Kapitel 1
Lia
»Darf es noch eine Runde sein, Ladys?« Der Barkeeper deutete auf die leeren Gläser, die auf dem Tresen einen äußerst traurigen Eindruck hinterließen. Woraufhin ich einen schnellen Blick mit Ivy wechselte, die mir allerdings stumm zu verstehen gab, dass wir uns keinen weiteren Drink leisten konnten. Der Abend war vorbei, noch bevor er richtig begonnen hatte. Vermutlich reichte unser Geld gerade so für die Heimfahrt. Wenn überhaupt.
»Ausnahmsweise nicht«, antwortete ich und rang mir ein Lächeln ab.
Der Blick des Barkeepers lag noch einen Moment auf mir, er musterte mich eindringlich, ehe er auf das Diadem, das in Zuris Haaren steckte, starrte. Verwunderung spiegelte sich in seiner Miene wider, als er eine Augenbraue hob und auf seine Armbanduhr linste. »Ein Junggesellinnenabschied, der vor Mitternacht endet?«, hakte er über die Funk-Beats hinweg nach. Wir starrten dem gut aussehenden Mann hinter dem Tresen entgegen wie ein paar scheue Rehe, die direkt in die Lichter eines näher kommenden Autos glotzen. Zuris Mundwinkel zitterten, sie bemühte sich, Fassung zu wahren, aber wir waren seit Jahren befreundet und wussten es besser. Sie war so kurz davor, heulend aus dieser angesagten Bar zu stürmen.
Meine Freundin hatte sich diesen Abend so sehr gewünscht. Sie wollte gebührend feiern und ausnahmsweise nicht den billigen Fusel aus der heruntergekommenen Town Bar trinken. Sie wollte sich den hämmernden Kopfschmerz, der von günstigen Spirituosen rührte, am Morgen ersparen. Wenn, dann sollte dieser wenigstens von hochwertigem Alkohol stammen. Zuri wollte sich für eine Nacht wie eine Diva fühlen. Allerdings hatten wir einen gravierenden Umstand übersehen: Wir waren keine Diven. Wir waren drei Freundinnen, die jeden Dollar zweimal umdrehen mussten, bevor sie ihn ausgaben. Das war schon so gewesen, als wir noch Kinder gewesen waren, und daran hatte sich bis heute kaum etwas geändert.
Dieser Abend hätte Zuri gehören sollen. Geld sollte keine Rolle spielen, nicht heute Nacht. Doch unsere Partynacht war bereits nach zwei Stunden zu Ende, weil wir einfach nicht hierher gehörten. Bestimmt hatten wir nicht mal mehr zwanzig Dollar in der Tasche, um unserer Braut einen unvergesslichen Abend zu ermöglichen, so wie sie ihn sich immer vorgestellt hatte.
Ivys Brustkorb hob und senkte sich schwer. Nach wie vor huschte der Blick des Barkeepers zwischen uns hin und her, bis sich seine Lippen zu einem neckischen Schmunzeln verzogen. Er stützte sich auf dem Tresen ab, dabei traten feine Adern an seinen Unterarmen hervor. Er trug ein schlichtes T-Shirt und präsentierte seine trainierten Arme - sie waren wahrlich ein Hingucker - sozusagen auf dem Silbertablett.
»Hör auf zu flirten, die Leute warten auf ihre Drinks!«, rief seine Kollegin und verdrehte genervt die Augen. »Der Laden ist voll!«, schob sie hinterher und befüllte gleich zwei Gläser mit Eis. Aber ihre Worte schienen ihn nicht aus der Ruhe zu bringen, sein Lächeln wurde nur noch breiter.
»Du«, sagte er und deutete auf mich. Um ganz sicherzugehen, dass er tatsächlich mich meinte, sah ich mich zu beiden Seiten um. Ringsherum standen Menschen, die sehnlichst auf ihre Getränke warteten. »Ja, du«, bestätigte er, als könnte er Gedanken lesen.
»Ich«, gab ich dümmlich von mir, worüber ich mich prompt ärgerte. War mir denn nichts Besseres eingefallen? Natürlich hatte er mich gemeint, er hatte mir ja auch direkt in die Augen gesehen.
Er nickte in Richtung Tür, durch die wir vor nicht allzu langer Zeit höchst euphorisch getreten waren. Die Brust nach vorn geschoben, das Kinn gereckt, sind wir in diese Bar geschritten, als wären wir über den roten Teppich der Oscar-Verleihung gelaufen. »Der nächste Kerl, der durch diese Tür .« Interessiert hatten wir uns ein ganzes Stück weit zu ihm über den Tresen gebeugt.
». marschiert .«, er wackelte übertrieben mit den Augenbrauen, ». wird von dir geküsst, und euer Abend ist gerettet«, sagte er selbstzufrieden.
»Bist du völlig bescheuert?«, rief Ivy aus und schüttelte vehement den Kopf. Während ich einen langen Augenblick benötigte, um zu begreifen, was er von uns verlangte, schien meine Freundin sofort zu verstehen. »Ein Kuss rettet doch ganz bestimmt nicht unseren Abend.«
»Dann spendiere ich euch eine Flasche Champagner.«
Zuri räusperte sich. »Wir sollen einen Fremden küssen, damit wir bleiben dürfen?« Entsetzen und zugleich eine Prise Hoffnung schwangen in jeder ihrer Silben mit.
