Schweitzer Fachinformationen
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Man könnte meinen, der Kellner hat uns die Pistazien nur auf den Tisch gestellt, um uns noch etwas hinzuhalten. Um mit ihnen unseren Appetit anzuregen. Denn natürlich kann man, ist die erste Pistazie geknackt, nicht mehr damit aufhören. Aber es gibt auch noch einen anderen Grund, warum sie hier stehen. Sehen Sie sich die Pistazien nur einmal an: Mit ihrer leicht geöffneten Schale sehen sie aus, als würden sie uns anlächeln. Als wollten sie uns irgendetwas sagen .
Den Auftakt unseres Festmahls bilden heute die Pistazien, weil wir es ihnen verdanken, dass wir diese Speisekarte überhaupt lesen können. Um genau zu sein, einer ganz bestimmten Pistazie, auch wenn sie aussah wie alle anderen. Auf die Welt kam sie im Herbst des Jahres 1701 an einem Pistazienbaum im Osmanischen Reich. Sie ist es, die uns die Wahrheit enthüllt hat.
In dem Moment, als sie gepflückt und zu hundert anderen in einen Leinensack geworfen wurde, hielt sich unsere Pistazie schon für verkauft, um alsbald geröstet und auf irgendeinem Orientteppich zwischen zwei dampfenden Gläsern Minztee geknackt zu werden. Ein banales Pistazienschicksal. Doch an diesem Tag blieb ein unerwarteter Gast vor dem Basarstand stehen. Ein Reisender. Er sah aus, als käme er von weit her, und staunend betrachtete er all die Haufen mit den getrockneten Früchten.
Dieser Mann hieß Tournefort. Während seiner gesamten beruflichen Laufbahn als Botaniker hatte er noch nie solche «grünen Mandeln» gesehen. Stolz über sein Fundstück, kaufte er die Pistazie, ohne noch über den Preis zu verhandeln, und beschloss, sie nach seiner Rückkehr in die Heimat im Jardin du Roi, dem Königlichen Garten, einzupflanzen.
König Ludwig XIII. war häufig krank. In der Hoffnung auf neue Heilmittel hatte er seinen Ärzten im Osten von Paris ein großes Feld überlassen, auf dem sie Pflanzen untersuchen konnten. Entdeckten die Heiler auch kein Wundermittel, so schufen sie zumindest einen herrlichen Garten, der mehrere Jahrhunderte überdauern sollte. Zu der Zeit, als Tournefort seine Pistazie dort einpflanzte, war der Jardin du Roi eine wissenschaftliche Stätte, die ihresgleichen suchte. Ein frühes Beispiel dafür, wie Studien und Wissensverbreitung Hand in Hand gehen können. Auf den für alle Menschen zugänglichen Alleen erzählten die reisefreudigen Botaniker den Spaziergängern von ihren Entdeckungen, und zwar nicht mehr auf Latein, sondern auf Französisch, damit alle es verstehen konnten. In den Gewächshäusern und Beeten verströmten Pflanzen aus fernen Ländern ihre neuen Düfte.
Die Besucherinnen und Besucher kamen scharenweise herbei und fragten die Fachleute wissbegierig über das geheime Leben der Pflanzen aus. Das Wachstum der Bäume, Heilmittel, mysteriöse Pflanzengifte, zu allem gab es die wunderbarsten Geschichten zu erzählen. Zu allem - außer zu einem Thema: den Blüten. Stellte ein neugieriger Besucher dazu eine Frage, wurden die Gelehrten duckmäuserisch. Verlegen wichen sie der Frage aus oder brummten mit hochrotem Kopf irgendeine nichtssagende Antwort. Warum waren Blüten so schön? - Reiner Zufall. Welchen Zweck erfüllten sie für die Pflanzen? - Keinen. Sie waren nur zur Zierde da. Und der Pollen? - Schlicht und einfach eine Ausscheidung der Pflanzen. Die Besucher nickten enttäuscht, während die Botaniker eilends das Thema wechselten.
Nun gab es aber einen bestimmten Grund, weshalb sich die Gelehrten scheuten, über die Blüten zu sprechen: weil sie etwas ahnten. Ihnen war aufgefallen, dass sich die Blüten zweier nah beieinander wachsender Bäume in Früchte verwandelten, aus denen Nachkommen keimten. Die Vorstellung, Pflanzen könnten sich untereinander genau wie Tiere oder Menschen auf geschlechtliche Weise fortpflanzen, war ihnen jedoch schlichtweg zuwider. Wie konnten sich so reine Wesen wie eine Lilie oder ein Gänseblümchen derart ruchlosen Sünden hingeben? Das war einfach nur abscheulich, ja unvorstellbar. Weiße Blüten, das Symbol der Unschuld schlechthin, Blüten, mit denen Kirchen geschmückt wurden, sollten derart niederen Instinkten dienen?
