Ulrich Straeter
vinum
(In Rellinghausen)
Der kleine Weinhandel
Treffpunkt von herbem Bordeaux
sonnigem Chianti und edlem Rheingau
In vino veritas
oder die Welt kommt zu uns
trifft sich im Dorf
undenkbar zu Kaisers Zeiten
die angeblich gut waren
Leer blieb die Restfläche
auf dem Denkmalssockel
Caruso kocht meerschaumige Gambas
wir prosten uns zu
Cheerio! A la votre!
Jacob Schneider aus Rellinghausen
soll nie mehr sterben den Heldentod
in der Fremde bei Mars la Tour
und nicht am Hindukusch
Ulrich Straeter
An der Isenburg
(Im Winter 1986)
Die Sonne brennt
wie aus Provençehimmeln
pulverweiß
liegen die Wälder
Starre Ebene des Sees
wie neue Landschaft
darüber gestaffelt
Schraffuren der Bäume
Am Hang die alten Mauern
wo Alberich das Eisen schmiedete
auf glühendem Anthrazit
Balmunk den Amboss spaltete
Der Oberstadtdirektor
verbietet Feuer jeder Art
doch trotzen André und Samir
'Wir wahren hir - Schalke 04'
Da lacht die Baldinai
jenseits der Hecke
Ulrich Straeter
Haltestelle Drostenbusch
(Essen-Katernberg)
Die Blumen des Nordens
in schwarzem Zweireiher
und stone-washed Jeans
oder grellbunt in Synthetics
die Haare kurz - das ist jetzt in -
mit verlangenden Augen
im Licht des ersten Frühlings
blühen sie dort im Dunst
der Kokerei Zollverein
warten auf die Siebenundzwanzig
nach Gelsenkirchen zur Disco
(Kommentar dazu)
Die Haltestelle wurde umbenannt in Zollverein,
die Farbe Schwarz hat sich weiter durchgesetzt,
inzwischen gibt es schwarze Kinderwagen,
schwarze Kinderkleidung und schwarzes Waschpulver.
Zweireiher sind wohl eher out,
die Haare, na, ja, gemischt.
Die verlangenden Augen sind geblieben
und das Licht des ersten Frühlings, wenn
der Dunst es zulässt.
Die Kokerei ist verschwunden
und mit ihr der Dunst.
Heute ist Zollverein Welterbe und Ausflugsziel.
Die Linie Siebenundzwanzig gibt es nicht mehr.
Und nach Gelsenkirchen zur Disco?
Das geht immer noch!
Ulrich Straeter
Licht in der Finsternis
Die Sterne über Colombo
längst verblasst
Nord-Lichter werden gesetzt
nicht alle mehr
haben ein Dach über dem Kopf
in der aufstrebenden Stadt
wo die Millionen fließen
und die Kohle vergilbt
Brücken sollen geschlagen werden
auf verlassenem Gelände
Künstler und Händler
suchen den Clinch
hoffend auf Zuschauer
Wenn die Kunst
nicht mehr brotlos ist
geht es aufwärts
Ulrich Straeter
Die Raureifrose
(Grugapark Essen)
Wärmestrahlen in kalten Stunden
schmale Wege durch grafisches Geäst
eine Leserin im umgarnten Haag
Neben den Schwatzenden Frauen
des Künstlers dann sie:
die Raureifrose
roséweiß, halbgeöffnet, leicht geneigt
als kümmere sie nicht die Jahreszeit
Ulrich Straeter
Schreie über Zollverein
Klagende Schreie über Stein und Eisen
auf der Suche nach Beute
sonst
fremde Musik vor Ort
der rostroten Silhouetten im Dunst
Spähende Augen über dem Welterbe
kehrt die Natur zurück
Birken
neben den Bahnwaggons
Klagende Schreie über toten Gleisen
Die Kultur bleibt unsichtbar
im Gewirr der Bauten
Ulrich Straeter
Abend im Dorf
Der Tag sackt ab
letzte Besorgungen noch
Die Autos kommen zur Ruhe
leise knacken die Schalldämpfer
Ein Kind schreit und das Gartentor schlägt
übertönt vom Lied der Amsel
Der vertraute Klang der Glocken
und die letzte Maschine nach Düsseldorf
Beim Abendessen die Welt
im Satellitenprogramm
Ulrich Straeter
Hinterm Rathaus
Hinterm Rathaus blauer Himmel
aufsteigend aus den Katakomben
metrorapid durch die Unterstadt
gelockt von Reklame
und Schnäppchenpreisen
