Schweitzer Fachinformationen
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September 1960
Tilla Puls grub die Zehen in den heißen Sand und sah hinaus aufs Meer. Endlich war der Moment gekommen, auf den sie jahrelang hingearbeitet hatte. Ruhig und dunkelblau lag der Ozean vor ihr, und sein sanftes Plätschern wiegte sie in Sicherheit. Sie durfte seiner Stimme nicht immer trauen, das wusste sie - das hatte sie auf die harte Tour lernen müssen. Und noch konnte sie umdrehen und wieder gehen. Doch wenn sie ehrlich war, war das für sie keine Option, noch nie eine gewesen. Heute würde sie sich dem Meer anvertrauen, komme, was wolle. Sie würde ihm seine uralten Geheimnisse entlocken.
In der einen Hand hielt sie ihre Taucherbrille. In der anderen das Atemgerät. Der Wind riss an ihren Haaren. Wenn das Mädchen, das Tilla noch vor fünf Jahren gewesen war, sie jetzt so sehen könnte - was würde es denken? Wäre es stolz? Hätte es Angst?
Angst wahrscheinlich nicht, überlegte sie. Die Angst war erst in letzter Zeit zu ihr gekommen. Vielleicht gehörte sie zum Erwachsensein dazu. Vielleicht sickerte sie zusammen mit dem an der Universität vermittelten Wissen in sie hinein. Und vielleicht könnte Tilla sie wieder loswerden - zumindest für einen Moment -, wenn sie endlich aufbrach, endlich unterging, endlich schwebte. So wie früher, als sie noch nicht wusste, welchen Preis ein Abenteuer hatte. Und welche Macht das Meer.
September 1955
Tilla Puls verlagerte ihr Gewicht auf ein Bein und legte den Kopf schräg, so wie es Lotte Hass auf den Fotos in der Brigitte getan hatte. Seitdem Tilla den Artikel über die Taucherin gelesen hatte, war sie ihr größtes Idol. Zwar sagten viele, Tilla sähe aus wie Audrey Hepburn in Ein Herz und eine Krone, aber Tilla fand, dass sie sich irrten. Die Leute schauten einzig auf ihre dunklen Haare mit dem kurzen Pony. Sobald Tilla sie blond färben durfte, würde man ihre Ähnlichkeit mit Lotte nicht mehr übersehen können.
Tilla atmete den Duft des Meeres ein, während das Keuchen ihrer Freundinnen in ihrem Rücken lauter wurde.
»Mensch, Tilla!«, rief Hilde.
»Du bist viel zu schnell.« Auch Hannelore ächzte, und doch schwang in ihrer hohen Stimme ein klein wenig Bewunderung mit.
Tilla musste an die Worte ihrer Großmutter denken: »Das sind keine Freundinnen«, hatte sie gesagt, »das sind Bewunderer.«
»Quatsch, Oma. Und außerdem heißt das Fans.«
»Bitte, was?«
»Heutzutage nennt man das Fans.«
Ihre Großmutter hatte gegrinst. »So, so, die junge Dame hat also Fääänz.«
Tilla hatte seufzend den Kopf geschüttelt, doch sie wusste - von dieser Überzeugung konnte sie die alte Frieda Puls sowieso nicht wieder abbringen.
Hilde und Hannelore schlossen jetzt zu ihr auf. Beide trugen das gleiche Kleid wie Tilla. In der Taille war es mit einem Gürtel geschnürt, und sein Rocksaum flatterte in der Brise. In einer dramatischen Geste lehnte Hilde ihre erhitzte Stirn an Hannelores Schulter.
»Nun stellt euch mal nicht so an!« Der Satz rutschte Tilla einfach so raus, als würde ihre Mutter aus ihr sprechen. Augenblicklich schämte sie sich dafür und schob freundlicher hinterher: »Schaut doch, wie schön es hier heute ist!« Sie deutete in die Ferne, auf den Priel, der bis zum Deich brodelte, und die hölzerne Seebrücke, die über die Marschlandschaft weit hinaus zur gewaltigen Sandbank führte. Moderne Lampen bogen sich darüber, und vereinzelte Badegäste spazierten den Weg hinauf und hinunter. Am tiefblauen Himmel hing keine einzige Wolke. Man hätte meinen können, es wäre Sommer. Doch wer genau hinsah, bemerkte die Anzeichen des frühen Herbstes. Die hohe See in der Ferne war dunkel. Und dann war da noch die Brise. Sie zerrte und riss an ihnen, als wollte sie sie zurückhalten.
»Gehen wir weiter zur Brücke«, sagte Hannelore. Tilla antwortete mit einem Nicken und lief voran. Sie schlüpfte unter dem Geländer hindurch, betrat die hölzernen Planken und stemmte sich gegen den Wind.
»Hier ist kaum eine Menschenseele, Tilla!«, sagte Hilde, sobald sie aufgeschlossen hatte. »Hast du nicht behauptet, hier wäre mittlerweile alles voll von Typen?« Tilla spürte ein warmes Kribbeln im Bauch. Typ - ihre Lehrer missbilligten dieses neumodische Wort. In der Schule traute sich keine von ihnen, es zu benutzen. Doch hier draußen konnten sie es laut aussprechen.
»Am Strand sind bestimmt welche. Wir müssen nur noch ein Stückchen weitergehen.« Doch Tilla guckte ihre Freundinnen nicht an. Schon möglich, dass sie ein wenig übertrieben hatte und in Wahrheit eigentlich nur aus einem Grund herkommen wollte - sie war einfach gern am Meer. Typen hin oder her.
