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Lisa schob den schweren, dunkelgrauen Fenstervorhang beiseite, und ihr Blick fiel auf die Morgensonne, die hinter der Kuppel der Ruhmeshalle in leuchtendem Orange am Himmel emporstieg. Selbst aus der Ferne wirkte der strahlend weiße Bau gigantisch. Stand man direkt davor, fühlte man sich winzig. So jedenfalls erging es Lisa. Seit sie dem Vorbereitungskomitee für die Olympischen Spiele angehörte, dessen Büro sich im Propagandaministerium schräg links neben dem riesigen Kuppelbau befand, war sie täglich in seinem Schatten tätig. Gerade fragte sie sich, ob das Gebäude so monumental war, damit ein möglichst großer Teil des Volkes wichtigen Veranstaltungen beiwohnen konnte, oder ob es nicht eher darum ging, dass jeder Einzelne sich darin klein und unbedeutend vorkam. Nur ein Rädchen in der Maschine, ein verschwindend geringer Teil des Großgermanischen Reichs. Wichtig für die Funktion des Ganzen, aber im Grunde austauschbar.
Sie riss sich von dem Anblick los und eilte Richtung Badezimmer, um rechtzeitig zum Frühstück zu erscheinen. Im Hause Goebbels wurde Wert auf Pünktlichkeit und gemeinsame Mahlzeiten gelegt, wie in allen deutschen Familien, die etwas auf sich hielten.
Die Tür zum Bad, das sie sich mit ihrer jüngeren Schwester Hedwig teilte und das ihre beiden Zimmer miteinander verband, ließ sich nicht öffnen.
»Hedda, wieso hast du schon wieder abgeschlossen? Mach auf, sonst komme ich zu spät zum Frühstück«, rief Lisa genervt, während sie energisch gegen die massive Tür aus weiß lackiertem Eichenholz klopfte.
»In diesem Haus hat man aber auch nie seine Privatsphäre!«, fauchte Hedwig zurück. »Steh halt eher auf.«
»Steh selbst eher auf, wenn du so viel Wert darauf legst, das Bad für dich allein zu haben. Es ist ebenso meins wie deins.«
»Das heißt aber nicht, dass wir uns gleichzeitig darin aufhalten müssen.«
Einige Sekunden später hörte Lisa dennoch, wie der Schlüssel in der Tür gedreht wurde. Sie wusste genau, dass das »Nesthäkchen«, das als jüngste der drei Schwestern inzwischen auch schon einundzwanzig Jahre alt war, die Tür nur geöffnet hatte, um Ärger mit den Eltern zu vermeiden. Wenn sie nicht in exakt fünfzehn Minuten zum Frühstück erscheinen müssten, hätte Hedda sie aus Gehässigkeit extra lange vor der Tür ausharren lassen.
Eine Weile verrichteten die ungleichen Schwestern schweigend ihre Morgentoilette, da keine von ihnen vor dem Frühstück zu Gesprächen aufgelegt war und sie sich ohnehin wenig zu sagen hatten. Nebeneinander standen sie vor den beiden Waschbecken, die wie der Rest der sanitären Einrichtung aus weißer Keramik waren, was den funktional ausgestatteten Raum steril wirken ließ.
Hedda, die durch ihr breites Kreuz und ihren athletischen Körper gedrungen wirkte, trug schlichte Baumwollunterwäsche und flocht ihre langen goldblonden Haare gerade zu einem französischen Zopf, was ihr mit erstaunlicher Schnelligkeit und Präzision gelang. Lisa war in dieser Hinsicht ein hoffnungsloser Fall. Solange ihre ältere Schwester Ditha zu Hause gewohnt hatte, hatte diese ihr häufig geholfen und ihr hellbraunes Haar zu wunderschönen Frisuren geflochten. Doch seit sie auf sich allein gestellt war, begnügte Lisa sich zumeist mit zwei einfachen Zöpfen, die ihr links und rechts der Schultern fast bis zur Hüfte reichten und sie jünger wirken ließen als ihre vierundzwanzig Jahre.
