1. Kapitel
Gibt es Frauen, die mit grauem Haar toll aussehen, oder gilt das nur für die grauhaarigen Männer?
Bevor ich mein Projekt, die grauen Haare herauswachsen zu lassen, gestartet habe, war es einige Jahre für mich eine große und wichtige Frage, ob ich meine Haare weiter färben möchte oder ob ich zu meinen grauen Haaren stehen will. Schon ab etwa Mitte dreißig ist mir der Gedanke daran immer mal wieder in den Sinn gekommen. Wann immer jedoch ich ihn bei meiner Friseurin ausgesprochen habe, hat sie ihn als Blödsinn abgetan und ist darüber hinweggegangen. Im Nachhinein bedauere ich, dass ich es nicht schon eher mit einem anderen Friseur durchgezogen habe. Meine Mutter hat mir beim Färben oft gesagt, dass ich seitlich über der Stirn sehr viele weiße Haare habe, und ich finde es schade, nicht mal ohne Farbe geschaut zu haben, wie das aussieht. In meinen dunkelbraunen Haaren hätte diese weiße Strähne bestimmt toll ausgesehen, wenn ich damals schon den Mut gehabt hätte, nicht mehr zu färben. Diese Stelle ist mittlerweile ganz weiß, da wächst kein einziges farbiges Haar mehr.
Ich habe diese Überlegungen also einige Jahre mit mir herumgetragen. Viele andere hingegen denken gar nicht darüber nach, denn: Graue Haare machen alt, das will man nicht, also färbt man weiter.
Dann kommt einem George Clooney in den Sinn, der auch graue Haare hat und klasse aussieht. Aber er ist ein Mann. Er darf graues Haar haben und kann trotzdem toll aussehen. Männer bekommen graue Schläfen und wirken interessant. Sie strahlen Reife, Lebenserfahrung, Selbstbewusstsein und (in gewisser Weise) finanzielle Sicherheit aus. Denkt auch an Richard Gere, er ist, genau wie Mr. Clooney, erst dann auf der Liste der Sexiest Man Alive gelandet, nachdem die grauen Haare da waren. Sean Connery fällt mir da auch noch ein, in den alten James Bond Filmen ist er meiner Meinung nach nicht so besonders attraktiv, auch wenn die ganzen Bond-Girls das wohl anders sehen. Erst die grauen Haare machten einen richtig toll aussehenden Mann aus ihm.
Bei Frauen sieht die öffentliche Meinung dazu anders aus, nämlich so, dass sie mit grauen Haaren alt und unscheinbar aussehen, man denke an die Bezeichnung "graue Maus". Das kommt daher, dass die Gesellschaft entschieden hat, dass gefärbtes Haar Jugend bedeutet. Umgekehrt muss es dann wohl Alter bedeuten, wenn die Haare ungefärbt und weiß sind. Wenn man mit dem Färben aufhört, entscheidet man sich also dafür, dass jetzt die alten Tage kommen, haufenweise Zipperlein mitbringen, und das alles nimmt man auch noch freiwillig in Kauf.
Diese Meinung ist weit verbreitet, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Aber stimmt das? Es gibt viele Frauen (und auch einige Männer), die in einer für ihren Hautton unpassenden Farbe gefärbt sind, sodass die Farbe ihnen nicht schmeichelt und sie deshalb nicht jünger macht. Im Gegenteil. Es gibt viele, die sich ihre Haare zu dunkel färben lassen. Da fallen kleine Linien und Falten im Gesicht und am Hals sehr viel mehr auf als bei etwas helleren oder eben natürlich ergrauten Haaren. Umgekehrt gibt es auch Blondinen, die zu hell gefärbt sind; in dem Fall wirkt das Gesicht verwaschen und konturlos.
Den meisten Köpfen sieht man die künstliche Farbe an. Es muss schon ein sehr begabter Friseur am Werk sein, damit ein gefärbter Kopf aussieht, wie von der Natur coloriert. Und es ist schwierig, eine künstliche Farbe zu finden, die mit der eigenen Hautfarbe so harmoniert wie die natürliche Haarfarbe. Wenn wir ergrauen, passiert das in einem langsamen Prozess, in dem die Haare mit der Zeit heller werden und immer genau die Farbe haben, die uns gerade dann am besten steht. Wir müssen unsere Haarfarbe nicht mehr ändern, die Natur schafft das ganz allein.
Die Natur kann es einfach, da muss man nur mal einen Fuß vor die Tür setzen und sich draußen umsehen. Egal welches Licht dort herrscht, welche Jahreszeit gerade ist, welches Wetter, ob der Himmel strahlend blau oder wolkenverhangen grau ist, die Bäume Blätter tragen oder nicht, man findet keine Farben, die nicht miteinander harmonieren. Krokusse in Lila und Orange, die sich durch eine weiße Schneedecke schieben. Grüne Blätter und bunte Blumen vor dem knallblauen Himmel im Sommer. Stellt euch den Himmel vor, mit schweren, dunkelgrauen Regenwolken, und dann einen neongelben Blitz. Das Grün der Bäume vor diesem grauen Himmel. Die leuchtende Farbenpracht von Laubbäumen im Herbst. Trockene braune Blätter auf dunkelgrünem Moos. Braune Äste zu Schnee und blauem Himmel. Ich könnte noch ewig so weitermachen, denn alles passt farblich perfekt zusammen. Die Farben der Natur sind immer harmonisch. Darauf kann man sich auch in Bezug auf die eigenen Haare verlassen. Ob die Naturhaarfarbe schon von weißen Haaren durchzogen ist oder nicht, sie wird immer zum Teint passen.
