Schweitzer Fachinformationen
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Quellwolken hingen über der Elbe und färbten das Wasser aschfahl, beinahe schwarz. Aus der Ferne rollte Donner heran, gegen den die Graugänse am Ufer anschrien. Ohne die Flut wäre die Luft drückend gewesen. Doch die sich kräuselnden Wellen spülten einen Hauch von Nordseeweite bis hin zur Elbinsel Hanskalbsand.
Wir saßen im furchendurchzogenen Watt, vergruben die Füße und die Hände darin und schauten auf den Fluss hinaus. Nicht weit von uns wartete die Sturmhöhe, unser blaugrünes Holzboot mit dem kleinen alten Motor am Heck, den zwei schmalen Sitzbrettern in der Mitte und der abblätternden Farbe an den Seitenwänden. Damit man es vom Festland aus nicht sah, hatten wir es tief ins Ufergras gelenkt, dorthin, wo die Bäume ihre dunkelgrünen Blätter über die wogenden Schilfrispen senkten.
Hanskalbsand mit seinen Büschen, Auwäldern und dem kleinen Binnensee stand unter Naturschutz, und das war gut so. Niemand sollte auf der Insel seinen Müll hinterlassen, das Schilf zertreten oder laut lachend die Dunkelwasserläufer verscheuchen. Niemand durfte hier sein - nur für uns galt das nicht. Schließlich waren wir selbst so etwas wie Dunkelwasserläufer. Wie Graugänse. Wir hinterließen keine Spuren, und wir machten kein Geräusch, wenn wir das nicht wollten. Meine grün-schwarz gefärbten Haare verschmolzen mit dem Ufergras, und die braun gebrannte Haut meiner Zwillingsschwester schien eins zu sein mit dem feuchten Flusssand.
Wir waren die Elbmädchen, wir waren siebzehn Jahre alt, und morgen war es endlich so weit.
»Jetzt sind es noch genau sechzehn Stunden«, sagte Jale, und in meinem Magen schlug die Vorfreude kleine Wellen.
»Noch sechzehn Stunden.« Ich reckte mich und schaute über das Wasser, hinüber nach Hahnöfersand. Auf die grünen weiten Wiesen, die aneinandergereihten Bäume, die Felder, die sich seit Jahren kaum verändert hatten.
Schon als Kinder hatten wir hier gesessen, zu dieser anderen Insel hinübergesehen und viel höhere Zahlen genannt. »Es sind noch achthundertsechsundzwanzig Tage, sechs Stunden und dreiundzwanzig Minuten«, sagten wir zum Beispiel und lauschten dem Rauschen der Wellen, die unsere Zahlen bei Flut nach Hamburg und bei Ebbe hinaus aufs Meer trugen. Hauptsache fort, dachten wir, Hauptsache weit weg, damit sie endlich schrumpfen und vom Wind verwirbelt werden würden.
Seit zwölf Jahren kamen wir nach Hanskalbsand, um die Tage zu zählen. Beim ersten Mal waren wir gerade fünf Jahre alt geworden, und Oma Ehmi hatte uns mit dem Boot hergefahren. Ein denkwürdiger Tag. Großmutter hatte uns nur selten zu Ausflügen mitgenommen. Seitdem ich denken konnte, sprach sie wenig mit uns - oder mit irgendjemandem sonst. Wenn Oma nicht gerade an der Universität war, versank sie in ihrem Ohrensessel neben dem überquellenden Bücherregal, um Zeitungen, Magazine oder staubige Bücher zu lesen. Nicht selten schlief sie darüber ein, und die Lesebrille rutschte ihr von der Nase.