Der gut aussehende Kerl sah mich frech grinsend an. »Nicht ihr, sondern sie.« Er musste einen Narren an mir gefressen haben, weshalb beharrte er sonst darauf, dass ich diese nicht gerade würdevolle Aufgabe übernehmen sollte?
»Nein«, sagte ich schnell. »Ich küsse lieber dich, und du spendierst uns eine Flasche Gin«, schlug ich siegessicher vor und näherte mich ihm bemüht lasziv. Zum Glück gab es hier keine Spiegel, ich wollte mich dabei unter keinen Umständen beobachten. Denn sexy ging definitiv anders. Mein Vorschlag war bedauernswert, aber immer noch besser, als irgendwen zu küssen. Immerhin war er hübsch anzusehen und hinterließ einen gepflegten Eindruck. Das war sozusagen die halbe Miete.
Schon fast unanständig ließ ich meine Fingerspitzen über seinen Unterarm tänzeln. Und ich musste mir eingestehen, dass sich seine Haut umwerfend anfühlte. Ich hatte seit einer Ewigkeit keinen Mann berührt, und der letzte Cocktail hatte mich mutiger werden lassen, als ich es normalerweise war.
»Keine Chance.«
Ich blinzelte zweimal, dann zog ich eilig meine Hand zurück. »Wie bitte?«
Er zuckte mit den Schultern und verzog den Mund. »Ich bin sehr schwul.«
»Oh«, stieß ich aus, und mein wild gewordenes Herz beruhigte sich endlich. »Dann tut der Korb nicht ganz so weh.«
»Und genau deshalb sollte sie dich küssen!«, meinte Ivy. »Die Fronten sind geklärt. Somit ist alles paletti.«
»Ich küsse keine Frauen. Habe ich noch nie getan.«
Verträumt murmelte Zuri ein »zu schade« und schlug sich daraufhin sofort die Hand vor den Mund, denn immerhin würde sie in zwei Wochen heiraten und sollte keine Gedanken an heiße Küsse mit einem Barkeeper verschwenden.
»Wenn du nie eine Frau geküsst hast, dann weißt du doch nicht, was dir entgeht«, hielt Ivy dagegen und stemmte die Hände in ihre kurvige Taille. »Du hast es nicht mal probiert.«
»Du musst doch auch kein Alpaka küssen, um zu wissen, dass du nicht darauf stehst, oder?«
Meine Freundin schürzte die Lippen und verengte die Augen. Zuri und ich hielten unsere Bäuche vor Lachen. Auch wenn wir inzwischen auf dem Trockenen saßen, fehlte es uns zumindest nicht an Humor.
»Okay, der Punkt geht an dich«, gab Ivy schweren Herzens zu. »Also, der Deal steht?«, fragte sie an ihn gewandt und streckte ihm die Hand entgegen, als würde sie einen Millionendeal abschließen.
»Warum ich?«, protestierte ich, denn das konnte unmöglich ihr verdammter Ernst sein.
»Weil sie in festen Händen ist.« Er zeigte auf Zuri, die zögernd nickte, ehe er Ivys Hand schüttelte und weitersprach: »Und du hast ein Herpesbläschen.«
Zu meinem Bedauern musste ich ihm zugutehalten, dass seine Argumente durchaus Sinn ergaben, trotz allem gab ich mich skeptisch. »Nimmst du uns auf den Arm?« Ich ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. »Du hast .«
». irgendwie Mitleid mit euch«, beendete er den Satz.
»Du könntest uns die Flasche ohne jegliche Forderung spendieren.«
»Das ist doch ein Junggesellinnenabschied und keine spießige Familienfeier.« Er zuckte mit den Schultern. »Das war lediglich ein Angebot, um euren Abend zu retten, nichts weiter.«
Zuri rümpfte die Nase und rückte das Diadem zurecht. Sie sah aus wie Schneewittchen, nur eben mit funkelnden Edelsteinen, die zwischen ihren schwarzen Haaren hervorblitzten. Ihre Haut war blass, weil sie sechs Tage die Woche in dieser Fabrik in Brooklyn arbeitete und nur selten das Tageslicht erblickte. Entweder sie schuftete nachts und schlief tagsüber oder umgekehrt. Und an den freien Sonntagen verließ sie ihre vier Wände nur selten, weil sie schlichtweg erschöpft war.
Augenblicklich legte sich eine entsetzliche Schwere in meine Magengrube, Zuri tat mir plötzlich unfassbar leid. Sie war immer diejenige gewesen, die mehr wollte. Sie hatte die Ballkönigin sein wollen. Nur, dass es an unserer Highschool noch nicht mal einen verdammten Abschlussball gegeben hatte, weil irgendwelche Idioten die Turnhalle angezündet hatten und sich die Schule gerade mal so die Gehälter der Lehrkräfte leisten hatte können. Es war nicht schön, wenn Geld ein derartiges Problem darstellte. Zu Hause, in der Schule . immer. Geld allein machte nicht glücklich, aber es sorgte dafür, dass man nicht fror und seiner Freundin einen verfluchten Junggesellinnenabschied spendieren konnte....