Schweitzer Fachinformationen
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Ich bin fünfzehn und wohne im 14. Arrondissement von Paris - logisch, als Bretone. Mit Nachnamen heiße ich Le Goff, aber bei uns sagt man Ar Gov. Ich trage eine Triskele am Handgelenk, an einem marineblauen Band. In einem Monat sind Osterferien, da fahren wir auf die Île de Groix, wo unsere Familie ursprünglich herkommt. Bis dahin muss ich noch zur Schule. Jetzt ist es gerade Mitternacht. Papa glaubt, dass ich schlafe, aber ich spiele ein Computerspiel. Mit dem Kopfhörer auf den Ohren kämpfe ich mich durch eine keltische Sage und entschlüssele Runen. Mein Avatar hat vor gar nichts Angst, er zuckt nicht mal mit der Wimper, wenn ihn etwas Unsichtbares berührt. So ein Mann wäre ich auch gerne, und ich hätte es vielleicht sogar werden können, wenn Claire nicht vor fünf Jahren dorthin abgehauen wäre, wo der Pfeffer wächst. Seitdem habe ich das Gefühl, bei mir läuft alles verkehrt herum, wie bei diesen Rückwärtsmarathons oder den Lachsen, die gegen den Strom schwimmen.
Papas Schlafzimmer liegt am anderen Ende des Flurs, deswegen ist die Gefahr, dass er mich erwischt, relativ gering. Mein Avatar überspringt einen Dämon, der mit den brennenden Kerzenfingern wackelt, um den verirrten Wanderer in der Heide zu verwirren. Plötzlich verschwindet das Spiel vom Bildschirm. Also, eigentlich gar nicht plötzlich, sondern stückchenweise, es ist unerklärlich, infernalisch unglaublich. Das Wort »infernalisch« habe ich in einem Buch entdeckt. Ich mag Wörter, Menschen, Ereignisse, die anders sind, untypisch, außergewöhnlich. Und ich hasse verlieren, aber das passiert, wenn mein Computer abschmiert. Nein, nein, nein, nicht so kurz vor dem nächsten Level! Die Figuren lösen sich auf, Pixel für Pixel, der Hintergrund zersetzt sich, mein Bildschirm wird schwarz. Ich darf nicht rumschreien, sonst wecke ich Papa auf. Ich hämmere auf die Tasten ein, checke, ob der Stecker rausgerutscht ist. Was ist hier los?
Ich unterdrücke die Erinnerung an Claire, wie sie Claude Nougaro singt, »Auf wacher Nächte schwarzer Leinwand ersinne ich mir Film um Film« verbiete mir, an sie zu denken, damit ich nicht losheule. Ich nehme den Kopfhörer ab und hänge ihn mir um den Hals wie eine Kette. Dann fahre ich mir durch die zerzausten Haare, schließe die Augen, massiere mir die müden Lider.
Kurz darauf hebe ich den Kopf. Was ist das für ein Lärm im Treppenhaus? Träume ich, oder hat da gerade wer geklingelt? Im Spiel kann es nicht sein, mein Computer hat sich verabschiedet.
Papa hat anscheinend aufgemacht, ich höre Stimmen. Wer könnte mitten in der Nacht bei uns vor der Tür stehen? Ich komme nicht dagegen an, mein erster Gedanke ist natürlich Claire, die ich nicht mehr Maman nenne, seit sie uns wie zwei Idioten hat sitzenlassen. Ist sie endlich zurück? Hat sie sich genug um die Kinder anderer gekümmert, werden wir wieder eine Familie, unbeschwert und glücklich? Muss ich nicht länger von ihr träumen, nur um sie beim Aufwachen aus meinem Kopf zu vertreiben? Tut nicht mehr jeder neue Tag weh?
Ich stoße meinen Stuhl zurück und vergesse dabei völlig den Kopfhörer um meinen Hals, der Stecker leidet, als ich ihn rausreiße, aber das ist mir scheißegal. Ich renne auf den Flur. Die Wohnungstür steht sperrangelweit offen, das Treppenhaus dahinter ist dunkel. Die Stimmen kommen aus Papas Schlafzimmer. Ich sprinte los. Es sind drei, zwei Männer und eine Frau, ganz in Weiß, bis auf das blaue RETTUNGSDIENST auf dem Rücken. Claire ist nicht dabei. Die Fremden beugen sich über Papa, der nackt auf dem Bett liegt. Seine Augen sind offen, aber er sieht mich nicht. Auf seinem Oberkörper kleben Elektroden, die mit einem Defibrillator verbunden sind. Ich kenne die Dinger, wir hatten einen Kurs in der Schule. Im Pausensaal und in der Turnhalle hängt einer. Wie im Fernsehen ruft die Frau: »Und weg!« Die beiden Männer heben die Hände, um zu zeigen, dass sie Papa nicht berühren. Die Frau drückt einen Knopf, Papa zuckt zusammen, die Linie auf dem Bildschirm schlägt aus, dann wird sie wieder flach.
Ich muss wohl irgendein Geräusch gemacht haben, denn die Frau dreht sich um und bemerkt mich. Sie gibt dem schlanken Mann mit den blauen Kulleraugen ein Zeichen. Der kommt auf mich zu und schiebt mich zurück auf den Flur. Ich protestiere:
»Das ist mein Vater, ich will bleiben!«
»Wie alt bist du?«
»Fünfzehn.«
Ich wirke älter, weil ich so groß bin, ich hätte schwindeln sollen. Der Mann lächelt mich an. Sein Name steht auf seinem Kittel: Dr. T. Serfaty.