Ein Planet kreist mit Sonderangeboten
wie ein Kaffeehändler wozu die Leute
früh aufstehen in der Schlange
ohne einen Blick zum dunklen Himmel
nur die Langschläfer genießen das Blau
Ulrich Straeter
Mal Ehre - mal nicht
(Ehrenmal Haarzopf, 1914 - 1918, 1939 - 1945)
Sie starben den Heldentod
in fremder Erde Schoß
die gefallenen Söhne der Stadt
Die Ehre des Vaterlandes
sei ihnen gewiss
für den befohlenen Totschlag
In der Heimat starben unter Bomben
die Alten, Frauen und Kinder
Für das Vaterland nicht
und nicht für die Ehre
Ulrich Straeter
Fortschritt
Als ich Kind war
gab's Unterholz dort
und einen Bach
und Bäume standen dicht an dicht
Heute dröhnt Musik
im Kinderland
mit Plastikreh und Gartenzwerg
und einem Kassenhäuschen
Als ich Kind war
gruben Hände Löcher in den Lehm
Bälle flogen hin und her
und im Winter Schlitten am Hang
Heute fließt Verkehr
quietscht Gummi auf rauer Bahn
Hupen fordern freie Fahrt
und ab und zu der Unfallwagen
Als ich Kind war
liefen Hunde wild
bellten nachts den Vollmond an
träumend stand ich am offnen Fenster
Heute trennen Zäune
selbstzufriedene Eigenheimbesitzer
die jungen Bäume am Straßenrand
werden unerwünschtes Laub abwerfen
Ulrich Straeter
Im Stadtpark
Sichtbar unendlich weit
der glühende Ball
aus verschmelzenden Atomen
millionenfach Hiroshima
und gibt das Leben
auf dem verlorenen Planeten
Dichters Worte im kleinen Park
Sommerglück
wir hetzen dahin und vergessen
was möglich ist
wenn der Duft des Grases
sich mischt mit den hellen Strahlen
und dem Klopfen der Herzen
Ulrich Straeter
Abfahrt
Essen!
Hier Hauptbahnhof Essen!
Der Zug ist bereits gestellt
Sie haben Anschluss
Fahrkarten gelten nicht
selbst die Türen schließen tätig
Die Wagen der Klassen befinden sich am Zug
Herr Meißner beamtet bitte zur Aufsicht
Anstatt aus Gleis vier
voraussichtlich zehn Minuten fahrplanmäßig Verspätung
bei jedem Unwetter endet der Zug hier
wir bitten um Ihr Verständnis
Ulrich Straeter
Nichts geht über ein gutes Frühstück
An der tosenden Frankenstraße
Maria mit dem Kind in Marmor
und Bronzesänger
neben dem Buch des Lebens
Der Kiosk geschlossen
für immer, nebenan
violette Tischdecken im Stehcafé
wo würziger Kaffeeduft
auf die Straße weht
und kämpft gegen die Abgase
Durchnässter Zettel auf der Straße
Futter für Kaninchen aufbewahren!
Sicher,
nichts geht über ein gutes Frühstück
Ulrich Straeter
Alte Dorfschenke
(In Rellinghausen)
Hat andere Zeiten gesehen
das Gasthaus
beherbergte einstmals
kostenlos die Armen
bot Unterschlupf den Wanderburschen
und vielleicht
auch manchem Flüchtling
Gebot es das schlechte Gewissen
einer edlen Dame?
Wie dem auch war -
noch immer lädt die Schenke
zu gutem Trunk und Mahl, doch nicht umsonst ist heute
das Geschnetzelte vom Schwein
Ulrich Straeter
Gericht und die Hexentaufe
Du armes Hexlein
verleumdet
von guten Nachbarn
voller Angst
vor den kirchlichen Herren
Hochnotpeinlich befragt
gefoltert, ausweglos
das Gottesurteil in der Ruhr
schwimmt sie
schwimmt sie nicht
Das Feuer dann
betet für die verlorene Seele -
Glocken läuten im Lambertstift
und Bürger streiten
um den Turm des Gerichts
Ulrich Straeter
Kleiner Park im Winter
Herbstlaub noch auf kurzem Grün
wie Wächter die Abfallkörbe
zaghafte Strahlen der Januarsonne
locken die Kinder zum Spielen
Die Bierdose als Fußball
reicht auch für die Mädchen
Auf der Bank im kleinen Park
sitzt heute der Dichter nur
einsam wartet der Steintisch
grünübersponnen
auf die...