vom Fluß eine Bö hochstieß, flatterten lange Strähnen gelben Haares wie ein Strohbesen über ihren Hals. Der Mann, mein Freund Max, sagte etwas, das sie zum Lachen brachte. Die Frau, Leeza, seine Exfreundin, bedeckte schüchtern ihren Mund mit einer Hand, als fürchtete sie, Mundgeruch zu haben.
Um nicht allzusehr aufzufallen, schaute ich mir den Rest der Promenade an. Ein anderes Pärchen saß etwas weiter entfernt auf einer Bank, rauchte und unterhielt sich angeregt, ohne Zweifel über ein politisches Thema. Kaum hatte ich den Rauch erspäht, wollte ich verzweifelt auch eine Zigarette haben. Ein paar Jogger sausten wie ein Streifen durch mein Blickfeld, und ich zwang mich, an Lungenkrebs zu denken. Ein alter, weißbärtiger Mann war über den Zaun des Gemeindespielplatzes geklettert. Er pinkelte in den Sandkasten und legte sich dann zu einem Nickerchen in die Rutsche. Ich wandte mich wieder Leeza zu, der Aerobicgöttin. Sie hatte mir mittlerweile den Rücken gekehrt.
Ich behielt Max' Gesicht weiter im Visier. Er schien sich nicht sehr wohl zu fühlen, was mich erleichterte. Leeza fing an, mit ihren Händen herumzuwedeln, voller Leidenschaft unterstrich sie irgendein Argument. Max versuchte, sie zu beruhigen und legte die Hände auf ihre Schultern. Sie nutzte sofort die Gelegenheit und warf die Arme um seinen Hals. Mein Herz sank auf die Höhe meiner Knöchel, als sich ihre Köpfe aufeinander zu bewegten. Ich hörte ein Klicken. Das Sichtfenster wurde schwarz. Und da stand ich nun und hatte ausgerechnet jetzt kein Kleingeld.
Ich linste über die Oberkante des Fernglasautomaten. Die beiden gingen los, und zwar geradewegs auf mich zu. Dabei hielten sie immer noch Händchen. Verdammt, fluchte ich. Jetzt hatte ich es doch verpaßt. Ich drehte mich zur Reling, um weniger aufzufallen. Sie schienen voneinander ziemlich in Anspruch genommen zu sein, so daß ich zwar wütend, aber zumindest auch in Sicherheit war. Als sie nur noch ein paar Meter von mir entfernt waren, beugte ich mich fast ganz über die Reling, so daß mein Kopf völlig im Schatten lag. Als ich mich umwandte, um zu sehen, ob sie schon vorüber waren, wehte mir der staubige Wirbel von einem Zwanzigtonner die Baskenmütze vom Kopf. Sie schwebte träumerisch auf die Schnellstraße hinab und wurde sofort plattgefahren.
Ich hatte sie eh nie gemocht. Meine duftigen roten Locken fielen auf meine Schultern. Aus mit dem Versteckspiel, dachte ich. Aber als ich einen Blick riskierte, sah ich, daß Max und seine Exschlampe nicht das Geringste bemerkt hatten.
Wenn sie sich geküßt hatten, dann mußte ich das unbedingtwissen. Mit Händchenhalten gab ich mich nicht zufrieden. Das stellte keine wirkliche Untreue dar. Ich wühlte in meiner Tasche nach meiner Ersatz-Baskenmütze. Ich nahm sie heraus und fummelte hastig herum, um sie richtig aufzusetzen. In einem plötzlichen Anfall von Selbstkritik fragte ich mich: >Was zum Teufel ist eigentlich dein Problem?< Die Antwort kannte ich schon, also zählte ich bis zehn - die beiden waren jetzt ungefähr fünfzehn Meter vor mir - und machte mich dann zu ihrer Verfolgung auf. Ich hoffte, Leeza hatte kein Auto.
»Hey, sind Sie nicht Wanda Mallory?« Die Stimme kam von hinten. Genervt sah ich mich um. Ich kannte den Typen nicht. Er trug ein verschwitztes rosa T-Shirt und blaue Joggingshorts, in denen sich vorne eine bananenförmige Wulst abzeichnete. Ich ignorierte ihn und ging weiter geradeaus.
Er lief hinter mir her, und diesmal brüllte er meinen Namen. »Warten Sie mal! Sie sind doch Wanda Mallory, ich hab Ihr Bild in der Zeitung gesehen! Warten Sie mal. Ich will doch nur ganz kurz mit Ihnen reden.«
»Halt's Maul, du Idiot«, zischte ich und zerrte die Baskenmütze tiefer über meinen Kopf.
Zu spät. Max hatte es gehört und blieb stocksteif stehen. Er drehte sich um und erkannte mich sofort. Sein Gesicht verfärbte sich rot vor Wut - was bei seinen Locken super aussah. Er griff die Aerobicbiene am Oberarm und zerrte sie die Promenade hinunter, aus meinem Blickfeld.
Ich wandte mich dem Jogger zu und sagte: »Herzlichen Dank. Du Idiot hast mich wahrscheinlich gerade um die große Liebe meines Lebens gebracht.«
»Ach je, das tut mir aber leid«, sagte er.
»Verpiß dich.« Scheißgekungel im Asphaltdschungel. Max und ich waren gerade vor zwei Tagen zusammengezogen. Wir wollten sehen, wie die Sache lief und dann entscheiden, ob wir uns verloben sollten. Aber das konnte ich jetzt wohl sowieso vergessen, er würde vermutlich nie wieder mit mir reden wollen. Leeza, seine ehemalige Freundin, war wegen irgendeinem Fitneßkongreß im Jacob Javits Center in New York. Sie hatte sich für heute abend mit ihm verabredet. Als sie anrief, um ihren Besuch in der Stadt anzukündigen, fragte mich Max, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn er sie zum Abendessen ausführte. Ich sagte nein. Und es ging mir auch okay damit, bis sie in unserer Wohnung auftauchte und genau wie der Typ Mädchen aussah, der zu einer Fitneßtagung fahren würde. Ich wußte, daß Max ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Das war Jahre her. Vier Jahre. Sie hatte nein gesagt. Sie trennten sich. Er erholte sich davon (so behauptet er jedenfalls). Ich glaubte ihm das nicht, zum Teil aus Verfolgungswahn, zum Teil weil er heute morgen unter der Dusche gesummt hatte. Dabei hatten wir eigentlich schon ausgemacht, heute ernsthaft die Wohnung in Ordnung zu bringen und uns gegenseitig bei ein paar Gläschen Tequila einen runterzuholen.
Also hatte ich beschlossen, den beiden zu folgen. Selbstverständlich wandte ich dabei die Fertigkeiten meines Handwerks (Detektei) auf meine eigene mißliche Lage an. Und wenn Max damit nicht zurechtkommt, kann er sich von jetzt an selbst einen runterholen.
Der Jogger tippte mir auf die Schulter. »Alles in Ordnung bei dir?« fragte er. »Du siehst aus, als war dir übel.« Ich grinste ihn höhnisch an. Ich brauchte jetzt einen Plan. Okay, ich würde ein paar Sachen in meine Handtasche werfen und bei Santina übernachten. Santina Epstein ist eine halbjüdische, halbitalienische Kosmetikerin, die früher einmal meine Vermieterin war und heute noch meine Ersatzmutter ist. Großartige Idee. Sie würde mir Nudeln kochen, mir...