Anna Kügler
Seidiges Haar
Ich wusste, dass etwas faul war, als mich abends auf dem Esstisch ein Glas Whisky erwartete, und zwar neben einem Zettel, auf dem stand: Trink erst mal was, Paps, und komm dann ins Wohnzimmer.
Nach all den Jahren kannte ich meine Töchter gut genug, um ihren Worten Folge zu leisten. Sicherheitshalber goss ich mir noch ein zweites Glas ein, bevor ich die gute Stube betrat.
Dort saßen meine acht Töchter auf Sofa und Sessel versammelt und guckten mir betreten entgegen.
»Äh, Paps«, fing Marta an. Sie war die Älteste und die anderen bewunderten sie für ihre drei Minuten Vorsprung vor Sally. »Sei bitte nicht sauer.«
»Du hast doch was getrunken, oder?«, vergewisserte Angie sich.
Vielleicht sollte ich demnächst mal ein Gespräch darüber führen, dass Alkohol keine Probleme löste. Bei dem Anblick, der sich mir bot, wünschte ich mir allerdings, viel mehr als nur ein Glas Whisky intus zu haben.
Die Mädchen sahen aus, als hätten die Achtzigerjahre ein Comeback gefeiert und dabei die doppelte Dosis an Haarspray verwendet - um anschließend fröhlich ein paar Cheerleader-Pompons in die Luft zu jagen, auf den Köpfen meiner Kinder zu befestigen und das Ergebnis dann Frisur zu nennen. Das Whisky-Glas entglitt meinen Fingern.
June rollte sich von der Couch und fing es auf, bevor es den Boden erreichte. Nicht ein Tropfen Alkohol wurde vergossen. Mit reumütigem Gesichtsausdruck gab sie es mir zurück. »Nicht sauer sein in«, bat sie kleinlaut.
Ich brauchte einen Moment - und einen großen Schluck -, um meine Stimme wiederzufinden. »Was ist hier passiert?«, fragte ich dann - nicht gerade originell, aber man sah auch selten seine Kinder mit explodierten Dauerwellen auf dem Kopf.
Auf dem Sofa gab es ein allgemeines Ellbogengeschubse, an dessen Ende Marta sich räusperte. »Na jaaa«, fing sie an und gab sich dabei sehr erwachsen. Dass ihre Haare aussahen wie ein geplatztes Sofakissen, half nicht. »Weißt du, Paps, es gibt doch diese App.«
»MoonTok«, warf Carla hilfsbereit ein. »Du weißt schon, mit diesen Videos.«
Oh, ganz toll. Ich scheuchte Sina und Bella mit einer Handbewegung vom Sessel runter und setzte mich. »Ich ahne Furchtbares.«
Nora grinste hilflos unter ihrer gruseligen Puschelfrisur. »Jaaa, Paps, aber du siehst das völlig falsch.«
Was gab es daran denn bitte falsch zu sehen? Eine riesige Onlineplattform, auf der junge Werwölfe sich dämliche Videos schickten, in denen sie beinahe von Menschen bei der Verwandlung gesehen wurden oder versuchten, in Wolfsgestalt Menschendinge zu bedienen, zum Beispiel Fahrstühle, Computer oder so etwas Simples wie Besteck.
»Na, ich weiß ja nicht«, fing ich an, doch ich kam nicht weit.
»Neiiiin, Paps, das ist total wichtig!«, unterbrach Marta mich und fand zustimmendes Nicken bei all ihren Schwestern. Was eine Überraschung. »Wir haben doch sonst sooo wenig Möglichkeiten, uns zu connecten.«
Mein angeschickertes Hirn brauchte einen kleinen Moment, um das zu übersetzen. »Wieso?«, wollte ich dann wissen. »Es gibt mehr als genug Treffpunkte für Untote.«
»Jaaa, Paps, aber die sind alle sooo analog!« Marta rollte mit den Augen, als sei es eine große und unfassbare Zumutung, mal bei Vollmond nach draußen zu gehen. »Wir brauchen doch auch online ein paar Friends!«
Äh, ja, wenn sie das sagte. Aber das erklärte noch nicht alles.
»Wie dem auch sei .« Ich tat so, als hätte ich die Unterhaltung bisher dominiert. »Was ist denn jetzt mit euren Haaren?«
»Na, Paps, da gab es so ein Video«, murmelte Sina.
»Einen Lifehack!«, warf Nora ein. »Das funktioniert sonst immer!«
Wollte ich wirklich darüber nachdenken, wie viele dieser >Lifehacks< meine Töchter schon ausprobiert hatten? Vielleicht sollte ich nächsten Vollmond doch besser das Kabel vom WLAN-Router durchkauen.
»Und?«, hakte ich nach. Ich hätte echt gern den Ton eines bösen, gefährlichen Leitwolfs angeschlagen, aber irgendwie klang ich dann doch wie ein alleinerziehender Vater, der dringend eine Mütze Schlaf brauchte.
