Schweitzer Fachinformationen
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Kurz vor Weihnachten schneite es endlich.
»Musst du wirklich noch weg?«, fragte Eddie. »Das ist doch ein Sturm! Im Radio haben sie gesagt, es ist glatt, schwierige Verkehrsverhältnisse, haben sie gesagt, und allen wird geraten, zu Hause zu bleiben. Schau dir doch bloß mal den Schnee an. Man sieht ja fast nichts.«
Mass legte ihm eine Hand auf den Arm, ihre Stimme war ruhig und entschlossen.
»Eddie«, sagte sie freundlich. »Ich habe doch Spikereifen. Und ich fahre so vorsichtig wie irgend möglich, Ehrenwort. Ich will schließlich unversehrt zu dir nach Hause zurückkommen. Aber ich muss noch mal zum Laden, wir brauchen doch etwas zu essen. Oder wolltest du vielleicht fasten?«
Bei der Vorstellung, nichts zu essen zu haben, schüttelte Eddie seinen schweren Kopf.
»Du kannst zusammen mit Shiba hier zu Hause warten«, sagte sie. »Was möchtest du aus dem Laden? Du hast doch bestimmt Hunger.«
Eddie Malthe wischte sich mit dem Handrücken den Rotz ab. Er hatte die Figur einer riesigen Birne, seine Waden waren dürr, die Füße in den dicken Stiefeln, die er immer trug, waren hinten bei den Hacken schmal, dann wurden sie bei den Zehen um einiges breiter. Er hatte Füße wie eine fette Gans. Seine Fäuste waren groß und weiß, die Finger kurz und dick.
»Zimthörnchen«, sagte er entschieden.
»Alles klar, Zimthörnchen«, sagte die Mutter, »jetzt fahre ich. Sei lieb zu Shiba, zieh sie nicht am Schwanz. Ich weiß, dass du das machst, wenn du allein zu Hause bist.«
»Auf keinen Fall«, sagte Eddie, »großes Ehrenwort.« Und dabei freute er sich schon darauf, genau das zu tun. Wenn er Shiba am Schwanz zog, fing sie immer an zu winseln, während sie mit den langen Krallen über den Boden kratzte, um sich loszureißen.
»Denk an den Sicherheitsgurt«, mahnte er.
Die Mutter schob die Arme in ihren Mantel.
»Nicht dein Handy vergessen«, fügte er hinzu. »Ruf an, wenn du von der Straße abkommst, alarmier den Notruf. Jedenfalls, wenn du noch bei Bewusstsein bist.«
»Eddie«, sagte sie, »jetzt hör aber auf. So, setz dich brav aufs Sofa, in einer Dreiviertelstunde bin ich wieder zurück, das ist doch nicht schlimm.«
Eddie sah seine Mutter lange an. »Wenn du weg bist, wird es im ganzen Haus kalt«, klagte er. »Du weißt doch, wie das ist. Vergiss die Zimthörnchen nicht. Wenn die keine Hörnchen haben, musst du Kekse kaufen. Kekse von Pepita, mit Zitrone.«
Er starrte aus waidwunden Augen durch das Fenster. Die Scheiben waren blank geputzt, die Mutter hielt Ordnung. Er sah, wie der Wagen im Rückwärtsgang aus der Garage kam und dann auf die Hauptstraße abbog. Es schneite immer weiter, der Schnee wurde vom Sturm mitgerissen, weiter unten auf der Straße türmten sich hohe Schneewehen auf. In Gedanken betete er, dass alles gut ausgehen möge. Dass die Mutter unversehrt nach Hause kommen würde, mit Milch und süßem Gebäck. Der Hund lag vor dem gusseisernen Ofen und schlief mit dem Kopf auf den Pfoten. Eddie ging hinüber und zog Shiba am Schwanz, wie das seine Art war. Sie fing an zu winseln, rappelte sich auf und lief durch das Zimmer, suchte Zuflucht in der Küche. Eddie setzte sich aufs Sofa, griff nach der Tageszeitung und schlug sie auf der vorletzten Seite beim Kreuzworträtsel auf. Er schaffte die Kreuzworträtsel immer. An seinem Verstand war ja wohl nichts auszusetzen. Er holte sich einen Bleistift und fing an zu lesen. Waagerecht, »habsüchtig« mit sechs Buchstaben. Er schrieb das Wort »gierig« in die sechs Kästchen.
Der Hund lag bewegungslos in einer Ecke in der Küche, im Ofen bullerte es. Shiba war ein acht Jahre alter Labrador mit ziemlichem Übergewicht, und sie hatte nicht mehr lange zu leben, das hatte die Mutter gesagt. Ihr Körper war voller Knubbel, er konnte sie durch das gelbliche Fell ertasten, aber sie hatten keine Versicherung und konnten es sich nicht leisten, den Hund operieren zu lassen.
»Das Leben muss eben seinen Gang gehen«, sagte die Mutter oft. »Nichts ist von Dauer.«
»Das weiß ich«, erwiderte Eddie darauf. Und dann dachte er an den Tod der Mutter, denn auch sie würde ja eines Tages sterben. Und obwohl sie erst sechsundfünfzig war und er selbst einundzwanzig, war es doch so beängstigend für ihn, an das Ende zu denken, dass ihm heiß wurde und er sich schrecklich aufregte. Oft musste er sich die Hand aufs Herz legen, um es zur Ruhe zu bringen. »Altes Wort für Roma«, las er dann, und den dritten Buchstaben bekam er von »gierig«, es war ein »g«. »Zigeuner«, schrieb er. Er nahm immer zuerst die leichten Wörter. Danach sah er auf die tickende Wanduhr. In zwanzig Minuten würde seine Mutter mit den Zimthörnchen wieder da sein. Schon jetzt spürte er den Geschmack im Mund. Wenn sie nur welche hatten! Wenn die nur frisch und lecker waren! »Himmelsrichtung« mit sechs Buchstaben, das konnte »Norden« sein. Oder »Westen«. Und in jedem Fall hatte er dann auch das nächste Wort, nämlich »kreisförmig«, mit vier Buchstaben. Das musste »rund« sein. Bald war er bei den schwierigen Wörtern angelangt und gönnte sich eine Pause. Ging ans Fenster und starrte ins Schneegestöber hinaus, und dabei betete er zu Jesus Christus, wo immer der sich gerade aufhalten mochte. Mach, dass Mama das Schneegestöber überlebt. Denn hier sitze ich allein und warte auf Plätzchen. Es gibt doch nur uns beide. Du musst auf uns aufpassen.