Ich habe noch nie eine grauhaarige Frau oder einen grauhaarigen Mann gesehen, bei der oder dem das anders war. Die Farben der Haare, der Haut und der Augen harmonieren einfach. Vorher, als ich selbst noch gefärbt war, hatte ich dafür keinen Blick. Meine Haarfarben hießen "Rehbraun" oder "Kastanienbraun" und ich gefiel mir damit. Sie gingen leicht ins Rötliche und es kam mir nicht in den Sinn, dass die Farben zu weit von meiner natürlichen Haarfarbe abwichen, um wirklich gut an mir auszusehen. Wenn ich heute ältere Fotos von mir anschaue, sehe ich das ganz deutlich. Auf den Fotos wirkt mein Haar künstlich, als würde ich einen Helm aus Haaren tragen. Da ich manches Kompliment für diese künstliche Haarfarbe bekommen habe, denke ich, dass anderen die Disharmonie auch nicht aufgefallen ist. Gefärbtes Haar ist ganz normal, daher ist man an den Anblick der Kunstfarben gewöhnt und deshalb gefällt es den meisten von uns eben.
Sehr viele Leute haben mir im Lauf der Zeit gesagt, dass sie ihre Farbe auch herauswachsen lassen würden, wenn sie denn ein schönes Grau hätten. Sie finden mein natürliches Haar schön, sind aber der Meinung, dass ihre eigene natürliche Farbe es nicht ist. Ich frage mich dann immer, woher sie das denn wissen wollen. Es ist unmöglich, an ein oder zwei ungefärbten Zentimetern Haaransatz zu erkennen, wie der Kopf im Ganzen ungefärbt aussehen wird.
Meine Mutter lässt gerade ihre Farbe herauswachsen und ist erstaunt, dass der Weißanteil im vorderen Bereich viel höher ist als gedacht und dass sie am Hinterkopf doch noch so viele dunkle Haare hat. Das war vorher so genau nicht erkennbar. Wenn der kleine Rest ihrer blonden Farbe weg ist, werden ihre Haare eine schöne Mischung sein aus weißen Haaren vorne und hellgrau melierten am Hinterkopf. Auch sie war anfangs etwas nervös, ob das, was da jetzt wächst ihr gefallen wird. Aber je mehr weißes Haar zum Vorschein kommt, desto begeisterter ist sie. Jetzt weiß sie nicht mehr, warum sie das so lange hinausgezögert hat. Genau diesen Gedanken hatte ich auch. Warum habe ich nur so lange gewartet, bis ich aufgehört habe, meine Naturfarbe zu verstecken? Wenn eure Zweifel noch sehr groß sind, solltet ihr euch immer klarmachen, dass die Entscheidung gegen das Färben ja nicht in Stein gemeißelt ist. Wenn es euch absolut nicht gefällt, ist die Farbe ganz schnell wieder auf dem Kopf. Aber gebt euch Zeit. Es dauert eine Weile, bis man wirklich einen Eindruck hat, wie das Ergebnis mal aussehen wird.
Auch wenn die Meinung, dass nur Männer interessant und attraktiv ergrauen, sehr weit verbreitet ist, gibt es doch inzwischen sehr, sehr viele wunderschöne Frauen, die ihr Silberhaar mit Anmut und Stolz tragen. Das Internet ist voll von ihnen und ich habe, als die Entscheidung immer mehr in Richtung meiner natürlichen Haarfarbe gerutscht ist, unzählige Fotos von ihnen in einem Album auf meinem Handy gesammelt. Die meisten der Frauen in meinem Album sind in einer Altersgruppe zwischen vierzig und sechzig Jahren, weil ich selbst in diesem Alter bin und Inspiration für meine Entscheidung gesucht habe. Es gibt aber auch sehr junge Frauen, die früh ergraut sind und nie mit dem Färben angefangen haben. Bei diesen Frauen finde ich den Kontrast der jungen Haut zu den grauen Haaren schön. Sie sind irgendwie außergewöhnlich. Bilder von in Grautönen gefärbten jungen Frauen findet man nicht in meinem Album. Was die Natur uns auf den Kopf zaubert, ist individuell und immer genau der Grauton, der am besten zu uns passt. Die Tatsache, dass sich so viele jüngere Frauen ihr Haar grau färben oder strähnen lassen, zeigt uns aber, dass Grau zu einem Trend geworden ist. Überlegt euch mal: Wir sind voll im Trend, weil wir etwas sein lassen, das teuer ist und unserem Haar, der Kopfhaut und der Umwelt schadet. Ich finde das klasse.
Als ich mich auf der Suche nach weiß- und grauhaariger Inspiration durch das Internet geklickt habe, ist mir eine Frau als Erstes aufgefallen. Ihr Name ist Annika von Holdt, sie hat glattes, langes, grau meliertes Haar. Annika von Holdt ist Autorin, hat als Model gearbeitet und lebt mit Mann, Sohn, Hund und Katze in Dänemark. Im Internet gibt es auch Fotos von ihr mit braunen, langen Haaren. Auch brünett sieht sie toll aus, aber wirklich spektakulär und wunderschön erst mit silbergrauem Haar.
Sarah Harris, sie arbeitet als Redakteurin bei der britischen Vogue, sieht ihr ein wenig ähnlich. Sie hat wohl schon mit 16 erste graue Haare gefunden, so wie ich, war aber so schlau, erst gar nicht mit dem Färben anzufangen.
Eine weitere silbermelierte Frau hieß Cindy Joseph. Ja, hieß, denn sie hat ihre Krebserkrankung nicht überlebt. Fotos von dieser schönen Frau findet man aber immer noch im Netz. Cindy Joseph wurde erst mit ihren langen, grauen Haaren als Model entdeckt, da war sie fast fünfzig Jahre alt. Später hat sie ihre eigene Kosmetiklinie...