Die Fachleute weigerten sich, auch nur daran zu denken. Stattdessen redeten sie sich lieber ein, Blüten besäßen keinerlei Funktion, wozu ihnen die Geistlichen gern ihren Segen gaben, da ihnen diese Theorie sehr entgegenkam.
Somit gab es damals niemanden, der verstand, wie die Liebe bei den Pflanzen vor sich geht. Und ohne das Wissen über ihre Biologie konnte man über ihre Geschichte nur mutmaßen. Wer sich weigerte, den Blüten zuzuhören, für den blieben sie stumm, dazu verdammt, sich im Geheimen zu lieben. Doch das sollte sich durch die Pistazie bald ändern.
Umhegt von den Gärtnern des Königs, schlug der Samen aus dem Orient im Pariser Boden bald Wurzeln. Schnell wurde daraus ein schöner, starker Pistazienbaum, der jedes Jahr in langen Rispen pastellgrüne Blüten trug, von denen indes keine einzige jemals zur Frucht reifte.
Im April 1717, der Baum war inzwischen sechzehn Jahre alt, zog seine Blütenpracht den Blick eines Träumers auf sich, der durch den Garten flanierte. Sébastien Vaillant, ein ehemaliger Schüler von Tournefort, beschäftigte sich seit langem mit der Frage, was es mit den Blüten auf sich hatte. Ihm schien es unlogisch, dass die Natur diesen Einfallsreichtum und diese Energie aufbrachte, um etwas zu erschaffen, das «nur zur Zierde» da war. Er bohrte nach. Und erfuhr auf diese Weise von einigen unorthodoxen Gelehrten aus Skandinavien, deren Werke in Frankreich verboten waren. Sie behaupteten, Pflanzen hätten ein Geschlecht. Ihre Theorie schien einleuchtend. Aber ohne eindeutige Beweise hatten sie nichts in der Hand, um die unter den Fachleuten vorherrschende Meinung zu brechen.
Nun gehörte Vaillant zu jener Art von Mensch, von der wir alle einige Exemplare kennen: Wenn ihnen beim Aperitif eine Pistazie unterkommt, die sich nicht öffnen lässt, legen sie sie nicht einfach unauffällig in die Schale zurück und nehmen sich eine neue, sondern sie geben nicht auf, ruinieren sich notfalls den Fingernagel oder riskieren, dass sich ihr Messer verbiegt. Sie versuchen es beharrlich weiter. Und das Geheimnis der Blüten sollte Vaillant nicht lange widerstehen.
Als er den Pistazienbaum sah, machte er sich auf die Suche nach einem zweiten Baum derselben Art. Er fand ihn, etwas andere Blüten tragend, ein paar Straßen weiter im Jardin des Apothicaires. Auch dieser Baum hatte niemals Früchte. Da kam der Botaniker auf die Idee, einen Blütenzweig des einen Baums über den Blüten des anderen auszuschütteln. Ein paar Wochen später erntete er jubelnd die ersten Pariser Pistazien, womit er den unwiderlegbaren wissenschaftlichen Beweis von der Bestäubung der Pflanzen erbracht hatte.
In der Akademie der Wissenschaften berichtete Vaillant mit ziemlich blumiger Wortwahl von seiner Entdeckung: «Die Blüten sind das Geschlecht der Pflanzen», verkündete er gleich zu Beginn, um sodann Stempel und Staubblätter mit den weiblichen und männlichen Genitalien der Tiere zu vergleichen und von den «Liebesspielen» der Bäume und ihrem «gewaltsamen Verkehr» zu sprechen - Begriffe, die für die damalige Zeit extrem gewagt waren. Im hinteren Teil des Saales jauchzten die Pennäler und Medizinstudenten, während vorn, in vorderster Front, die Jesuiten außer sich waren.
Der Botaniker bezahlte einen hohen Preis für seinen Tabubruch. Seine Karriere war damit beendet, er wurde aus den Reihen der Gelehrten alter Schule verbannt, die sich die größte Mühe gaben, möglichst schnell Gras über seine Worte wachsen zu lassen. Aber dafür war es jetzt zu spät, die Pistazie der Pandora war geöffnet, die Wahrheit ans Licht gebracht. Die Menschen wussten nunmehr über das Intimleben der Pflanzen Bescheid. Vaillant selbst machte es nichts aus, dass er sich am Ende nicht einmal mehr Fleisch leisten konnte - denn schon das geringste Gemüse in seinem Suppentopf flüsterte ihm bezaubernde Geheimnisse zu.
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