Wie so oft betrachtete sie ihr Haar voller Missmut und fragte sich, warum sie als Einzige ihrer Familie nicht blond war. Zumindest hatte sie die vom Reich gewünschten blauen Augen, wenngleich diese so dunkel wie der Nachthimmel oder so abgründig wie das Meer an einem stürmischen Tag waren, wie ihr Vater gern zu sagen pflegte.
Einige Minuten nach Hedda verließ Lisa das Badezimmer und zog rasch ein schlichtes veilchenblaues Kleid über, das ihr eine Handbreit über die Knie reichte. Die von ihr bevorzugten Hosen konnte sie nur in ihrer Freizeit tragen. Für die Arbeit waren sie zu ihrem Leidwesen unpassend, da auf ein weibliches Erscheinungsbild Wert gelegt wurde.
Etwa drei Minuten zu spät hastete sie die Treppe hinunter ins Esszimmer und setzte sich auf ihren Platz. Über den gedeckten Tisch hinweg warf die Mutter ihr einen missbilligenden Blick aus kornblumenblauen Augen zu, bevor sie »Guten Morgen, Elisabeth« erwiderte. Wie stets war sie schon zum Frühstück tadellos zurechtgemacht. Ihr hellblondes Haar hatte sie in sanfte Wellen gelegt, die ihr rundliches Gesicht umspielten, dezente Schminke betonte die Farbe ihrer Augen.
»Guten Morgen, Lieschen, wie immer die Letzte«, begrüßte der Vater Lisa mit einem milden Lächeln und blickte durch die runden Gläser seiner Hornbrille von seiner Zeitung zu ihr auf, wofür sie ihm sogar den verhassten Spitznamen verzieh. Niemand außer ihm durfte sie so nennen, ohne ihren Zorn auf sich zu ziehen. Ihren richtigen Namen Elisabeth fand sie schon schlimm, weshalb ihre Freunde sie stets Lisa nannten, aber Lieschen klang in ihren Ohren wie ein Gartenunkraut.
»Wie sehen eure Pläne für den Tag aus?«, erkundigte der Vater sich anschließend und nickte Lisa aufmunternd zu.
»Ich werde versuchen, auch heute keinen Patienten umzubringen. Wie können die erwarten, dass man nach knapp drei Monaten die ganzen Medikationen beherrscht?«, fragte Hedda sogleich theatralisch, woraufhin Lisa unwillkürlich die Augen verdrehte. Der Drang ihrer Schwester zur Selbstdarstellung ging ihr gehörig auf die Nerven. In der Charité erwarteten sie von einer freiwilligen Helferin im sozialen Reichsdienst wohl kaum Wunder.
»Es ist wirklich eine Frechheit, ungelernten Kräften so viel Verantwortung zu übertragen, nicht wahr, Hubert?«, unterstützte die Mutter das Nesthäkchen prompt. Ohne eine Antwort ihres Mannes abzuwarten, die erfahrungsgemäß ohnehin nicht erfolgen würde, fuhr sie fort: »Wenn es dir zu viel wird, frag einfach den netten Oberarzt, von dem du so oft erzählst, um Rat.«
»Vielleicht mache ich das. Aber die biestige Oberschwester hat mich schon mehrfach ermahnt, die Ärzte nicht von der Arbeit abzuhalten. Müsste ich ja auch nicht, wenn sie selbst hilfsbereiter wäre«, beschwerte Hedda sich weiter.
»Und was erwartet dich heute, Lisa?«, wandte Familienoberhaupt Hubert Goebbels sich direkt an sie, um die ewig gleiche Litanei seiner Jüngsten zu unterbrechen.
