Kapitel 2
Irgendwo in Indiana
Nelly
Mein alter Toyota besitzt so etwas Luxuriöses wie eine Klimaanlage nicht, deshalb habe ich beide Fenster bis auf Anschlag heruntergekurbelt, bevor ich heute Morgen in Chicago losgefahren bin. Während ich die Mais- und Getreidefelder im Staat Indiana immer weiter Richtung Süden durchfahre, strömt der schwere Geruch des heißen Sommers zu mir herein.
Ich schaue auf die Uhr. Ich brauche länger als geplant. Es ist schon Mittag durch und ich bin noch nicht einmal bei meiner Großtante Lucy angekommen. Meine Tante lebt in einer Kleinstadt namens Sanders Lake, wie ich von Mrs Norris vor ein paar Tagen am Telefon erfahren habe. Einer kleinen Ortschaft in Indiana. Vermutlich mitten im Nirgendwo. Mein innerer Antrieb ist gleich null. Ich interessiere mich im Prinzip für nichts und niemanden mehr nach der Pleite mit Jack! Doch nun habe ich dieser Mrs Norris bereits zugesagt, und meine Versprechen halte ich immer ein. Auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass ich selbst bei meiner Tante vermutlich noch weniger ausrichten kann als Mrs Norris selbst.
Zuletzt bin ich Tante Lucy wie gesagt begegnet, als ich noch ein kleines Kind war. Sie hatte wieder geheiratet und ist mit ihrem neuen Mann fortgegangen. Das ist alles, was ich weiß. Seitdem hat niemand aus meiner Familie mehr etwas von ihr gehört. Schließlich hatte sie den Kontakt zu allen abgebrochen. In diesem einen Punkt sind wir uns demnach also ähnlich.
Während der langen Fahrt habe ich viel Zeit zum Nachdenken. Zwischendurch muss ich mich zusammenreißen und die Tränen zurückdrängen, so aufgewühlt bin ich immer noch, als Jack und die neue Kellnerin vor meinem geistigen Auge aufblitzen. Ich habe die beiden in unserem Schlafzimmer überrascht. Jack dachte, ich hätte die Abendschicht im Deep purple und würde vor zwei Uhr nachts nicht zu Hause sein. Tja, da hatte er falsch gedacht. Ich kam nach Hause, bepackt mit ein paar Einkäufen für ein leckeres Abendessen. Dann hörte ich Stimmen. Als ich die Tür zum Schlafzimmer öffnete, sah ich sie. Nackt. In unserem Bett! Wieder und wieder schiebt sich das Bild von Jacks auf und abschwingendem blanken Arsch in mein Gedächtnis, wie er es ihr besorgt. Und jedes Mal wird mir übel davon.
Ich stehe vollkommen neben mir. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Mehr als einmal frage ich mich während der eintönigen Fahrt, warum ich mir diese Reise antue. Ob meine Entscheidung zu meiner Tante zu fahren richtig war. Wäre es nicht besser gewesen, erst einmal selbst wieder auf die Beine zu kommen und sie in ein paar Wochen zu besuchen? Doch ich weiß auch, der Abstand wird mir guttun, um mich neu zu sortieren. Und ist das nicht allemal ein besserer Plan, als weiterhin auf Catherines Sofa in Selbstmitleid zu zerfließen? Außerdem kann ich jetzt nicht einfach stumpf die nächsten Wochen Netflix durchsuchten, jetzt, wo ich weiß, dass es dort draußen jemanden gibt, der meine Hilfe gebrauchen könnte.
Hier bin ich also. Habe den Großteil meines letzten Geldes in Benzin investiert und treibe meinen guten, alten Toyota zu Höchstleistungen an, mitten auf einer öden Landstraße zwischen Mais und Getreide. So im Nachhinein gesehen, wünschte ich, ich hätte etwas Geld für schlechte Zeiten zur Seite gelegt und nicht alles in den letzten Jahren für Klamotten und Konzertkarten ausgegeben. Doch das ist jetzt leider nicht mehr zu ändern. Mein Fuß tritt beherzt das Gaspedal durch, wild entschlossen, das Leben meiner Tante und anschließend mein eigenes wieder auf die Reihe zu bekommen.
Meine Gedanken driften wieder zum Deep purple. Je mehr Meilen ich hinter mir lasse, desto stärker wird mir bewusst, dass ich eigentlich mehr um die Music Bar trauere als um Jack. Laut seufze ich auf, als mir klar wird, wie sehr ich die Arbeit dort vermissen werde. In den letzten vier Jahren ist mir dieser Ort zu so etwas wie einer Heimat geworden.
Im Radio spielen sie gerade 30 Seconds to Mars. Ich erinnere mich an die wundervolle Coverband, die erst vor einigen Wochen bei uns einen Auftritt hatte. Es war nicht ganz leicht, an sie heranzukommen und sie davon zu überzeugen, in unserer kleinen Music Bar aufzutreten, doch letztendlich habe ich es irgendwie geschafft, sie zu überreden. Der Abend war unglaublich. Der ganze Raum mit Menschen gefüllt, die Musik genauso sehr lieben, wie ich es tue.
Um mich von den schmerzenden Erinnerungen abzulenken, klopfe ich den Takt des Liedes auf dem Lenkrad mit und die bereits von der Sonne ausgeblichene Hawaii-Wackelfigur, die auf der Armatur klebt, lässt dazu die Hüften schwingen.
