1. Kapitel: Blutiger Asphalt
SAMSTAG, 06. FEBRUAR
Diese Szene werde ich nie vergessen: ein Clown am Boden. Mitten auf der Straße. Mit dem Bauch auf dem nackten Asphalt. Augen, die nicht lachen, sondern vor Angst schreckgeweitet sind. Eine bebende, rot getupfte Nase. Ein Mund mit hochgeschminkten Winkeln, der, wenn man genau hinsieht, verzerrt vor Schmerz ist. Der Clown hat eine frische Schusswunde im Rücken. Sein froschgrüner Frack saugt sich dort voll mit Blut.
Schaulustige, die in Hauseingängen stehen und aus den Fenstern von Kneipen starren, machen mit ihren Smartphones Fotos und nehmen Videos auf. Der Clown sieht sich hilfesuchend um. Unsere Blicke treffen sich. Er streckt mir die Hand entgegen. Seine Lippen formen ein Wort, das ich nur zu gut kenne.
Mein Puls ist bereits auf hundertachtzig, nun beginnt er, sich zu überschlagen. Ich kauere hinter einem umgekippten Bistro-Tisch am Eingang eines Cafés. Im nächsten Moment schnelle ich hoch. Verlasse meine Deckung. Renne in gebückter Haltung auf den Clown zu. Vielleicht nimmt mich gerade jetzt ein Heckenschütze ins Visier. Egal. Ich renne weiter.
Was für eine Szene! Nein, sie stammt nicht aus einem Albtraum. (Und mit Albträumen kenne ich mich aus!) Es hat sich tatsächlich so abgespielt. Wo? Na, hier! Hier in der Stadt! In der Karlstraße. In der Straße der Smasher, wie die Medien sie nennen.
Ich weiß noch, wie mich Mister T. davor gewarnt hat, nach Deutschland zu reisen. »Dieses Land ist das Mekka der Gewalt, der Zerstörung, der Barbarei! Eine absolute No-go-Area! Vor allem für Sie!« Mit erhobenem, lehrerhaftem Zeigefinger ermahnte er mich, jeglicher Gefahr aus dem Weg zu gehen. »Frances«, sagte er. »Sie haben bisher Risiken sehr gut einschätzen können. Aber seit dem Zwischenfall in Mexiko .«
»Fangen Sie nicht schon wieder damit an!«
Mr. T. ist kein farbiger, zwei Meter großer, mit Muskeln bepackter Action-Held, der einem in allen misslichen Lebenssituationen beisteht. Er ist mein Psychotherapeut. Mr. Leonard Turner. Ein kleines Männchen mit polierter Glatze und zwei schwarzen Haarbüscheln über den Ohren. Seit dem »Zwischenfall« in Mexiko glaubt er, dass der Tod für mich eine gewisse Anziehungskraft besitzt. Anders ausgedrückt: Er glaubt, ich sei selbstmordgefährdet.
»Gehen Sie am besten wohin, wo alles vollkommen harmlos ist. Was halten Sie von einem Zen-Kloster? Oder einem Aschram in Indien. Oder besuchen Sie mittelalterliche Kirchen in Europa.«
»In Deutschland gibt es sehr viele davon.«
»Nein! Hören Sie mit Deutschland auf! Frances, denken Sie daran, was Sie in Deutschland erwartet! Smash! Terroranschläge mit diesem teuflischen Gift!«
»Ach was? Wollen Sie mir Angst machen?«
Er blickte mich über den Rand seiner Brille an. »Lesen Sie keine Zeitung? Interessieren Sie sich nicht mehr für die Medien, Frances? Gerade Sie, eine ehemalige Auslandskorrespondentin?«
In der Tat interessierte ich mich nicht mehr sonderlich für die Medien. Ich sah keine Nachrichtensendungen mehr an und las oft nur noch die Headlines, die Überschriften.
Ich setzte eine betont unschuldige Miene auf. »Was ist eigentlich Smash? Was wissen Sie darüber?« Ich spielte bewusst die Naive und schlüpfte in die Rolle der Unwissenden. Damit er in die Rolle des Allwissenden schlüpfen konnte. Sie gefiel ihm außerordentlich gut.
»Ein Toxin«, fing er an. »Jeder kann damit vergiftet werden. Mutter, Vater, der Bäcker an der Ecke, der Taxifahrer, alle. Das Gift kann in Lebensmitteln stecken, oder irgendwelche Terroristen spritzen es einem genau in dem Augenblick, wo man nicht aufpasst.«
Er faltete die Hände vor dem Bauch und erging sich darin, sein lexikalisches Wissen abzuspulen. »Das Gift ist zumeist tödlich für den Vergifteten, aber weit schlimmer ist, dass Smash den Vergifteten kurz vor seinem Tod aufs Grausamste verändert. Er mutiert zu einem Berserker, zu einem sogenannten Smasher. Fällt Passanten, Freunde, Familienangehörige an und zerfetzt sie. Solche Gemetzel sieht man normalerweise nur in Zombiefilmen.«
Ich legte die Stirn in Falten. »Und was macht die deutsche Regierung? Schaut sie dabei tatenlos zu?«
»Sie hat mächtig in den Ausbau der inneren Sicherheit investiert. Wahrscheinlich ist es die einzige Möglichkeit, den Menschen wieder ein einigermaßen erträgliches Leben zu verschaffen. Aber zu welchem Preis? Frances, Sie sind hierhergekommen, in die USA, in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie sind ein Mensch, der die persönliche Freiheit über alles liebt. In Deutschland existiert diese praktisch nicht mehr, weil überall Chaos herrscht. Die Polizei ist zwar omnipräsent und überall laufen schießwütige Sicherheitskräfte herum, aber wie wollen Sie sich entfalten, wenn Ihre Sicherheit mit jedem Schritt gefährdet ist?«
»Sie wollen mir also abraten, in mein Heimatland zu reisen?«
»Ich möchte Ihnen aufs Dringlichste davon abraten! Sie könnten da auf dumme Gedanken kommen!«
Ich muss zurückspulen. Rewind. Den Film auf Anfang setzen. Die Zeit zurückdrehen. Also: gestern Nachmittag (Freitag, 05. Februar) sechzehn Uhr. Der New Yorker Flughafen Newark. Ein Ticket nach Deutschland. Die Frau am Schalter der Fluggesellschaft - Typ: nett, freundlich, kurz geschnittene, blonde Haare, professionell distanziert - fragte zweimal nach, ob ich wirklich nur den Hinflug buchen wollte.