Wenn es draußen warm genug war, saß sie rauchend im Garten. Er war schmal und wild. Die Hecken links und rechts ragten so hoch auf, dass seit Jahren kein Nachbar mehr darüberschauen konnte. Der alte Birnbaum hatte ausgetrieben, der Rasen war zu Gestrüpp geworden, meterhohe Sonnenblumen standen inmitten von Brennnesseln, dahinter wucherte der Giersch, und einzig der grellgelbe Löwenzahn konnte sich gegen ihn behaupten. Der Garten grenzte direkt an den Deich. Nur ein hölzerner Zaun und ein morsches Tor trennten uns von den Spaziergängern, die manchmal über die Deichkrone schlenderten und auf unser ungepflegtes Grundstück glotzten. Die Rosen, die einst sorgsam um den Torbogen gebunden worden waren, hatten sich losgemacht, waren hoch hinausgewachsen und streckten sich leuchtend dem Himmel entgegen. Dahinter türmte sich der Deich auf. Nur aus der Dachkammer konnte man über seine Krone und auf die Lühe schauen, die dahinter verlief - ein schmaler Zufluss der Elbe.
Oma Ehmi saß stets am Fuß des Deichs inmitten ihres Unkrauts in ihrem Klappstuhl und starrte auf diese grüne Wand. Sie drehte sich eine Zigarette nach der anderen und schwieg. Manchmal glaubten wir, sie sei vielleicht doch schwerhörig, so wenig reagierte sie auf uns. Auf ihre Art und Weise kümmerte sich Ehmi zwar schon um uns: Sie füllte den Kühlschrank, heizte das Haus, und wenn wir keine Lust hatten, in die Schule zu gehen, schrieb sie uns eine Entschuldigung. Sie war nie grob zu uns. Sie schrie uns nicht an, sie schimpfte uns nicht aus, sie wies uns nicht zurecht. Doch sie lächelte und lachte auch nicht. Überhaupt hörte sie uns kaum zu. Manchmal war es, als wäre sie gar nicht da, als käme abends nur eine leere Hülle aus dem Vorlesungssaal zurück, und wir würden ganz allein in dem altersschiefen Fachwerkhaus mit dem sonnengebleichten Reetdach wohnen. Zu zweit spielten wir in unseren Kinderzimmern, auf dem knarrenden Dachboden oder in der alten Gartenhütte. Bald machten wir Ausflüge und erkundeten die Ufer der Lühe, an denen sich Apfelbäume über den Fluss beugten und all die morschen Stege von längst vergangenen Zeiten erzählten, in denen man die Obsternte noch mit Ewern vom Alten Land zum Hamburger Markt gebracht hatte. Wir beobachteten, wie in den dichten Büschen, Gräsern und Kirschbäumen die Blüten explodierten. Wie sie sich Wochen später lösten und vom Wind herumgewirbelt wurden, bis sie hinabsanken und auf den Wellen tanzten. Bei Flut stieg die Lühe an, bei Ebbe sank sie ab. Wenn kaum noch Wasser im Flussbett war, kletterten wir hinunter, tauchten unsere Füße in den weichen, nassen Schlick und atmeten den Geruch von Erde, Sand und Algen ein. Sobald das Wasser sprudelnd zurückkehrte, beobachteten wir die kleinen Fische, die zwischen unseren Füßen glitzerten.
Hin und wieder gingen wir auch zu den Spielplätzen an der Elbe, die wir langweilig fanden. Wir rutschten und schaukelten nicht, sondern sahen hinaus auf diesen unfassbar breiten Fluss. Größer konnte nicht einmal das Meer sein, dachten wir. Anfangs betrachteten wir all die Inseln, Buchten und Sandbänke nur aus der Ferne. Doch dann drangen wir langsam immer tiefer in die Marsch vor. Dorthin, wo die Wasserläufer durch die Pfützen sprangen und die kleinen schwarzen Feuerkröten mit ihren roten Tupfern so unheimlich klangen wie kaputte Xylophone.