»Ein Berg von Arbeit. Die Vorbereitungen für die Reise sollten längst abgeschlossen sein, doch Stabschef Speer hat gestern angeordnet, das Vorsingen der Anwärter aus England und Schottland jetzt öffentlich vor Publikum abzuhalten, statt wie ursprünglich geplant nur vor dem Komitee.«
»Das bedeutet, dass ihr neue Räumlichkeiten braucht, und die Reise findet bereits in fünf Tagen statt«, entgegnete der Vater mit einem kaum merklichen Stirnrunzeln und musterte Lisa mit einem fragenden Blick.
»Ganz genau. Und er hat Ava und mich dafür abgestellt, passende Orte zu buchen.«
»Das ist eine große Verantwortung für zwei junge Frauen. Noch dazu in der kurzen Zeit«, ließ der Vater sein Missfallen an Speers Vorgehen durchblicken. Um auszuschließen, dass der Vater hinter ihrem Rücken einschreiten würde, entgegnete Lisa scheinbar leichthin:
»Ach, wir schaffen das schon. Immerhin haben wir eine uneingeschränkte Kommunikationsfreigabe bekommen und dürfen sogar das digitale Informationsnetz für Recherchen und Anfragen nutzen.«
Insgeheim war sie sich allerdings sicher, dass ihr Vorgesetzter den Plan schon vor einer Weile geschmiedet und sie mit voller Absicht erst so spät davon in Kenntnis gesetzt hatte. Seit sie und ihre beste Freundin Ava in Speers Abteilung arbeiteten, ließ er sie seine Abneigung deutlich spüren, denn es missfiel ihm, dass sie die Stellung den Beziehungen von Lisas Vater verdankten. Als leitender Angestellter im Handelsministerium und direkter Nachfahre des engen Hitler-Vertrauten Joseph Goebbels hatte er weitreichende Kontakte und einen gewissen Einfluss, den Speer ihm neidete.
»Das ist meine Tochter«, entgegnete Hubert Goebbels mit Stolz in der Stimme und warf Lisa einen anerkennenden Blick zu. Der entging nicht, dass Hedda daraufhin die Hände unter dem Tisch zusammenballte.
»Wenn wir uns nicht langsam beeilen, verpassen wir die Bahn und kommen zu spät«, unterbrach ihre Schwester auch prompt die Unterhaltung, obwohl noch reichlich Zeit war.
Kurz darauf verließen die Schwestern gemeinsam das Haus und liefen zur Haltestelle der Schnellbahn. Lisa stieg einige Stationen vor Hedda aus, hatte aber noch gut zwei Kilometer bis zum Ziel zurückzulegen, da keine Bahn bis zum Großen Platz fuhr. Schon zu Hitlers Zeiten war das ganze Gebiet rund um die wichtigsten Regierungsgebäude aus Sicherheitsgründen zu einer verkehrsfreien Zone erklärt worden. Nur Fahrzeuge mit Sondergenehmigung durften sie seitdem passieren. An der Haltestelle Siegesallee, der letzten Station aus ihrer Richtung, begann die breite, von Eichen gesäumte Prachtstraße, die vom Südbahnhof durch den monumentalen Triumphbogen bis zum Großen Platz und dahinter weiter bis zum Nordbahnhof verlief. Im Zentrum des Platzes erhob sich majestätisch die Ruhmeshalle.
Lisa wählte wie gewöhnlich die mittlere Spur der glasüberdachten Laufbänder, die sich über den Großen Platz erstreckten, um die großen Entfernungen zu Fuß möglichst schnell zurücklegen zu können. Sie passte ihre Laufgeschwindigkeit ihrem Vordermann an und ging in Gedanken bereits ihren Tagesplan durch. Vertieft, wie sie war, hatte sie weder einen Blick für die Prachtstraße und die prestigeträchtigen Gebäude entlang des Weges übrig noch für die Urlaubsreisenden, die sich auf der rechten Spur gemächlich vorwärtstransportieren ließen und alles, was sie sahen, erstaunt kommentierten und fotografierten....
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