Kapitel 1
Marie
In einem kleinen Hamburger Vorort an einem ganz normalen Freitag. Es ist gerade einmal 11:55 Uhr. Der Feierabend ist noch in weiter Ferne. Lustlos etikettiere ich eine Jeanshose nach der anderen, um sie anschließend ins Regal zu räumen. Die Hintergrundmusik dudelt leise. Ich etikettiere schon eine ganze Weile. Seit heute Morgen, um genau zu sein. Karton für Karton. Diese öde Handlung typisiert eigentlich ganz gut mein Leben. Im Prinzip tue ich zurzeit nichts anderes, als mich von einem Tag zum anderen zu schleppen. Eintönig. Monoton. Pflichtbewusst. Und das nun schon seit einer viel zu langen Zeit. Irgendwie abgestumpft - doch so ist das nun einmal. Innerlich mir selbst weiter gut zuredend, das Richtige zu machen, lege ich die fertig etikettierte Jeans ins vorgesehene Regal und widme mich sofort wieder der nächsten. Jetzt bloß keine Gefühlsduselei. Das kann ich hier echt nicht gebrauchen. Heute Abend ist genügend Zeit, um sich im Selbstmitleid zu suhlen.
Tina, meine beste Freundin, die mir vor ein paar Wochen diesen Job hier besorgt hat, versucht gerade, eine besonders kritische Kundin von einem Oberteil zu überzeugen. Zum x-ten Mal probiert sie es an, und es steht ihr auch wirklich gut. Und nein. Sie wirkt keineswegs zu fett darin. Und ja, natürlich passt dieses Oberteil zu ihrer Hose. Bla, bla, bla . Probleme haben die Leute. Ich schmunzle in mich hinein, als ich den ungläubigen Blick meiner Freundin erhasche.
»Entschuldigen Sie bitte. Haben Sie kurz Zeit?«, höre ich jemanden hinter mir fragen. Während ich antworte, drehe ich mich zu der Person um.
»Ja, hab ich, was .« Abrupt bleibe ich stehen und sehe in zwei hinreißend blassblaue Augen. Sie gehören einem Mann, der erwartungsvoll vor mir steht und ganz sicher darauf wartet, dass ich meinen Satz zu Ende spreche. Doch das ist gar nicht so einfach, weil sein stählerner Blick mich so dermaßen gefangen hält, dass ich innerlich direkt nach Luft schnappen muss. »Ja, also. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«, stammele ich. Verstört lächele ich ihn an. Er lächelt zurück. Und was für ein Lächeln! Die Models in der Zahnpasta-Werbung würden vor Neid erblassen, könnten sie seine weißen Beißerchen sehen.
»Haben Sie die Jeans auch in 36er-Länge? Im Regal hab ich schon nachgesehen. Dort ist keine mehr.« Er hält mir eine dunkelblaue Jeans hin. Wie fremdgesteuert nehme ich sie entgegen und prüfe das Etikett.
»Ich kann gerne im Lager nachsehen, wenn Sie mögen?« Erneuter Blickkontakt. Boah, hat der Typ einen Augenaufschlag. Ich kann mich beim besten Willen nicht entscheiden, ob er jetzt anziehend oder abschreckend auf mich wirkt. In jedem Fall lässt seine bloße Präsenz mein Herz höher schlagen.
Unsicher drehe ich mich von ihm weg. Gehe ein Stück, dann drehe ich mich noch einmal zu ihm um. Eine Hand lässig in der Hosentasche vergraben, steht er da und sieht mir nach.
»Das ist nett von Ihnen.« Seine Stimme hat einen angenehmen, warmen Klang, als er die Floskel hinwirft. Meine Füße tragen mich weiter Richtung Lager, doch bei jedem Schritt fühle ich mich beobachtet. Und zwar von ihm. Mich noch einmal umzusehen traue ich mich aber nicht.
Kurze Zeit später komme ich mit der richtigen Hosenlänge wieder aus dem Lagerraum. Ich lege meine Hand auf die Türklinke, die in den Verkaufsraum führt, doch ich drücke sie nicht sofort hinunter. Meine Finger zittern leicht, und ich spüre, wie meine Hand feucht wird. Mein Herz hat mittlerweile begonnen, wie wild zu rasen. Verstehe ich jetzt mal so gar nicht und ärgere mich über mich selbst. Das ist doch einfach nur ein ganz gewöhnlicher Kunde, rede ich mir gut zu. Ein Kunde, der eine x-beliebige Hose von einer x-beliebigen Verkäuferin kaufen möchte. An einem x-beliebigen Tag, versteht sich.
Innerlich schimpfe ich mit mir. Es kann doch nicht sein, dass nur die bloße Anwesenheit eines Mannes mich so dermaßen aus der Fassung bringt. Vielleicht sollte ich doch den Rat meiner Freundin befolgen und mir endlich einen Psychiater suchen. Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass der an meinem verkorksten Leben auch nichts mehr richten könnte, doch so kann es schließlich auch nicht weitergehen. Jetzt, in dieser Situation muss ich da allerdings alleine durch. Mal wieder.
Ich versuche, mich selbst zu beruhigen, indem ich einmal tief Luft hole und langsam wieder ausatme. Denn bloß weil der Typ jetzt zufälligerweise mal hübsche Augen hat und einen Augenaufschlag, der zum Niederknien ist, muss ich doch noch lange nicht so Herzklopfen bekommen. Und dabei gleichzeitig dieser eisige Blick. Ist dem überhaupt bewusst, wie einschüchternd der schaut? Man fühlt sich ja direkt wie eine Kleinkriminelle, wenn er einen so anstarrt. Warum macht der das?