Um das Thema zu wechseln, hob sie im Gehen ihren Rock und betrachtete ihre neuen Strümpfe. »Sie machen tatsächlich ein schönes Bein.« Sie beugte sich kurz nach hinten, um die dunkle Naht auf der Mitte ihrer Waden zu begutachten.
Auch Hannelore schaute auf Tillas Waden. »Du hast ohnehin schöne Beine. Da brauchen die Strümpfe nicht viel zu machen.« Sie seufzte. »Meine Mutter sagt, ich muss dringend mehr essen, wenn ich mal einen Mann abbekommen möchte.«
Tilla winkte ab. »Darüber würde ich mir an deiner Stelle überhaupt keine Gedanken machen.«
»Nicht?« Hilde zog die Augenbrauen hoch. »In der Zeitung schreiben sie immer wieder vom Frauenüberschuss. Vier von meinen Tanten sind alte Jungfern! Vier!«
Tilla zuckte mit den Schultern. »Wieso soll denn auch jede Frau einen Mann haben? Im Grunde gibt es doch wirklich Wichtigeres im Leben.«
Vollkommen entgeistert drehten Hilde und Hannelore die Köpfe. »Was zum Beispiel?«
Tilla wich ihren Blicken aus und schaute wieder in Richtung Horizont. Zum Beispiel das Meer, hätte sie gern gesagt. Sie musste an die Nordsee-Legende denken, die ihre Oma Frieda ihr von klein auf immer wieder erzählt hatte. Daran, welche Geschichten der Ozean verbarg. Und an all die Schätze, die ihre Oma bereits gefunden hatte. Montags, wenn das Pfahlbaurestaurant der Familie Puls geschlossen war, spazierte sie gern über den Strand und hielt Ausschau nach Treibgut. Schon als Kind hatte Tilla es geliebt, sie bei der Schatzsuche zu begleiten. Manchmal fanden sie uralte Tonscherben, Glasflaschen, hin und wieder sogar einen Silberring oder eine Brosche. Ihre Oma konnte zu jedem noch so kleinen Gegenstand die spannendste Geschichte erzählen. Und zurück im Restaurant arrangierte sie ihre Fundstücke auf den Fensterbänken und auf dem Tresen so liebevoll, als wäre das Gebäude auf den hohen Pfählen ein zauberhaftes Museum und keine Gaststätte.
Wenn Tilla sich ihre Zukunft ausmalte, dann hatte sie immer mit Omas Schätzen aus dem Meer zu tun. Mit den Rätseln, die sich unter der Wasseroberfläche verbargen. Und mit dem aufregenden Prickeln, das ihr die alten Geheimnisse über die Haut jagten. Doch bei der Vorstellung, ihren Freundinnen von diesen diffusen Träumen zu erzählen, wurde sie rot. Denn ihre Mutter hatte ihr nicht nur einmal erklärt, dass Schatzsuche kein Beruf wäre, sondern eine Spinnerei. Sie wäre fast erwachsen und solle mit den Kindereien aufhören. Um abzulenken, antwortete Tilla, weiterhin den Blick auf den Horizont geheftet: »Erinnert ihr euch an Egon Rank?«
»Du meinst euren Stammgast aus Hessen?«
»Er ist Fotograf. Und er findet, ich hätte das Zeug zum Fotomodel.«
»Das hat er gesagt?« Hilde sah sie mit großen Augen an.
Tilla zuckte mit den Schultern. So recht wollte sie an seine Worte auch nicht glauben. »Wenn alle Stricke reißen, heirate ich einfach einen Amerikaner. In der Zeitung sucht immer einer nach einer deutschen Frau.«
Jetzt grinste Hilde. »Ja, weil sie denken, deutsche Frauen seien gute Hausfrauen. Tilla, du kannst ja vieles, aber das bist du nun wirklich nicht.«
»Aber vielleicht kann ich es werden!« Tilla griff in ihre Tasche und kramte eine kleine Flasche hervor. Frauengold stand in großen Lettern darauf.
»Hilft es?«, fragte Hannelore.
»Meine Mutter schwört jedenfalls darauf.« Tilla trank als Erste einen Schluck. Es schmeckte scharf und süß zugleich, es schüttelte sie. Und noch während sie das Frauengold an Hannelore weitergab, stieg bereits ein angenehmes Gefühl in ihr auf, weich und warm. Sie breitete die Arme aus, schwang die Hüften und spürte dem sanften Schwindel dieses Wundermittels nach. Genau so musste sich eine Dame fühlen.
Allmählich näherten sie sich der Sandbank, die genauso hellgelb war wie Tillas Rock. Dahinter glitzerte das Meer. An jedem Tag, zu jeder Stunde konnte die Nordsee eine andere sein. Mal schaumig, aufgebauscht und nah. Dann wieder ganz leise, flüsternd und weit in der Ferne. An warmen Sonnentagen funkelten die Wellen, als hätten sie sich fein gemacht. An regnerischen Tagen - und davon gab es zu dieser Jahreszeit viele - schienen sie matt und düster. Heute war es, als könnte sich das Meer nicht recht entscheiden.
»Wisst ihr, was mein Plan ist?«, fragte Hilde. »Ich werde Sekretärin und angele mir den Chef. In der Gabriele gibt's eine Schritt-für-Schritt-Anleitung. Und dann .«
»O nein .«, unterbrach Tilla sie. Denn höchstens hundert Schritte entfernt sah sie zwei wohlbekannte Gestalten über die Sandbank laufen.
»Sind das nicht .?« Hannelore war ihrem Blick anscheinend gefolgt.
». mein Bruder und meine Oma.« Tilla schloss die Augen. »So ein Mist.« Die zwei wollten bestimmt aufs Meer rausfahren. Dabei war Frieda zu...
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