1. Kapitel: Der Anschlag
Was für ein Höllenspektakel! Mit Panzerfäusten hatten sie das kleine Kaufhaus in Schutt und Asche gelegt. Mitten in der City! Am helllichten Tag! Das hatte es in einer deutschen Stadt seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben! Lange herrschte Unklarheit über die genaue Anzahl der Toten. Erst war von acht, dann von zehn und schließlich sogar von zwölf Toten die Rede gewesen.
Bullshit! Es waren mehr gewesen. Viel mehr! Woher ich das weiß? Nun, ich befand mich damals mittendrin in dem ganzen Inferno. Habe alles live miterleben dürfen. Als Bulle. Exakt einhunderteinundachtzig Tage vor meiner Pensionierung.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie die Wände explodierten, wie ein abgerissener Arm mir in die Fresse schoss und es mich in einer glitschigen Blutlache fast umgehauen hätte. Ich erinnere mich noch gut an all die Toten und die Schwerverletzten.
Aber vielleicht sollte ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Und zwar von Anfang an.
***
Es war an einem Dienstag im Mai, als Freddie, mein Kollege, uns anfunkte und meinte, dass in dem Kaufhaus einiges nicht mit rechten Dingen zuging. Er hatte den Hinweis bekommen, dass im oberen Stockwerk ein illegales Verteilzentrum eingerichtet worden sei. Für ein ganz bestimmtes Produkt. Für eine besonders heiße Ware. Für Smash.
Smash war ein Gift, das einen Menschen in eine reißende Bestie verwandelte. Das Besondere an dem Gift: Die Leute kippten nicht einfach tot um. Sie liefen erst mal Amok. Die sogenannten Smasher fielen wildfremde Leute an und zerfetzten sie. Die eigenen Angriffe überlebten sie normalerweise nicht. Sie kollabierten zumeist an Ort und Stelle, inmitten des Chaos, das sie angerichtet hatten. Oder wurden von Scharfschützen, die überall in der Stadt und vor allem an öffentlichen Plätzen positioniert waren, abgeknallt.
Zum Smasher konnte jeder werden, durch vergiftete Lebensmittel oder feine Giftspritzen, die man von irgendeinem Idioten im Gedränge verpasst bekam. Mit Smash wurden wahllos Menschen vergiftet. Von Terroristen, Anarchisten oder Arschlöchern, die die Schnauze voll hatten von einem demokratischen Staat. So genau wusste das keiner. Man ermittelte in alle Richtungen. Seit über einem halben Jahr. Dumm nur, dass sich alle Fahndungserfolge schon bald als jämmerliche Fehlschläge herausstellten.
Dabei erwies sich diese Art der Terror-Anschläge als äußerst effektiv. Smash hielt das ganze Land in Atem. Überall, in der Stadt oder auf dem Land, kam es zu gigantischen Blutbädern. In der Anfangszeit hatte es im Schnitt bis zu hundert Smasher-Tote am Tag gegeben.
Erst als die Polizei aufgerüstet und Verstärkung durch private Sicherheitsdienste und am Ende sogar durch die Armee erhalten hatte, drehte sich das Blatt. Wer auch nur das kleinste Anzeichen einer Smash-Vergiftung zeigte, wurde liquidiert.
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Als Freddie von einem Smash-Verteilzentrum faselte, dachte ich, er wäre komplett verrückt geworden. So ein Zentrum hatte man bislang noch nie ausfindig gemacht. So was wäre ein absolutes Novum. Ein Volltreffer! Ein Sechser im Lotto für sämtliche Polizeieinheiten. Ein Fall für ein ganzes Heer an Spezialeinsatzkräften. Als Freddie merkte, dass ich skeptisch reagierte, ließ er etwas die Luft raus.