»Ja«, sagte ich. »Den Rückflug kann ich mir schenken.«
Sie lächelte mich immer noch an. Doch jetzt mit einem Ausdruck im Gesicht, als habe sie mich nicht richtig verstanden.
»Sie wissen aber, dass .?«, fing sie an.
»Weiß ich! Machen Sie sich keine Sorgen wegen mir. Ich kann auf mich aufpassen.«
Ihr verging das Lächeln. Sie warf einen Blick auf meine Personalien, murmelte meinen Namen: »Franz.« Sie hatte Schwierigkeiten mit der Aussprache. »Franziska Raue?«
»Richtig. Sie können mich aber auch Frances nennen.«
Ein kurzer, nüchterner Augenaufschlag, dann klärte sich ihre Miene auf. »Ich sehe gerade Ihr Geburtsdatum, Sie sind ja Widder? Als Widder können Sie ja .«
Ich beugte mich leicht über den Tresen. »Wissen Sie, Süße!« (Ich sagte wirklich Süße zu ihr. Wenn jemand so was zu mir sagen würde, würde ich durchdrehen, aber sie nervte mich, und ich hatte Lust, sie ein wenig zu verletzen.) »Ich finde es wirklich sehr niedlich, dass Sie mir hier auf dem Flughafen ein Horoskop stellen wollen. Aber ganz im Vertrauen - ich glaube weder an Astrologie, Telepathie, Hellseherei, Telekinese, an die Mächte des Schicksals oder an Ufos. Ich möchte einen Flug nach Deutschland. Mehr nicht.«
Ende der Diskussion. Die strittigen Punkte waren geklärt. Ich bekam mein Ticket, trieb mich noch eine Weile am Flughafen herum, stieg ins Flugzeug und landete nach einem Zwischenstopp in London um die Mittagszeit in Deutschland.
Um genau zu sein: Um elf Uhr fünfunddreißig betrat ich den Heimatboden. Ich überlegte kurz, ob ich niederknien und die Startbahn küssen sollte. Wie dieser Papst damals, der eine Schwäche für die Startbahnen der Welt hatte. Aber weshalb hätte ich so was tun sollen? Ich hatte nie eine besondere Verbindung zu Deutschland, keine Hass-, aber auch keine Liebesgefühle. Keine Eltern (die sind bei einem Zugunglück ums Leben gekommen), keine Geschwister (die sind nie geboren worden). Ein paar Freunde, mit denen ich gelegentlich Mails austausche oder skype, mehr nicht. Bin vor etwa fünf Jahren weggezogen, in die weite Welt hinaus, habe mich überall und nirgends aufgehalten, hatte jedoch immer eine Adresse in Atlanta, USA. Sogar die empfand ich damals als Einschränkung. Aber wenn man dort arbeiten wollte, brauchte man einen Briefkasten für die Post. Selbst wenn man als Auslandskorrespondentin die meiste Zeit rund um den ganzen Globus unterwegs war.
Also - Niederknien kam für mich nicht infrage. Dennoch hatte ich ein gutes Gefühl, wieder hier in der alten Heimat zu sein. Hier, wo mein Leben vor einunddreißig Jahren seinen Anfang genommen hatte und wo es - von mir aus - irgendwann in nächster Zeit auch sein Ende finden konnte.
Im Flughafengebäude schlenderte ich in Richtung Ausgang, als sich mir zwei Reinigungskräfte in orangefarbenen Anzügen und Mützen in den Weg stellten. Der eine, ich schätze mal ein Inder, sagte mit vorwurfsvollem Ton: »Haben Sie die Absperrung nicht gesehen?«
»Absperrung?« Ich sah mich um. Ein schmaler Streifen des Gangs war über eine Länge von vielleicht zwanzig Metern mit Signalband markiert worden. An dem einen Ende war es eingerissen, und ich war gedankenverloren hindurchspaziert.
Nicht weit entfernt sah ich die riesige Lache klebrigen, dunkelroten Blutes. Jetzt erst bemerkte ich auch, dass die Betonwand neben mir von oben bis unten mit Blut bespritzt war.
»Scheiße! Was ist hier denn passiert?«, fragte ich den Inder.
Er sah mich an, als käme ich vom Mond. »Na, was wohl! Das war wieder so ein Scheiß-Giftanschlag!«
Die beiden Reinigungskräfte ließen mich stehen und fuhren damit fort, das Blut aufzuwischen.
Draußen vor dem Flughafengelände winkte ich ein Taxi heran. Und dachte: Willkommen in Smasherland!
Ich hatte noch in den Staaten online ein Hostel gebucht. Einfache Ausstattung. Sauber. Makellos. Günstig. Es lag hinter dem Güterbahnhof. An der Rezeption ein dünnes Mädchen mit weiß gefärbten Haaren, die wie Stacheln nach allen Seiten wegstanden, und mit Unterarmen...