Er ging hinüber zu Shiba in die Küche, riss sie am Schwanz und lachte schallend, als die Hündin aufsprang und ins Wohnzimmer floh. Dort kroch sie unter das Sofa und blieb keuchend liegen.
»Du feige Töle«, sagte er und lachte. »Wieso wehrst du dich nicht? Hast du keine Zähne im Maul?«
Dann setzte er sich wieder an das Kreuzworträtsel, lutschte am Bleistift. Das Wort für »Abschluss« machte ihm arg zu schaffen, es hatte vier Buchstaben.
Eine Dreiviertelstunde war vergangen, und die Mutter war noch immer nicht wieder da. Besorgt griff er zum Telefon und gab mit seinen fetten Fingern ihre Nummer ein. Aber er bekam nur eine Stimme, die sagte: »Dieser Anschluss ist derzeit nicht zu erreichen.« Wieder ging er ans Fenster und starrte hinaus ins Schneegestöber, es war dicht und weiß, die Sonne war nur ein bleicher, bescheidener Schimmer. Er wusste, dass die Mutter ihn später zum Schneeschippen hinausschicken würde, und wenn er etwas verabscheute, dann Schneeschippen. Sicherheitshalber rief er noch einmal an, bekam aber weiterhin diese fremde Stimme, die sagte, die Mutter sei nicht zu erreichen. Mehr als fünfzig Minuten waren bereits vergangen. Jetzt ist es passiert, dachte er verzweifelt. Jetzt sitzt sie mit der Nase im Airbag fest. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, seine Jacke überzustreifen und an der Straße entlangzulaufen, um die Mutter zu suchen. Aber dann, während er noch am Fenster stand, während er vor Angst die Fäuste ballte, sah er ihr Auto vorfahren. Die Scheinwerfer leuchteten ihm entgegen, und er stürzte hinaus in den Flur und dann weiter die Treppe hinunter.
»Du hast eine Dreiviertelstunde gesagt«, klagte er. »Ich hatte solche Angst.«
»Also bitte, Eddie«, erwiderte sie. »Nun tu mal nicht so dramatisch. Ich kann beim Fahren ja nicht telefonieren, und ich war schon fast zu Hause.«
»Hatten sie Hörnchen?«
»Ja«, sagte sie. »Das hatten sie, ich habe zwei Tüten gekauft. Schau mal, hier sind sie, jetzt kannst du es dir gemütlich machen. Stell die Milch kalt, ich will den Schnee von der Treppe fegen. Nachher, wenn du die Hörnchen gegessen hast, musst du unten Schnee schippen.«
Sie zählte sieben Hörnchen ab und legte sie auf einen Teller.
»Heute Abend bekommst du den Rest. Wir wollen doch ehrlich sein, du bist ganz schön dick. Ich weiß, du bist ein großer Junge, aber hundertdreißig Kilo ist zu viel, nur damit du's weißt. Übergewicht ist gefährlich. Eddie. Milch und Kuchen lagern sich wie Lehm in den Adern ab. Und dann reißt sich irgendwann ein dicker Klumpen los und wird ins Herz geschwemmt. Oder auch ins Gehirn, und dann kannst du nie mehr ein Kreuzworträtsel lösen.«
»Aber dann krieg ich die letzten Hörnchen heute Abend, nicht wahr?«, bettelte er.
»Ja«, sagte sie. »Versprochen. Aber du weißt, ich muss eben streng sein. Irgendjemand muss bei dir Ordnung halten, da sind wir uns doch einig.«
»Wir müssen ins Einkaufszentrum«, sagte er. »Ich brauche was zum Anziehen. Ich will den Pullover, den ich in der Zeitung gesehen habe. I Love New York.«
In der Nacht träumte er von Küken. Gelb, flaumig und weich wuselten sie auf ihren dünnen Beinchen herum. Er hob sie auf und ließ sie in einen Kochtopf mit Knoblauch und Butter fallen. Er träumte, dass sie dort blubberten, während sie zugleich piepsten und in dem kochenden Wasser zappelten. Als der Traum zu Ende war, fuhr er aus dem Schlaf hoch und lauschte dann zum Zimmer seiner Mutter hinüber. Manchmal sprach sie im Schlaf, manchmal stöhnte sie, aber meistens war es dort die ganze Nacht hindurch still. Er mochte es nicht, wenn seine Mutter schlief. Wenn sie nicht da war und auf ihn aufpasste, wenn sie nicht antwortete, wenn er sie ansprach, sondern nur dort lag und in der Dunkelheit atmete, außerhalb seiner Reichweite.
Immer wurde er zuerst wach, und dann lag er da und horchte auf seine Mutter, ob sie vielleicht wach sei. Er blieb ganz ruhig liegen, bis er die Toilettenspülung hörte, dann wälzte er sich aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer, riss den Vorhang zur Seite und starrte hinaus auf den neuen Tag, der ihm zuteilgeworden war. Danach ging er in die...
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