Schweitzer Fachinformationen
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Jeder Mensch empfindet Stress, wenn er einer scheinbar bedrohlichen Situation gegenüber steht. Die Bedrohung kann dabei sehr vielschichtig sein, von einer kleinen Peinlichkeit bis hin zu einer ernsten Gefahr für Leib und Leben. Auf jede Art von Bedrohung reagiert das »Alarm- und Verteidigungssystem« (AVS). Hinter diesem Begriff verstecken sich eine ganze Reihe an teils hochkomplexen Mechanismen, die in unserem Körper ablaufen, damit dieser sich gegen alle möglichen Gefahren zur Wehr setzten kann. Die wesentlichen Funktionen des AVS teilt sich der Mensch mit allen Wirbeltieren und die Entwicklung geht mit der Menschheitsgeschichte seit Urzeiten einher. Viele der Mechanismen sind Überbleibsel aus der Jäger- und Sammlerzeit, aber auch heute hat das System lebenswichtige Bedeutung, auch wenn wir seltener in Situationen geraten, in denen unser Überleben davon abhängt, wie schnell wir rennen oder wie gut wir kämpfen können.
Einsatzkräfte sind häufig mit hochkritischen Situationen konfrontiert, in denen das Leben und die Gesundheit von Betroffenen und Patienten bedroht ist. Aber auch im »normalen Alltag« reagiert das Alarm- und Verteidigungssystem ständig, nämlich immer dann, wenn Stress aufkommt. Das beginnt meistens bereits mit dem Piepsen des Melders oder dem Dröhnen des Alarmgongs. Für jeden, der sich mit dem Thema der psychosoziale Notfallversorgung beschäftigt, ist es unerlässlich, mit den Grundfunktionen des AVS vertraut zu [12]sein. Auch Einsatzkräfte sollten wissen, was in ihrem Körper vorgeht, um auf belastende Einsätze richtig reagieren zu können. In diesem Buch sollen die einzelnen Vorgänge nicht bis ins letzte Detail beschrieben werden, stattdessen wird das AVS als einfaches und möglichst anschauliches Modell beschrieben und weitgehend auf anatomische Fachbegriffe verzichtet. Wichtiger ist es, die Reaktionen des Körpers auf belastende Situationen in groben Zügen zu verstehen, um Folgen und besonders auch Präventionsmaßnahmen nachvollziehen zu können. Für weitere Hintergrundinformationen seien dem interessierten Leser an dieser Stelle die Werke Hüther (2018) sowie Roth und Stüber (2018) empfohlen.
Im menschlichen Körper finden sich zwei größtenteils getrennt arbeitende Nervensysteme: das vegetative (autonome) Nervensystem und das somatische (willkürliche) Nervensystem. Das somatische Nervensystem ist für die bewusste Steuerung von Bewegungen und die bewusste Wahrnehmung von Reizen zuständig. Die Vorgänge des vegetativen Nervensystems hingegen lassen sich nicht bewusst steuern, es arbeitet autonom. Das vegetative Nervensystem steuert beispielsweise die Verdauung, den Blutdruck und die Herzfrequenz. Das AVS ist Teil dieses vegetativen Nervensystems, seine Reaktion lässt sich nicht bewusst steuern.
[13]Das vegetative Nervensystem:
Das vegetative Nervensystem besteht unter anderem aus den zwei Gegenspielern Sympathikus (»Sportnerv«) und Parasympathikus (»Ruhenerv«). Der Sympathikus stellt kurzfristig Energie bereit und ermöglicht dadurch körperliche Höchstleistungen, der Parasympathikus hingegen überwiegt während Ruhe- und Entspannungsphasen.
Sowohl der Sympathikus als auch der Parasympathikus spielen beim Umgang mit Extremereignissen eine bedeutende Rolle und werden im Verlauf des Kapitels noch vorgestellt.
Von unseren Sinnen werden jede Sekunde Millionen von Reizen aufgenommen oder im Inneren unseres Körpers registriert und an unser Gehirn weitergeleitet. Dort werden die eingehenden Informationen nach den folgenden Kriterien klassifiziert: gefährlich/ungefährlich, bekannt/unbekannt, relevant/irrelevant.
Die für das Individuum scheinbar irrelevanten Informationen erreichen gar nicht erst das eigentliche Bewusstsein, sie werden aussortiert. Die übrigen, als relevant eingestuften Informationen werden danach sortiert, ob sie eine Gefahr signalisieren könnten, also bedrohlich wirken, oder ungefährlich zu sein scheinen. Die scheinbar nicht bedrohlichen (aber dennoch relevanten) Informationen werden an die zuständigen Hirnareale weitergeleitet und dort entsprechend verarbeitet. Sie können unter anderem Handlungen, Gedanken und [14]Gefühle auslösen und treten teilweise ins eigentliche Bewusstsein ein.
Bei Reizen, die als bedrohlich eingestuft werden, wird das Alarm- und Verteidigungssystem aktiv. Das AVS reagiert bereits niederschwellig auf unerwartete Vorkommnisse und eine große Bandbreite an Ereignissen:
Existenzbedrohliche Rahmenbedingungen: Gefährdung des eigenen Hab und Gutes, beispielsweise Geld, Behausung oder Lebensort.
