Schweitzer Fachinformationen
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Sie waren gerade beim Kuchen angelangt, da sackte Bankdirektor Berge am Tisch zusammen und fing an zu sterben. Es wirkte nicht echt. Er fasste sich nicht an die Brust oder an den Hals, nur seine Augen wurden groß und kugelrund, es wirkte restlos unnatürlich, künstlich, als führte er ein kleines Schauspiel auf. Gerade hatte er nach einer kleinen Dankesrede für die Einladung wieder Platz genommen. Erst lächelte mein Großvater noch, meine Großmutter ebenso; Herr Direktor Berge hatte ja nicht nur das Essen insgesamt gelobt, sondern nicht zuletzt Großmutters gewaltigen Gugelhupf mit einigen launigen Bemerkungen bedacht, und jetzt wirkte es noch einen Augenblick lang so, als machte er weiterhin Scherze. Seine Frau begriff als Erste, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
»Bjørn!«, rief sie, sprang auf und eilte ihm um den Tisch herum zu Hilfe. Bankdirektor Berge jedoch war schon nicht mehr ansprechbar, und als er im nächsten Augenblick die Gesichtsfarbe wechselte, wurde die Dramatik des Geschehens auch allen anderen bewusst. Er sank im Sitzen langsam nach vorn, war aber zu dick, um mit dem Gesicht auf dem Tischtuch zu landen; so fiel ihm nur das Kinn auf die Brust, begleitet von einem leisen, blubbernden Ächzen, und das war es im Grunde auch schon.
Einige sich unwirklich dehnende Sekunden lang saßen die übrigen Erwachsenen erstarrt um den Tisch herum, Frau Berge selbst schien einen Augenblick ganz still in der Luft zu stehen, wie an unsichtbaren Schnüren befestigt, als könnte auch sie nicht glauben, was wir alle nicht glauben mochten, doch dann riss sie sich los und war in der nächsten Sekunde an der Seite ihres Mannes. Noch einmal rief sie seinen Namen.
Jim und ich hatten neben der Küchentür an der Wand gestanden und der Dankesrede gelauscht, bereit, den Tisch abzuräumen. Großvater wollte als Erster aufspringen, schließlich war er der Gastgeber, doch er hatte kaum seinen Stuhl zurückgeschoben, da hatten wir uns schon auf Direktor Berge gestürzt.
»Komm, Sedd!«, rief Jim, »ihm geht's nicht gut!« Als Großvater bei Herrn Berges Stuhl angelangt war und Frau Berge immer noch verzweifelt rief, ob denn niemand ihr helfen könne, also ihrem Mann, da hatten Jim und ich ihn schon aufgerichtet; Jim schaute ihm einmal prüfend in die Augen, murmelte etwas in der Art von »Das sieht nicht gut aus, wir müssen ihn auf den Boden legen«, womit er entsetzte Rufe von Frau Berge und beruhigende oder ungläubige Bemerkungen seitens der anderen auslöste. Wir ließen Herrn Berge zu Boden gleiten und lösten ihm Krawatte und Kragen. Ich war Mitglied beim Jugendrotkreuz, hatte Erste Hilfe und Wiederbelebungsmaßnahmen erlernt und erkannte, dass jetzt wohl mein großer Augenblick gekommen war. Schon saß ich rittlings auf dem Brustkasten des beleibten, wild mit den Augen rollenden Mannes, der immer noch ein paar Ächzer und Pruster von sich gab. Mir war klar, dass es hier kein Zögern und Zaudern geben durfte, dennoch warf ich einen Hilfe suchenden Blick in die Runde der in Roben und Anzüge feierlich gekleideten Erwachsenen, um mich noch ein letztes Mal zu versichern, dass Doktor Helgesen, der Bezirksarzt, und seine Frau nicht anwesend, sondern leider zu einem nachösterlichen Urlaub in den Süden gereist waren, in den verteufelten Süden, wie mein Großvater diese Weltgegend nannte, dass sie mithin nicht hier waren, dass niemand zugegen war, der besser qualifiziert war als ich, dass mithin nichts und niemand dafür sorgen konnte, diesen Kelch an mir vorübergehen zu lassen, und so bückte ich mich und legte meine Lippen auf die des Bankdirektors.
Er schmeckte schwach nach Rosinen und Kaffee, nach Kuchenteig und Zigaretten, und sein restlicher Atem traf meine Mundhöhle wie der Hauch eines ersterbenden Kamins. Ich überwand den Ekel, begriff, dass des Leibes schleimige Wirklichkeit etwas anderes war als die Übungspuppe beim Jugendrotkreuz, kniff seine Nase zusammen und blies ihm einige Male Luft ein. Wie von fern hörte ich meine Großmutter, die besorgt auf mich einredete: »Sedgewick, Junge .«, doch sie konnte den Bankdirektor und mich nicht erreichen, wir befanden uns beide in unserer eigenen kleinen Welt, unserer eigenen Luftinsel, auf der mein Atem und der des Sterbenden sich zu einem gemeinsamen, kunstfertigen Atemholen mischten, gemeinsam kämpften wir ums Überleben, ja, ich kämpfte um mein und unser aller Überleben.