Wenn wir nach Hause zurückkehrten, saß Oma noch immer im Garten, obwohl es längst kalt geworden war. In der Dämmerung sahen wir das Glühen ihrer Zigarette und das glänzende Weiß ihrer Augen. Wir wussten nicht, warum Ehmi inmitten ihrer Wildnis ausharrte oder wohin sie starrte.
Nur einmal, an jenem denkwürdigen Tag, an dem wir fünf Jahre alt wurden, öffnete Ehmi das klapprige Tor, winkte uns hinter sich her und stieg mit uns über den Deich. Auf der anderen Seite führten verwitterte Steintreppen bis zum Wasser hinunter, und dahinter lag ein alter schmaler Holzsteg, an dem ein Boot festgemacht war.
»Das ist die Sturmhöhe. Wenn ihr alt genug seid, um damit zu fahren, gehört sie euch. Heute machen wir eine Bootsfahrt.« So viele Sätze am Stück hatte sie lang nicht mehr gesprochen. Und dann schaukelten wir zum ersten Mal mit Ehmi auf den Wellen der Lühe. So schön wie an diesem Tag hatte der Fluss nie zuvor ausgesehen, fanden wir. Bäume ragten schief und leuchtend aus dem Wasser, streckten ihre Äste hoch über unsere Köpfe und bildeten ein tiefgrünes Blätterdach. Lichtpunkte tanzten auf den Wellen. Leise summten die Mücken im Gestrüpp am Ufer. Bald öffnete sich die Landschaft vor uns, wir sahen Radfahrer auf der Deichkrone vorbeiziehen und Vögel auf weiten Feldern landen.
Doch all das war nichts im Vergleich zu dem Anblick, der sich uns hinter dem Sperrwerk bot - die Elbe. Wir hatten sie schon häufig gesehen, vom Wasser aus kam sie uns allerdings noch gewaltiger vor. Sie war so blaugrün wie unser Holzboot und so undurchschaubar wie ein Gewitterhimmel. Ein Katamaran zog vorbei, und in der Ferne blitzte ein Containerschiff. Es dauerte nicht lang, bis die Flut uns nach Hanskalbsand mit seinen flachen Stränden gebracht hatte.
»Seht ihr das?«, fragte Ehmi, sobald wir das Boot auf die Insel gezogen hatten. Wir versuchten zu erkennen, worauf der krumme Zeigefinger unserer Oma deutete.
»Dort ist ebenfalls eine Insel. Sie heißt Hahnöfersand.«
»Das ist ja spannend, Oma«, sagte Jale mit einem dankbaren Lächeln. Ich glaube, für meine Schwester war es einer der schönsten Tage, die sie je erlebt hatte. Schließlich redete Oma mit uns. Sie sagte ganze Sätze, ohne dass wir darum betteln mussten.
»Oma?«, fragte ich leise. Im Gegensatz zu Jale traute ich Omas Stimmung nicht. »Warum erzählst du das?«
Meine Haare waren noch genauso dunkelblond wie die meiner Schwester, doch schon damals war ich aufmüpfiger als sie. Ich war zwei Minuten älter, zwei Minuten mutiger, zwei Minuten misstrauischer. Während der Altersunterschied bei anderen Geschwistern mit den Jahren immer unwichtiger wurde, schien es bei Jale und mir umgekehrt zu sein. Je häufiger wir von den Nachbarskindern gehänselt oder von deren Eltern verjagt wurden und je tiefer wir in die Elbmarsch vordrangen, desto forscher wurde ich, während Jale immer zurückhaltender zu werden schien. Schon früh waren wir wie Ebbe und Flut. Jale wusste immer, wann wir uns zurückziehen, wann wir leise, still und ruhig sein sollten. Ich hingegen konnte gut vorpreschen, genau den richtigen Moment abpassen, um einen Frosch zu fangen, einen Fintenschwarm zu beobachten oder mit Anlauf ins Flussbett der Lühe zu springen, sobald sie ihren Tiefstand erreicht hatte.
»Warum hast du uns hergebracht,...
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