Schweitzer Fachinformationen
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Vor Wintloh brannte es. Juri sah es von der Wümmebrücke aus: ein satter, glühender Schein, den ein gewaltiges Feuer durch den Waldstreifen in die Nacht und bis hinaus auf die Straße drückte.
Schlagartig war er hellwach. Er setzte sich gerader hin und nahm den Fuß vom Gas, obwohl er ohnehin nicht raste. Nicht mehr. Nicht hier. Sein Magen ballte sich zusammen, sein Herz schlug schnell und hart. Dabei wusste er bereits, was dort brannte. Dass es nicht bloß ein Autowrack sein konnte, lodernd um eine der alten Eichen am Straßenrand gewickelt, kein in splittrigen Einzelteilen über die Kreuzung verstreutes Motorrad, der Fahrer unter einer schimmernden, flatternden Rettungsdecke verborgen, die sein Helm grotesk wölbte.
Das Feuer wuchs. Zu Juris Linken lichtete sich der Wald, bis der erste gelbe Schein schließlich das Auto erreichte, sich auf seine vernarbte Hand, sein Gesicht legte. Er hielt an der leeren, hell beschienenen Kreuzung. Seine Finger zitterten, als er nach dem Silberkreuz um seinen Hals tastete.
Erst vor einer halben Stunde hatte er von seiner Arbeit aufgesehen und festgestellt, dass der kleine Supermarkt in Wintloh längst Ladenschluss hatte, weswegen er zum Einkaufen die fünf Kilometer in die nächste Kleinstadt gefahren war. Da hatte drüben im Spaßpark nicht einmal eine Taschenlampe geblinkt.
Jetzt brannte der alte Vergnügungspark wie eine Fackel. Das Verwaltungsgebäude war ein Feuerball. Der Vorplatz mit seinen Häuschen und Buden flackerte, der Waldrand, an den sich der Park schmiegte, leuchtete. Die Buckel der alten Teppichrutsche zuckten und zitterten. Am Nachthimmel fächerte sich der Rauch zu einer gigantischen gelbgrauen Wolke auf. Juris Wagen warf einen unruhigen, endlosen Schatten von der Straße zurück in die Dunkelheit des Waldes. Im Rückspiegel erlosch ein letztes Paar Lichter in der Kurve nach Scheeßel. Über den von herbstkahlen, nassen Feldern bedeckten Hügel, hinter dem die Bundesstraße außer Sicht führte, kam ihm niemand entgegen. Rechts blieb die Landstraße nach Wintloh dunkel.
Er saß einen Moment nur da, den Blick stumm aus dem Fenster gerichtet, eine Hand verschwitzt am Lenkrad, die andere geistesabwesend das Silberkreuz in den Fingern drehend. Die verformte Gewehrkugel, die an einer Öse aufgefädelt an derselben Kette hing, lag im Schatten seiner Hand.
Er konnte den nachgemachten Generalschlüssel für das Parkgelände ignorieren, der in seiner Tasche steckte, und nach rechts abbiegen, nach Wintloh. Er würde sich statt der ständigen Instantramen einen Salat mit Thunfisch machen und zur Abwechslung fernsehen, statt durch die Blogs irgendwelcher Spinner zu scrollen oder wieder Teile der Wand umzuhängen, und heute schon das Sofa für Sabrina beziehen.
Aber er hatte den Großbrand, für den die Feuerwehr seit Jahren nicht mehr ausrückte, noch nie mit eigenen Augen gesehen. Er nahm die Hand vom Kreuz, setzte den Blinker und bog nach links ab, zum Park.
Er musste langsam fahren. Die Straße war in den Sechzigern das letzte Mal geteert worden, und irgendwann hatte man aufgegeben, die Schlaglöcher mit Rollsplitt aufzufüllen. Sie standen von Herbst bis Frühling voll Regenwasser und Schlamm. Der Wagen schaukelte. Am Ende der Auffahrt und des leeren Parkplatzes schwankte das Willkommensschild des Parks im Feuerschein. Juri hörte den Brand jetzt: ein die Nacht füllendes Rauschen, fast ein Brausen.
Für ein paar Sekunden erlaubte er sich die Vorstellung, dass er gerade tatsächlich zusah, wie der Park abbrannte. Dass ihm jemand zuvorgekommen war. Von dem Gedanken wurde ihm übel.
»?????«, knurrte er. Es kam fremd heraus, krächzend im Hals, und ihm ging auf, dass er heute noch kein Wort gesprochen hatte, auch eben im Supermarkt nicht, wo die jugendliche Kassiererin voll angespanntem Misstrauen seine ohne sein Zutun zitternden Hände angestarrt hatte, sein trotz der Herbstkälte verschwitztes Gesicht. Immerhin die Narbe konnte er dank der anhaltenden Maskenpflicht verstecken.
Juri parkte im langen, zuckenden Schatten des Tickethäuschens. Von der Plakatwand grinste Aui, das Maskottchen des Spaßparks, auf ihn hinab: eine fröhlich winkende, in einem roten T-Shirt steckende Comicversion eines Auerochsen, die seit der ersten Saison Eintrittskarten und Lagepläne, Wegweiser und Mülleimer, Schlüsselanhänger, Kühlschrankmagnete und Postkarten zierte. Das Cartoongesicht mit den langen Hörnern und der albernen Haartolle waberte und wand sich in der Hitze, als ob das Maskottchen jeden Moment zu dreidimensionalem Leben erwachen und zu Juri hinabsteigen wollte.