»He, Lars. Ganz locker! Ich gehe den Hinweisen eines Informanten nach. Mehr nicht. Keine Ahnung, ob er wirklich was gehört hat oder ob ihm was in einem Crack-Rausch erschienen ist.«
Den Namen des Informanten wollte Freddie natürlich nicht nennen. Er arbeitete mit einer ganzen Schar solcher Whistle-Blower zusammen. Aufgrund ihrer Insider-Infos hatte er schon viel Scheiße verhindern können.
Im Gegensatz zu mir war Freddie noch mit vollem Enthusiasmus bei der Sache. Er hatte die fünfzig zwar bereits überschritten, war aber noch drahtig wie eh und je. Ein Athlet. Wagemutig wie ein Stuntman. Die einzige Schwäche, die er sich leistete, war, dass er es sich umsonst von Nutten besorgen ließ, ganz egal welche Hautfarbe, welche Größe, welches Alter sie hatten. Ein Gratis-Fick war für ihn immer drin. Am liebsten an der Theke, von hinten, stehend. Er war stets auf dem Sprung, hatte keine Zeit, die Hose auszuziehen.
Ich ließ ihn quatschen. Unser Dienstwagen stand vor einem Coffee-to-go-Laden, und wir betankten uns gerade mit dem morgendlichen Koffein. Ich warf ab und an einen Blick auf die Kollegin, die neben mir auf dem Beifahrersitz saß: Oberkommissarin Vera Sturm. Sie war neu in unserem Team. Ein Frischling. In jeder Hinsicht. Wir vertrugen uns - kein bisschen. Wir waren inkompatibel. Zu einhundert Prozent. Ich war alt, sie war jung; ich war müde und an Verbrechen und Verbrechern nicht mehr interessiert, sie wollte den Idioten von CSI nacheifern. Kinderscheiße.
Robert Zerber, unser Chef, hatte sie mir zugeteilt. Als sie davon Wind bekommen hatte, war sie kratzbürstig geworden. Hatte getobt und gedroht, sie wolle ganz »nach oben« gehen und sich beschweren. Ich kann mir vorstellen, wie sie über mich hergezogen hat. Aber dann musste sie doch ihren Kopf einziehen. Kam wutschnaubend zu mir zurück. Verweigerte mir den Handschlag. Ich sah ihr an, dass sie die Stunden zählte, bis sie mit jemandem Dienst schob, der jünger und eindeutig engagierter war als ich.
In den Zeiten von Smash stellte die Polizei schneller Leute ein als früher. Man wurde gut bezahlt, durchlief eine verkürzte Ausbildung, musste sich mit Waffen auskennen, körperlich einiges draufhaben und nicht komplett plemplem sein. Dann war man geeignet, um bei der Polizei zu sein. Man stieg auch schneller auf. Wenn man mal bei zwei, drei Smasher-Vorfällen dabei gewesen war und sich nicht allzu dämlich angestellt hatte, wurde man mit Lametta behängt wie ein Weihnachtsbaum. Ruckzuck wurde man befördert. Vera Sturm aber fehlten die Smasher-Erfahrungen. Sie wollte raus auf die Straße, was erleben. Action. Und zwar sofort.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass Freddies Stimme sich irgendwann immer dringlicher anhörte. »Lars, es wäre gut, wenn du endlich mal herkommen könntest.«
»Ein Verteilzentrum für Smash läuft nicht weg!«
»Leck mich! Hast du Zeit oder hast du keine Zeit?«
»He, wir sind am anderen Ende der Stadt. Wir brauchen eine halbe Ewigkeit, um bei dir zu sein.«
»Scheiße, Lars, wenn du nicht willst, dann fick dich ins Knie. Dann ziehe ich die Sache ohne dich durch.«
Ich fragte ihn nach seinem Partner: »Was ist mit Paul?«
»Hat sich krankgemeldet, das Weichei. Bin heute zufällig, ganz zufällig alleine unterwegs. He, stell dich nicht so an. Ich zähl auf dich. Ich brauch kein Jung-Gemüse, das sein Wissen ausm Fernsehen hat und beim ersten Blutfleck anfängt zu kotzen.«
Ich warf einen Blick auf meine Kollegin auf dem Beifahrersitz. Sie verdrehte die Augen. Auch wenn Freddie eher ihrem Bild eines rastlosen, hyperaktiven Kriminalisten entsprach, mochte sie so ein Macho-Gehabe nicht.