Trotzdem genügte es, um meine Töchter zur Kooperation zu bringen. Marta holte nach ausgiebigen Blickwechseln ihr Smartphone aus der Handtasche - das Teil war so groß, dass sie es mit beiden Händen halten musste - und tippte darauf herum. Dann reichte sie es mir. »Hier, Paps«, sagte sie und klang dabei wie ein Wolf, der unter einer undichten Regenrinne stand. »Es tut uns echt leid, weißt du.«
»Wir wollten doch nur -« Was immer Angie nur wollte, wurde von einem Schluchzer unterbrochen. Carla schlang einen Arm um ihre Schultern. Na, immerhin trösteten sie sich gegenseitig. Das war doch ein Anfang.
Zögerlich warf ich einen Blick auf Martas Handy. Auf dem Display war eine junge Frau zu sehen, die einen Filter über ihr Video gelegt hatte, der sie mit Hundeohren versah. Wie witzig. Sie strahlte, trug eine viel zu tief ausgeschnittene Bluse und erzählte irgendwas über flauschiges Haar. Ah, so langsam verstand ich, worauf das hinauslief. »Echt jetzt?«, stöhnte ich, noch bevor die Wolffluencerin im Smartphone auf den Punkt kam. »Ich dachte, ihr wärt schlauer.«
»Maaann, Paps!«, jammerte Marta. »Guck wenigstens bis zum Ende!«
Wer war ich, da zu widersprechen? Ich schluckte einen weiteren bösen Kommentar runter und guckte weiter zu, wie die Wölfin im Handy ihre Haare mit etwas wusch, das dem Etikett nach Weichspüler war.
»Du weißt doch, dass Menschenhaarpflegeprodukte bei uns nichts bringen«, jaulte Sina. »Und was ist denn so schlimm daran, seidiges Haar zu wollen?«
»Gar nichts«, antwortete ich automatisch und starrte weiter aufs Handy. Die Wolffluencerin schüttelte gerade ihre - ja, okay - seidigen Haare und hielt eine Flasche Weichspüler in die Kamera. Echt jetzt? »Aber, Mädels . Weichspüler?!«
Es gab eine ganze Menge verlegenes Gescharre mit den Füßen, bis Marta sagte: »Na jaaa . Es war einen Versuch wert, oder?«
Wenn ich mir ihre Frisuren so ansah, dann nicht, nein.
»Und, Paaaaps .« Angie dehnte das letzte Wort beunruhigend lang. »Weißt du, wir schämen uns ja. Und du könntest uns jetzt eeecht mal einen Gefallen tun.«
Sofort blinzelten mir acht große, herzzerreißende Augenpaare entgegen. Das war nicht fair! Wie sollte ich den Mädchen so denn irgendwas abschlagen?
»Was wollt ihr?«, fragte ich und fühlte mich von den lieben Blicken und dem hoffnungsvollen Lächeln in die Defensive gedrängt.
»Na jaaa«, meinte Marta, die ohne ihre dämliche Explosionsfrisur bestimmt eine hinreißende Politikerin abgegeben hätte. »Wir können morgen nicht in die Schule. Ist ja klar. Alle würden uns auslachen.«
»Und das würde dem Ruf des Rudels schaden!«, legte Carla eifrig nach. So begeistert, wie sie das sagte, könnte sie auch mit heraushängender Zunge und wedelndem Schwanz vor mir sitzen.
»Aber ihr würdet vielleicht etwas daraus lernen«, meinte ich und gab mir wirklich große Mühe, entschlossen zu klingen. »Zum Beispiel, dass ihr euch nicht jedem dummen Trend im Internet anschließen müsst. Und dass ihr die Folgen eurer eigenen Handlungen selber tragen müsst!« In diesem Fall auf dem Kopf. Selbst schuld.
Ein großer Chor von »Ooooh nein, Paps!« über »Aber Paaaaps!« bis zu »Paaaps, das kannst du nicht von uns verlangen!« erklang. Unglaublich, wie einig sie sich sein konnten, wenn sie nur wollten. Normalerweise führte schon das Abendessen zu Beißereien unter den Mädchen.
»Oh doch, ich kann!«, behauptete ich und nahm noch einen großen Schluck Whisky.
Das half nicht gegen acht Augenpaare, in denen Tränchen schimmerten. Acht zitternde Unterlippen. Acht Gesichter, in denen die Angst stand, ausgelacht zu werden.
»Nein, Mädels.« Ich versuchte, meinen Standpunkt zu verteidigen. »Das ist nicht okay! Ich kann euch doch nicht allen für morgen eine Entschuldigung schreiben.«
»Schreib, wir haben Flöhe!«, schlug Sina vor. »Oder irgendwie so was!«
»Wir brauchen nur zwei, drei Tage, um unsere Haare in Ordnung zu bringen!«, fügte Nora hinzu.
Und schon waren es drei Tage. Das wurde ja immer besser. Aber diese großen flehenden Augen . »Guckt nicht so!«, wehrte ich ab. »Das ist nicht fair!«
»Das Leben ist nicht fair!«, rief Marta. »Und die Schule ist es auch nicht. Biiiitte, Paps, nur drei Tage! Wir lassen uns auch die Hausaufgaben...