Er wühlte die neuen Batterien zwischen seinen Einkäufen hervor, fütterte seine treue Maglite damit und testete sie im Fußraum. Sie leuchtete satt und stark. Er schob sie in den Gürtel und zögerte zum Handschuhfach gebeugt, wo er das Messer aufbewahrte, eine feststehende Klinge, groß und gefährlich genug, dass ein übereifriger Bulle nachmessen würde, ob er sie überhaupt legal mitfuhren durfte. Max hatte er das Ding lieber nicht gezeigt.
Aber ganz abgesehen vom Zittern seiner Finger blieb ihm mit dem Gehstock keine freie Hand. Im Sommer war er Tage am Stück ohne das Ding ausgekommen, sogar als er die Aktenkartons ausgeladen und ins Haus geschleppt hatte. Jetzt brauchte er den Stock ständig. Er kam nicht mehr genug raus, hatte seine Übungen vernachlässigt, und das schlechte Wetter ging ihm ins Bein wie einem alten Kriegsversehrten, nur dass er nicht mal verdammte dreißig war und aus keinem Krieg kam.
Juri stieg in nach Qualm und angerissenen Streichhölzern riechende Luft aus. Das Brausen, das er im Auto gehört hatte, wurde zu einem Tosen. Er trat aus dem Schatten des Tickethäuschens und hinkte, die Augen schmal gegen die Helligkeit, zum Eingang, fischte den Schlüsselbund aus der Jacke und schloss das ins Haupttor eingelassene Drehkreuz auf, durch das zu den Öffnungszeiten die Besucher den Park betreten hatten. Juri hatte es zum kurzen Saisonstart im März noch selbst geölt, aber wie üblich drehte es sich erst nach einem Schulterstoß weit genug, um ihn einzulassen, auf den mit nassem Laub zugewehten, im Feuerschein glänzenden Vorplatz.
Seine Augen tränten immer heftiger. Den letzten Schatten hier draußen warf die Statue des Park-Maskottchens, eine drei Meter hoch aufragende Monstrosität aus lackiertem Kunststoff, die seit dem fünfjährigen Parkjubiläum aus ihrer Blumeninsel heraus die Gäste begrüßte. Ihre Farbe verflüssigte sich in der Hitze und tropfte ins tote Beet.
Der leere Souvenirshop, die Toiletten, die Infotafeln, die wie Aui geformten Mülleimer, denen man den Abfall in den offenen Bauch werfen konnte, der Kiosk am Spielplatz, aus dem Juris Mutter drei Jahre lang Popcorn, Eis und Hotdogs verkauft hatte und der seit Saisonabbruch hinter herabgelassenen Rollos lag: Alles war, von Auis wegschmelzendem Grinsen abgesehen, vom Feuer unberührt, das lodernd die Parkverwaltung verschlang. Das gedrungene zweistöckige Gebäude mit seinen Büros und dem Lager und einem Teamraum mit Umkleide und Küche, in dem Juri oft gestanden und Instantkaffee gekocht hatte, glühte kurz vorm Einsturz. Alle Fensterscheiben waren geplatzt, die Tür weggebrannt, Mauern und Dachstuhl im gleißenden Feuer kaum noch auszumachen.
Juri ging nicht näher heran. Er war zu stark geblendet. Er stand auf seinen Stock gestützt da und dachte an das Osterfeuer damals, an den meterhohen brennenden Berg Totholz, in dem auch der verdorrte Neujahrsbaum verging, den Dascha und er mit dem Auto hingebracht hatten, und an die Hitzewellen, die über den Festplatz rollten und so gewaltig waren, dass den neunjährigen Juri keine pickligen Jugendlichen der Freiwilligen Feuerwehr Wintloh vom Kokeln hatten abhalten müssen.
Wie über so viele der großen und kleinen Katastrophen rund um Wintloh hatte Juri auch über das Osterfeuer im April 2002 eine Zeitungsmeldung gefunden: Klagen über Augenschmerzen und empfindliche Hautrötungen, sogar über in der Hitze angeschmolzene Polyesterjacken. Er erinnerte sich daran, dass er selbst in dieser Nacht nur im T-Shirt herumgelaufen war. Dass er mit nackten Armen zwischen Sabrina und Lando gesessen hatte, über den Knochen im Wald.
Jetzt war die Luft, die hätte flirren sollen, kühl vom nahenden Oktober und das bisschen, das Juri in seiner schweren Herbstjacke schwitzte, kam bloß vom Entzug, und der Schmerz, der ihm in der Brust stach und bohrte, saß dort schon lange. Er wühlte sein Handy heraus, schaltete die Kamera an und richtete sie heftig blinzelnd auf den Brand. Das Display zeigte unmögliche schwarze Nacht.
Obwohl Juri darauf vorbereitet war, obwohl er gewusst hatte, dass es nur ein Trugbild war, dass es bei all den Dutzenden Notrufen, die Wintloher und Vorbeifahrende seit 1993 wegen dieses Feuers abgesetzt hatten, immer nur ein Trugbild gewesen war, weigerte sein Hirn sich zuerst, mitzuziehen. Seine Knie waren weich, sein Kopf blutleer. Das Handy in seiner bebenden Hand blieb ein schwarzes, vergeblich einen Fokus suchendes Rechteck vor dem Inferno dahinter.
Aus der glühenden Masse der Verwaltung erhob sich ein tiefes, drohendes Knarren. Dann kam das...
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