»Wer ist bei dir?«, wollte Freddie wissen. »Hubert?«
»Hubert ist in Düsseldorf. Mensch, Freddie, er hat sich versetzen lassen. Das Leben an der Seite eines Dinosauriers wie mir war ihm zu anstrengend.«
»Okay, schon verstanden. Und wer ist jetzt dein Partner?«
Ich warf wieder einen Blick hinüber zu meiner Kollegin, die nun ihre Arme vor der Brust verschränkte. »Oberkommissarin Sturm.«
»Ach, du Scheiße!«, rief er. Dann fiel ihm ein, dass sie ja mithörte. »Nichts für ungut, Kollegin Sturm, aber jetzt gehen Sie mal aufs Klo, pudern sich Ihr Näschen und kommen in einer Stunde wieder zurück. Seien Sie ein braves Mädchen.«
»Und seien Sie nicht so ein verdammtes Arschloch«, giftete sie zurück.
Er fing an zu kichern. »Scheiße, kommt jetzt endlich her, bringt eure Artillerie mit. Ich hab's im Urin, dass da noch was passiert.«
***
Im Nachhinein muss ich zugeben, dass es von Robert nicht anständig gewesen war, mir das Gör mitzugeben. Sie war die reine Nervensäge. Sie ließ es mich jede Minute spüren, was sie in mir sah. Einen alten Knacker. Mit Rheuma-Fraß und Gicht-Koller in den Knochen. Da machte sie schon was anderes her. Hatte keine Falte im Gesicht, war durchtrainiert, ging regelmäßig ins Fitness-Center, übte sich in Karate, legte sogar unser Kampfsport-Ass Ali aufs Kreuz.
Ich muss schon sagen, sie sah verdammt gut aus. Ich mag Frauen mit Zopf, und wenn sie dazu noch blond sind, laufen mir die Augen über. Ich ertappte mich dabei, dass ich sie manchmal als »Blondschopf« titulierte. Natürlich nicht in ihrer Anwesenheit. Sie besaß keinen Sinn für Humor. Sie war richtig biestig, verbissen. Nichts war ihr wichtiger als ihre Arbeit und ihre Karriere.
Wieder ein Unterschied zu mir.
»Wer geht als Erstes rein?«, fragte sie, als wir schließlich vor dem Kaufhaus standen. Eine Höflichkeitsgeste. Natürlich wollte sie es machen. Klarer Fall.
Ich zuckte mit den Achseln. »Nur zu!«, sagte ich.
Sie drückte die Klinke nach unten. Die Tür ging auf. Na ja, ein Wunder war es nicht. Es war genau neun Uhr siebzehn. Der Laden hatte seit über einer Stunde offen.
Und in den nächsten Minuten würde es ihn nicht mehr geben.
***
Wir gingen also rein ins Kaufhaus. Da trieben sich schon jede Menge Leute rum. Mütter auf der Suche nach Schnäppchen. Ein paar Säufer. Schülerinnen, die ihre Vorräte mit billigem Parfüm und Rouge auffrischten. 1-Euro-Krimskrams, so weit das Auge reichte.
Meine Kollegin entspannte sich. Zuckte mit den Achseln. »Sieht doch alles okay aus. Oder?«
Ich wollte schon missbilligend den Kopf schütteln. Ihre Naivität war grenzenlos. Mit einem Blick konnte man noch nicht erkennen, ob was »okay« aussah oder nicht.
Wir hörten spitzes Gegacker...