Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Mark Costello
Anfang 1989 bekam ich einen Anruf von David Wallace, meinem besten Freund, mit dem ich mir im College ein Zimmer geteilt hatte und der gerade wieder bei seinen Eltern wohnte. Er wollte nun im Herbst das Studium der Ästhetik wiederaufnehmen und sich auf den langen Marsch Richtung Promotion und Wunschkarriere Philosophieprofessur auf einem üppig grünen und verträumten Campus begeben. Da ich schon in Boston wohnte (ich bin gebürtiger Bostoner), schlug er vor, wir könnten doch wieder zusammenziehen.
Im April 1989 fanden Dave und ich eine Wohnung im ersten Stock, die zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine Küche hatte (in der wir vielleicht zweimal gekocht haben), und das alles für sechshundert Tacken im Monat. Die Wohnung lag an der Houghton Street in Somerville an der Grenze zu Northeast Cambridge mit seinen ethnischen Minderheiten, einer Gegend mit durchhängenden Dächern, Holzschindelverkleidungen und tiefen Eingangsterrassen, den typischen zweistöckigen Häusern von Boston. In den engen Straßen verliefen Drähte von einer Seite zur anderen, Telefonkabel und Wäscheleinen. Die Gärten waren klein und zubetoniert und wurden von Bulldoggen und Madonnen bewacht.
Dave kam wie immer mit einem kaputten Umzugskarton an, der von Büchern überquoll. An der Uni hatten wir jede Menge Comedy-Texte geschrieben, aber Grundlage unserer Freundschaft war immer das gemeinsame Lesen gewesen, wir hatten uns Taschenbücher hin- und hergereicht wie Kartoffelbrei bei Tisch. Nathanael Wests Tag der Heuschrecke in einem Band mit Miss Lonelyhearts war das erste Buch, das Dave an Tag eins auspackte, noch bevor er seine Handtücher so faltete, wie er das mochte. Dann Die Stunde der Bestie, Joan Didions Essays aus den 60ern mit ihrem Hauch von Yeats und den Bakchen[1]. Auch für Vollmanns Rainbow Stories hatte er eine Schwäche - keine Erzählungen, sondern Reportagen, und wenn man sich das Milieu mal anschaut (Ausnüchterungszellen, Sexshops, Prostituierte), kommt da auch nicht viel Regenbogenstimmung auf. Aber den Großteil unserer Lektüre bildete eine Gruppe kulturkritischer Gripsgiganten: Todd Gitlin[2] über das Fernsehen, Greil Marcus über Elvis und »Rassen«-Musik und der absolute Held unserer Wohnung, Lester Bangs[3].
Signifying Rappers ist einem L. Bangs gewidmet, was sich wie eins von Lee Harvey Oswalds[4] Pseudonymen in Dallas anhört, womit aber einfach nur Leslie Conway »Lester« Bangs gemeint ist, geboren 1948 im kalifornischen Escondido als Kind von Anhängern Woody Guthries[5], Staubschüsslern[6], die es nach Westen verschlagen hatte. Erzogen von einer nervenaufreibend strenggläubigen Mutter, produzierte Bangs schon an der Highschool am laufenden Meter groteske und beredte Berichte über Surfermusik und frühen kalifornischen Grunge. Mit einundzwanzig schrieb er für den Rolling Stone, wurde aber nach wenigen Jahren gefeuert, weil er gegen alles und jeden rebellierte. Mit dreiunddreißig starb er an einer Medikamentenunverträglichkeit. Seine streitsüchtigen Schriften zum Rock erschienen 1988 - also genau zum richtigen Zeitpunkt, um uns umzuhauen - in einer (von seinem engen Freund Greil Marcus herausgegebenen) gewichtigen Sammlung mit dem Titel Psychotische Reaktionen und heiße Luft.
Psychotische Reaktionen war eine Zusammenstellung von Bangs' wöchentlich veröffentlichten Plattenbesprechungen, Konzertberichten, Liner Notes und langen Essays über Funk, Punk, Metal und New Wave, die im Rolling Stone, in Creem und der Village Voice erschienen waren. Wie ein zorniger Dschungelgötze (ein zorniger Musikkritiker? ein zorniger Plattenrezensent?) schien Bangs von den Dorfbewohnern des Village irgendetwas zu fordern: Debatten, Zustimmung, Empörung, Jungfrauenopferungen. Er war alles, was junge Männer von einem Helden erwarteten; eine Art Belushi: charismatisch fett und ungekämmt, mit Koteletten und dem coolsten Fu-Manchu-Bart der westlichen Hemisphäre. Wenn er mal aus dem Hamsterrad ausstieg, erinnerte seine beste Prosa an den jungen Saul Bellow - derb und slanglastig, aber rhythmisch elegant. Charles Lamb[7] mit Prisen von Bugs Bunny, Groucho Marx und ein bisschen Tripper. Wie so viele Schriftsteller hegte Dave fast schon angsterfüllte Ressentiments gegen die sechs oder sieben einflussreichen Literaturkritiker des Landes und freute sich immer diebisch, wenn Bangs in seinen Besprechungen gegen die Vorstellung von Kritikern als Priestern des Gruppengeschmacks wetterte. Wenn ich, LB, der Fettsack mit den Glubschaugen, sage, ein Album ist gut, echt, wahr, authentisch und der Inbegriff des Zeitgeists, und dich und deine Lemmingsfreunde dazu bringen kann, es vom Fleck weg zu kaufen, ist dieses Purzelbaumschlagen des vorfabrizierten Zeitgeists dann nicht irgendwie schräg ? Leer? Hohl? Zum Heulen? Bangs ging sogar noch weiter und hielt fest, dass diese Ironie wieder weitere Ironien zeuge. Indem er gegen das durchkommerzialisierte Tamtam der Besprecherei rebellierte, steigerte er den eigenen Marktwert als Kritiker. Je öfter er sagte, hört nicht auf mich, desto mehr taten wir genau das. Aber Bangs wurde nie zum Zyniker. Er wuchs über seine anfängliche Außenseiterrolle als aufgeblasener Liebhaber hinaus und reifte zu einem schwermütigen und satirischen Molière, verlor aber nie den Glauben an die Fähigkeit des Pop, uns näher zusammenzubringen.