Gefährdung der Bindung an die Gruppe: Obwohl heutzutage der Ausschluss aus einer Gruppe als soziales Gefüge selten den sicheren Tod bedeutet, ist diese Angst menschheitsgeschichtlich durchaus nachvollziehbar. Die Angst ist breit gefächert und kann bereits bei Konflikten mit Familienangehörigen, Freunden, Kollegen und Nachbarn beginnen und reicht bis zum Verlust von Bezugspersonen. Aber auch die Bedrohung des Selbstbildes innerhalb einer Gruppe lässt sich in diese Kategorie einordnen. Dazu gehören peinliche Situationen, Blamagen und (scheinbarer) Gesichtsverlust, etwa durch erlebte Kritik. Aber auch der Verlust von Statussymbolen, deren Bedeutung über den reinen materiellen Wert hinaus geht, kann zum Erleben von Bedrohung führen.
Gefährdung der körperlichen Integrität: Hunger und Durst, Verletzung, Krankheit, Tod, (sexuelle) Gewalt.
[15]Die Gefahr muss dabei nicht einmal zwangsläufig das Individuum direkt betreffen. Häufig reicht es aus, wenn umstehende Personen bedroht sind, um eine Reaktion des AVS hervorzurufen. Das lässt sich nicht mit Mitgefühl erklären, sondern durch reinen Überlebenswillen: Eine Gefahr für andere könnte in Zukunft mich selbst betreffen oder meine Bezugsgruppe schwächen. Da das AVS unter Zeitdruck auf eine Gefahr reagieren muss, kann keine vollständige Lagebeurteilung durchgeführt werden. Deshalb reagiert das AVS auch auf Situationen, in denen keine reelle Gefahr besteht, sondern lediglich angenommen wird. Da dieselbe Situation von verschiedenen Menschen unterschiedlich eingeschätzt werden kann, können diese auch unterschiedlich reagieren.
Selbst der Gedanke an eine Bedrohung kann bereits eine Reaktion des AVS auslösen. Denkt man in einer ruhigen Situation beispielsweise an einen gravierenden Unfall, kann das zu Stressempfinden führen. Aber auch Reize, die eigentlich als neutral eingestuft werden, können durch Erinnerungen an belastende Einsätze Stressreaktionen auslösen. Dazu können beispielsweise bestimmte Gerüche oder Geräusche gehören. Das AVS wird also immer aktiv, wenn es eine Bedrohung wahrnimmt. Die folgende Tabelle gibt einen kleinen Überblick über mögliche Situationen:
Tabelle 1: Potenziell bedrohliche Situationen
Alltagssituationen
Geldsorgen, Konflikte, Prüfungen, Stress im Job, Probleme mit der Familie, neue und unerwartete Reize
Außergewöhnliche Belastungen
Mobbing, Verlust des Jobs, eigene schwere Krankheit Konfrontation mit Unglücken, Krankheit, Verletzung, Tod, soziales Elend
Extremereignisse
Unfall- oder Gewaltopfer sein, lebensbedrohliche Erkrankung, Eigenheimverlust durch Feuer, Miterleben von Großschadenlage, MANV, Naturkatastrophe, Amok- oder Terrorlagen
Wirklich beachtenswert ist, dass das Miterleben viele dieser Situationen für Einsatzkräfte einen normalen Arbeitsalltag darstellt. Die meisten werden täglich mit Unfall und Krankheit, Tod und sozialem Elend konfrontiert und erleben, zumindest gelegentlich, besondere Schadenlagen. Trotzdem reagiert ihr AVS auf all diese Bedrohungen in gewöhnlichem Ausmaß. Das Problem hierbei ist, dass das AVS als Notfallprogramm ausgelegt ist. Wenn es zu häufig aktiv ist und dazwischen zu wenige Ruhephasen hat, kann das zu schwerwiegenden psychischen und körperlichen Folgen führen. Auf diese Problematik wird in den nächsten Kapiteln noch verstärkt eingegangen (Hüther 2018, Roth und Strüber 2018).
Das Alarm- und Verteidigungssystem reagiert also auf eine ganze Reihe von möglichen Bedrohungen. Doch was passiert, wenn es eine Situation als gefährlich eingestuft hat? Das AVS wird auch als »neuroendokrine Stressantwort« bezeichnet. Es bedient sich also des Nerven- und Hormonsystem des Körpers und sendet Stresssignale als Reaktion auf eine mögliche Bedrohung hin aus. Diese Signalstoffe (beispielsweise das Hormon Noradrenalin) verstärken den Sympathikus (»Sport-/Kampfnerv«) als Teil des vegetativen (unwillkürlichen) Nervensystems. Dadurch wird verschiedenen kampf- und fluchtwichtigen Regionen des Körpers verstärkt Energie bereitgestellt und die Aufmerksamkeit fokussiert sich auf die Quelle der potenziellen Gefahr. Die wichtigsten Reaktionen des Sympathikus sind in der folgenden Tabelle dargestellt:
Tabelle 2: Sympathikus [zurück]
Sympathikus (»Sportnerv«)
Körperregion
Wirkung
Nutzen
Herz
Herzfrequenz und...
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