»Ich heiße Thierry. Zu wievielt wohnt ihr hier?«
»Zu zweit.«
»Nur du und dein Vater?«
»Ja, Herr Lord.«
Das ist mir einfach rausgerutscht. Ja, Herr Lord, so wie Louis de Funès es ständig in Fantomas bedroht die Welt sagt. Papa hat mir alle seine Filme geschenkt, ich kenne sie auswendig.
Durch die geschlossene Schlafzimmertür höre ich: »Ist das Adrenalin drin? Dann probieren wir's noch mal. Und weg!«
»Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser haben?«, fragt Dr. Thierry.
Das kann ich ihm schlecht abschlagen. Er folgt mir in die Küche.
»Wir warten besser hier, dann sind wir aus dem Weg«, meint er.
Wir setzen uns an den Tisch. Er ist schon fürs Frühstück gedeckt: die Schale mit Miraculix und seinem Zaubertrank für Papa, die mit Enez Groe - Île de Groix auf Bretonisch - für mich.
Das alles passiert gar nicht wirklich. Gleich kommt Papa rein und schimpft mich aus, weil ich nicht im Bett liege, lässt mich bis zu den Ferien für die Schule schuften, bis zu dem magischen Tag, an dem wir auf der Breizh Nevez zur Insel schippern.
Ich greife nach meinem Kopfhörer, er ist nirgendwo eingestöpselt, aber ich setze ihn trotzdem auf, um mich von der Welt abzuschotten. So bleiben wir sitzen, Dr. Thierry und ich, und schweigen uns an. Irgendwann gesellt sich die Frau zu uns. Dr. D. Valbone laut ihrem Kittel. Sie ist hübsch und erschöpft, die blonden Haare kleben ihr an der Stirn, und unter den hellen Augen prangen dunkle Ringe. Papa mag Blondinen, er ist ganz bestimmt aufgewacht, um sie anzuschauen. Sie bedeutet mir, den Kopfhörer abzusetzen, ich gehorche.
»Wo ist deine Maman?«
Sie hat das verbotene Wort benutzt.
»Wir haben keine Ahnung, aber wir brauchen sie nicht, wir kommen sehr gut alleine klar!«
Sie wechselt einen Blick mit Dr. Thierry, der den Kopf schüttelt. Ich erkläre:
»Meine Mutter ist orthopädische Chirurgin. Sie ist vor fünf Jahren zu einer humanitären Hilfsmission aufgebrochen, sie kommt zurück, wenn sie damit fertig ist. Fragen Sie doch meinen Vater! Muss er ins Krankenhaus?«
Sie beugt sich vor und zertrümmert mit sanfter Stimme mein Leben.
»Es tut mir leid. Wir haben getan, was wir konnten, aber es war zu spät. Wir haben versucht, ihn wiederzubeleben, aber sein Herz hat nicht reagiert. Er war einfach zu krank.«
Ich glaube ihr kein Wort. Sie redet von jemand anderem.
»Mein Vater ist kerngesund!«
»Er war bei einem Kardiologen in Behandlung, es gab schon erste Warnzeichen.«
»Nein, Sie müssen sich irren.«
Dr. Valbone legt die Hände flach auf den Küchentisch. Dabei kippt die Miraculix-Schale um und rollt los. Ich fange sie wieder ein und stelle sie in sicherer Entfernung ab. Papa würde Frau Doktor umbringen, wenn die Schüssel kaputtgeht, sie ist ein Geschenk von Claire.
»Wie heißt du?«, fragt Dr. Valbone.
»Dom.«
»Ich heiße auch Dominique. Dein Vater war in Behandlung, vielleicht wollte er dich nicht beunruhigen. Wir können nichts mehr für ihn tun.«
Ich habe nicht die Kraft, ihr zu sagen, dass Dom nicht die Abkürzung für Dominique ist. Meine Lebenslust zerbirst in spitze Scherben, die sich in mein Herz bohren. Ich brülle:
»Machen Sie weiter! Sie dürfen keine Zeit verlieren!«
»Wir haben alles gegeben. Es ist vorbei. Es tut mir wirklich leid.«
Das ist unmöglich, undenkbar. In Wahrheit schlafe ich bestimmt, und das Ganze ist nur ein Albtraum. Dr. Dominique schaut mich mit ihren hübschen Augen eindringlich an.
»Dein Vater ist tot, Dom.«
Alles in mir zerfällt. Papa ist »in den suet gegangen«, wie man auf der Île de Groix sagt, in den Südosten, wo der von den Seefahrern gefürchtete Wind weht, wo der Nebel hängt. Er hat die Taue gekappt. Ich bin fünfzehn, Claire ist abgehauen, Papa hat eben seine letzte Reise angetreten. Jetzt bin ich ganz allein.
»Wo ist die Frau, die uns aufgemacht hat?«, fragt Dr. Dominique.
»Welche Frau?«, frage ich zurück. »Es gibt nur Papa und mich.«
»Als das Herz deines Vaters versagt hat, war er mit einer Frau zusammen. Sie hat den Notruf gewählt, uns reingelassen und ins Schlafzimmer geführt. Dann ist sie verschwunden.«
Ich reiße die Augen auf. Sie dachte, diese Frau wäre meine Mutter. Und ich war so naiv zu glauben, Papa hätte niemanden außer mir.
»Kennst du sie nicht, Dom?«
Ich schüttele den Kopf. Die Wohnung ist nicht besonders groß, wir suchen sie, finden aber keine Spur von ihr, sie hat sich in Luft aufgelöst, wie mein Computerspiel.
»Hat sein Herz ihretwegen versagt?«
Dr. Dominique weicht der Frage aus.
»Es hätte jederzeit passieren können, beim Gehen, Schlafen, Fernsehen.«
Er war nackt im Bett mit einer Fremden, die haben bestimmt nicht Monopoly gespielt. Ich hatte auch schon Freundinnen, eine Schwedin in den letzten Sommerferien und...
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