Eins ist komisch: Seine beste Prosa schrieb Bangs, wenn er unzufrieden war. Wenn er auf eine Band stieß, die er wirklich liebte, strauchelte er mit seinen Satzperioden wie einst Charles Lamb. Dann brauchte er die nicht mehr, sondern schickte dem Schöpfer Dankesbriefe für die Musik, die er liebte. Unverblümt. Ächzend, grunzend und knurrend. Und die Botschaft seines Grunzens war: ES IST GUT, AM LEBEN ZU SEIN.
Als ich Dave zusagte, mit ihm zusammenzuziehen, erzählte er mir nicht, dass er ein paar Monate zuvor, im Oktober 1988, versucht hatte, sich mit Tabletten umzubringen. Er hatte seine Gründe dafür, es mir zu verschweigen. Zweimal hatten wir an der Uni Daves Zusammenbrüche miterlebt und den Gescheiterten nach Illinois zurückziehen lassen. Freundlichkeiten oder Nettigkeiten hielt er nicht aus. Als anständiger Junge aus dem Mittleren Westen kam er nur mit Höflichkeit klar. Liebe war das andere alles verschlingende Extrem. Aber zwischen diesen beiden gab es auf dem umfassenden Radiospektrum der Menschheit zwei miserable Mittelwellesender namens die Freundlichen und die Netten, die anscheinend massenhaft Werbung brachten und Bands wie Mr. Mister[8] spielten. Dave verschwieg mir den Suizidversuch auch, weil er Spaß haben wollte, verdammt, und das Halbgare freundlicher Gesten nicht ausstehen konnte.
Lester Bangs widmete sich erklärtermaßen dem Thema Depression. Er plädierte für ein Leben, in dem Urteilen, Beobachten, Lieben und Mitmachen im Mittelpunkt stehen, und Hören als Verschwören. Gruppen, die ihm etwas bedeuteten, hielt Bangs die Treue und verteidigte sie. Sein Plädoyer für Empathie webte er aus einem Stoff, der für Dave attraktiv und zugänglich war: der Musik in den Plattenläden und im Radio. Wir sollten unseren Popgöttern folgen und sie mit offenen Armen empfangen. Bangs drängte seine Leser, die Lektüre beiseitezulegen und in die Clubs und Drecklöcher zu gehen, wo der Bär steppte, von denen es beidseits des Charles River zum Glück nur so wimmelte. Dave ging lieber in Bars als in Clubs, aber mit Unterstützung des Heiligen Lester konnte ich ihn immer wieder zu musikalischen Streifzügen durch die Gemeinde überreden. 1989 kannte die Menschheit noch nicht die großen und gefräßigen Suchmaschinen von heute, Google, Yahoo, YouTube und Bing, aber an milden Freitagabenden in der brechend vollen City verfügten wir über eine andere, lebensvergrößernde Suchmaschine. Sie nannte sich Gehen. Wir wohnten zwei Blocks von der Men's Bar am Inman Square entfernt, eigentlich einem Veteranentreff, der in den 70ern zu Bostons Heimstätte des Punk geworden war. Das Western Front an der Western Avenue war die beste Adresse für Ska und Reggae nördlich von New York City, wo sich Gangmitglieder mit Dreadlocks und weiße Kids mit Hanfponchos in Dope-Schwaden zur Musik des neusten Albums von Burning Spear[9] verbrüderten. Es gab das Green Street für Chicago Blues und die Cantab Lounge für R&B, eine glorreiche Wiederbelebung der Stax-Zeiten[10], wo Frauen mit Beehive-Frisuren, die mal bei den Vandellas gesungen hatten, auf einer winzigen und irgendwie nackt machenden Bühne »I've Been Loving You Too Much« röhrten. Im Plough & Stars wurden irisches Liedgut und beatmäßige Lyrik geboten; Weiße spielten auf Steel-Gitarren kontrapunktischen Robert Johnson[11].
Stadteinwärts an der Massachusetts Avenue lag der Kellerclub Wally's Café, wo die ganze Nacht Jazz und sonntags Funk gespielt wurden. Das Wally's war der kuschligste Club von allen, dabei hatte Miles Davis da schon in den 50ern gespielt, als ein Student am Priesterseminar der Boston University namens Martin Luther King im selben Block gewohnt hatte und gelegentlich reingeschneit war. An der Mass Ave lag auch Daves Lieblingsziel, das Middle East Café, das als Kebab-Imbiss für Gammlerstudenten angefangen hatte und dann durch die Hinterwand ins Nachbarhaus expandiert war, wo der Inhaber eine Grotte für...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.