Ein paar Meilen vor meinem Ziel sehe ich plötzlich im Rückspiegel ein Blaulicht aufblitzen. Fast schon denke ich, es ist nur eine Halluzination und nehme mir fest vor, mich wieder in den Griff zu bekommen und ab sofort wieder die Nächte durchzuschlafen. Aber das Aufheulen der Sirene lässt mich schließlich zu dem Entschluss kommen, dass dieses Polizeifahrzeug hinter mir tatsächlich echt ist.
»Scheiße. Was will der denn von mir?« Ich schnaube genervt auf, denn eine Polizeikontrolle in meinem aktuellen Gemütsstand ist das Letzte, was ich jetzt brauche. Doch der Streifenwagen hinter mir ist unerbittlich, daher bleibt mir schlussendlich nichts anderes übrig, als den Blinker zu setzen, die Geschwindigkeit zu drosseln und rechts ranzufahren.
Der Officer in seinem Wagen überholt mich und hält abrupt vor mir, sodass der Sand am Straßenrand ordentlich aufwirbelt und mein Auto und mich in eine heftige Wolke aus Staub hüllt. Ich muss husten, weil der Dreck durch die geöffneten Seitenfenster zu mir hereinweht und mir in der Lunge kratzt. So etwas kann dir auch wirklich nur auf dem Land passieren!
Nachdem der Staub sich etwas gelegt hat und ich wieder atmen kann, überprüfe ich mit einem schnellen Blick in den Rückspiegel mein Aussehen, noch bevor der Officer an mein Seitenfenster tritt. Dass ich heute schon einen weiteren Heulkrampf hinter mir habe, ist mir zum Glück nicht mehr anzusehen. Gut so. So kommt es, dass ich spontan beschließe, zu handeln und mich dem Officer von meiner besten Seite zu präsentieren, anstatt weiter in Selbstmitleid zu erstarren. Ich überprüfe im Rückspiegel noch einmal den Sitz meiner Haare. Ich sollte eigentlich genügend Sexappeal besitzen, um mit einem einfach gestrickten Dorfpolizisten fertig zu werden und mich aus dieser Verkehrskontrolle herauszureden. Ich habe nicht vor, mehr Zeit als nötig mit dieser leidigen Situation zu verplempern.
Der Polizist kommt auf mich zu. Innerhalb von Sekunden habe ich den Typen abgescannt. Ein stinknormaler Officer vom Land. Schätzungsweise Mitte zwanzig. Wohl ungefähr in meinem Alter. Allerdings gehe ich mal stark davon aus, dass er nicht, so wie ich, bis auf ein paar Mäuse im Portemonnaie und ein paar Klamotten mittellos ist, und sein Wohnsitz mit Sicherheit auch nicht Toyota heißt. Verdammt! Ich kann mir in meiner aktuellen Lage einfach keinen Strafzettel leisten.
»Ich weiß, Officer. Ich war viel zu schnell«, erkläre ich, noch bevor er ein Wort gesagt hat. »Ich war wohl in Gedanken. Bitte verzeihen Sie mir. Es wird nicht wieder vorkommen. Versprochen!« Dann beginne ich vorsichtig mit ihm zu flirten, indem ich meine Lacoste Sonnenbrille bis zur Nasenspitze hinuntergleiten lasse und ihm über den Rand der Brille so charmant wie mir möglich in die Augen schaue. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, während ich auf eine Reaktion von ihm warte.
»Guten Tag«, begrüßt er mich freundlich, aber neutral. Mein Augenaufschlag scheint ihn erst einmal nicht sonderlich zu beeindrucken. Im Gegenteil.
»Guten Tag, Officer«, erwidere ich seinen Gruß brav, ihn weiter lächelnd ansehend. Doch anstatt meinen Blick zu erwidern, schaut er ganz gemütlich über das Getreidefeld am Wegesrand, während er mit stoischer Ruhe und Gelassenheit Notizblock und Bleistift aus der Hemdtasche zieht. Erst nachdem dies vollbracht ist, widmet er mir wieder seine Aufmerksamkeit. Innerlich stöhne ich auf. Na wunderbar. Wenn der in dem Tempo weitermacht, wird das hier vermutlich ewig dauern.
»Ihnen ist also bewusst, dass Sie zu schnell gefahren sind?«
Irritiert sehe ich ihn an. »Äh, ja. Das sagte ich ja bereits. Und ich will das auch ganz bestimmt nicht wieder tun«, schnurre ich noch mal hinterher. Schließlich gilt es hier eine Runde für mich zu gewinnen und ich habe noch nicht die Hoffnung aufgegeben, heil aus der Nummer herauszukommen.
»Na, davon gehe ich mal aus. Ich hätte gerne Ihren Ausweis, Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere, bitte.« Obwohl ich innerlich angespannt bin, versuche ich mich an einem besonders freundlichen Lächeln, welches ich dem Officer schenke.
»Ist das wirklich notwendig?«, frage ich so lieblich ich kann. »Ich meine, ich habe Ihnen doch gerade schon mein Wort darauf gegeben, dass ich mich ab sofort an die vorgegebene Geschwindigkeit halten werde.« Er stutzt und schaut mir direkt in die Augen. Tapfer lächele ich weiter. Doch dem Officer scheint nicht einmal im Ansatz aufzufallen, dass ich versuche mit ihm zu flirten. Es lässt ihn völlig kalt.
»Das ist die gängige Vorgehensweise«, klärt er mich auf. »Bitte seien Sie jetzt so freundlich und...