Links von mir sehe ich mein Spiegelbild. Skeptisch betrachte ich mich selbst. Mein Gesichtsausdruck wirkt abgespannt und müde. Schon vor langer Zeit ist die Farbe aus meinem Gesicht gewichen und hat sich seitdem auch nicht mehr blicken lassen. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie ich wohl mit rosigen Wangen und leuchtenden Augen ausgesehen haben mag. Auch wenn Tina ständig behauptet, man würde mir den Stress der letzten Zeit kaum anmerken, so sehe ich selbst es doch ganz deutlich.
»Egal, was du jetzt auch denkst, Marie«, spreche ich mit meinem Spiegelbild. »Gib ihm einfach die Hose, und gut ist.«
Noch einen letzten abfälligen Blick in den Spiegel werfend, schreite ich festen Schrittes durch die Tür. Er muss mir vorhin gefolgt sein und hat direkt neben der Tür zum Lager auf mich gewartet. So gut ich kann, überspiele ich den Moment der Überraschung und sehe ihm fest in die Augen.
»Hier, bitte sehr. Sie haben Glück. Eine war noch da.« Er kommt einen Schritt näher und nimmt die Hose. Ich muss mich direkt zwingen, nicht sofort einen Schritt zurückzuweichen. Angespannt blicke ich in sein Gesicht. Ob man mir ansehen kann, wie durcheinander ich gerade bin?
»Klasse. Jetzt muss sie nur noch passen.« Er legt, während er abdreht, noch kurz zum Dank die Hand auf meine Schulter. Es geschieht unwillkürlich und ist sicherlich einfach nur nett gemeint - mehr eine Geste als gewollt.
Zum Glück bekommt er nicht mehr mit, wie ich nach Luft schnappe. Tausend Stecknadelköpfe piksen gleichzeitig auf meinen Körper ein. Von der Stelle aus, die er gerade eben berührt hat, geht ein Schaudern aus, das sich über den ganzen Rücken hinweg verteilt. Erstaunlicherweise ist es ein angenehmes Schaudern. Eines von der Sorte, von der ich fest glaubte, es niemals mehr fühlen zu können. Seit geraumer Zeit meide ich Körperkontakt - ertrage ihn nur noch schwer. Doch genau in diesem Augenblick habe ich Gänsehaut bis in die Zehenspitzen. Wie kitschig das klingt, ja. Doch was hilft es denn? Genau so fühlt es sich jetzt gerade an. Atmen, Marie, denke ich und zwinge mich, die Atmung wieder aufzunehmen, bevor ich noch hier im Laden vor allen Leuten in Ohnmacht falle. Wie fremdgesteuert und mehr aus Reflex, fühle ich nun selbst mit der Hand nach meiner Schulter. Komisch. Fühlt sich ganz normal an. Warum dann gerade eben diese Explosion?
Meine Augen sehen ihm nach. Das ist so unwirklich. Ich glaube nicht an solch einen Schwachsinn. Von wegen Liebe auf den ersten Blick. Das gibt es nur im Märchen oder bestenfalls im Schundroman. In der nächsten Buchhandlung oder gleich im Netz für ein paar Euro zu erwerben. Alles Fake. Alles Illusion. Wahre Liebe gibt es nicht! Trotzdem ertappe ich mich dabei, wie ich ihn klammheimlich beobachte. Sehe, wie er in der Umkleidekabine verschwindet, um die Jeans anzuprobieren.
Ich hingegen sollte mich wieder meinem Berg Jeanshosen widmen. Immerhin habe ich noch eine Menge Kartons vor mir, bevor der Feierabend naht. Mein Stehtisch steht nur ein paar Meter entfernt.
Auf dem Weg dorthin erkenne ich plötzlich Martin, der sich zwischen den Regalen an mich heranpirschen will. Das darf nicht wahr sein. Sofort drehe ich ab und versuche, ins Lager zu verschwinden, aber Martin war schon immer ein blitzschnelles Kerlchen. Flink wie ein Wiesel rast er auf mich zu und packt mich, ohne lange zu überlegen, unsanft am Oberarm. Bettelnd redet er auf mich ein.
»Marie, warte! Ich hab noch mal über alles nachgedacht. Ich kann mich ändern. Wirklich! Dass du gleich ausgezogen bist, war keine gute Idee. Wir sind doch ein Team. Bitte, komm zurück.« Hoffnungsvoll sieht er mich an. Nein. Die wahre Liebe gibt es wirklich nicht, kommt mir sofort in den Sinn. Was auch immer mich so lange bei Martin gehalten hat - es mag Gewohnheit oder die Angst vor dem Alleinsein gewesen sein, aber Liebe war es zu keiner Zeit. Angst. Ja, auch Angst. Zumindest in der letzten Zeit. Angst vor ihm!
Unsicher befreie ich mich. »Du bist verrückt. Ich komm nicht mehr zurück.« Martins flehender Dackelblick verschwindet, dafür formen sich seine Augen blitzschnell zu kleinen Schlitzen. Ich weiß, es war nicht das, was er jetzt von mir hören wollte. Die Schnapsfahne, die ihn umweht, verheißt zudem auch nichts Gutes. Es braucht nicht mehr viel, und Martin rastet aus. Damit mir hier im Laden nicht gleich dasselbe Schicksal droht wie auf meiner letzten Arbeitsstelle, versuche ich, ihn schnell zu besänftigen.
»Martin, bitte nicht hier. Ich verliere nur wieder meinen Job, wenn du jetzt Ärger machst.« Während ich dies sage, merke ich, wie meine Stimme zu zittern beginnt und ich mich ängstlich nach allen Seiten umblicke. Ich hoffe, meine Chefin sitzt gerade mit einem Vertreter in der Küche und dampft eine Zigarette. Nicht auszudenken, was los ist, wenn sie Martin hier sieht.
Martin redet auf mich ein,...