Es ging so schwer, als müsste ich mit nichts als der Kraft meiner Lunge einer Orgel Leben einblasen, und schon als ich mich für die ersten Kompressionen aufrichtete, drehte sich alles um mich, doch ich schloss die Augen und zählte in aller Ruhe mit, während ich ihm die Herzmassage verabreichte. Jemand sagte etwas in der Art, man solle telefonieren; hastige Schritte entfernten sich in Richtung Rezeption, doch es war nicht Jim, zum Glück, obwohl er sonst immer sprang, wenn jemand meinte, etwas müsse getan werden. Jim blieb ganz nah an meiner Seite, seine bloße Anwesenheit wirkte beruhigend, er öffnete dem massigen, leblosen Balg von Körper, auf dem ich saß, Manschetten und Gürtel, sagte aber nichts, und ich bückte mich zum zweiten Mal und blies, so kräftig ich vermochte.
Und so ging es weiter, der Winterabend schien kein Ende nehmen zu wollen, begleitet von Frau Berges stillem Schluchzen, sie klagte, jetzt dürfe sie ihren Mann nicht als Letzte küssen, das jedenfalls hörte ich in einem Nebel, während Jim, der Praktiker, genau beobachtet hatte, was ich tat, und irgendwann die Herzmassage übernahm, während ich um Atem rang und sauer aufstieß, um mich dann wieder mit Todesverachtung über den Mund des Sterbenden herzumachen, ja, er war hinüber, ich spürte es. Ich blies meinen Atem in ein leeres, nach Rosinen duftendes Futteral, doch nach wie vor starrte Berge mich jedes Mal, wenn ich den Kopf hob, ungläubig an, aus weit aufgerissenen, kugelrunden blauen Augen, fast anklagend, doch ohne ein Wort zu sagen, weder über Großmutters gewaltigen Gugelhupf noch über Wechsel oder Wertpapiere und Kredite oder strahlende Zukunftspläne für unseren Ort, für die Gemeinde und uns alle, oder über die Falkland-Krise oder auch nur einige missbilligende Worte zu meinem Rettungsversuch oder über meine Lungenkapazität - freundlich sah er jedenfalls nicht aus. »Das genügt jetzt, Sedd«, sagte mein Großvater aus großer Ferne mit ganz eigenartiger Stimme, doch ich machte unverdrossen weiter, schließlich hatte ich in meinem Kurs gelernt, man solle nicht zu früh aufgeben, sondern dranbleiben, bis Hilfe kommt, also blieb ich dran, während mir etwas Feuchtes über das Gesicht rann und sich mit dem Kaltschweiß auf Bankdirektor Berges Stirn und Wangen mischte, mit Speichel und Schleim; blieb dran, als Stiefeltrampeln erst in der Rezeption, dann im Speisesaal davon kündeten, dass endlich jemand nahte, der mich ablösen und die Erwachsenen von dem beschämenden Gefühl erlösen würde, dass sie nicht ebenfalls beim Roten Kreuz Erste Hilfe gelernt hatten und somit nicht zur modernen Zeit gehörten; blieb dran, bis mich jemand behutsam, aber bestimmt wegzog und meine Bemühungen übernahm, mir auf die Beine half, und bevor mir schwarz vor Augen wurde, konnte ich nur noch mit dem letzten bisschen Luft rufen »ICH HOFFE ICH HABE ALLES RICHTIG GEMACHT UND NICHTS FALSCH UND KEINE FEHLER«, dann knickten mir die Beine ein, und Dunkelheit umfing mich.
Als ich auf dem Sofa in der Rezeption wieder zu mir kam, fuhren sie Berge gerade hinaus, die echten Rotkreuz-Rettungssanitäter, gefolgt von einer immer noch schluchzenden Frau Berge; man hielt ihnen die Tür auf, und das Blaulicht der Ambulanz warf aus der Winternacht lange Strahlen in die Rezeption, dann verschwanden sie ohne Sirene.
Großvater stand ratlos am Empfangstresen. Großmutter jedoch saß bei mir und strich mir behutsam, beruhigend, liebevoll übers Haar. Ich glaube, ich weinte, denn sie flüsterte mir lauter liebe Kleinigkeiten zu, auf Deutsch, Schatzerl, mein braver Bub, mein Held und Ähnliches. Und sie umarmte mich. Meine liebe Großmutter, dieses wundersam schöne, leicht distanzierte Wesen, auf einmal war sie so nah mit ihrem wienerischen Zungenschlag, dem singenden Tonfall; Großmutter mit Ohrsteckern und Perlenkette, mit ihren sorgfältig frisierten braunen Locken und dem eleganten Make-up. Meine Großmutter mit den großen braunen, fast goldenen Augen und dem leichten Duft von Kölnischwasser und Bergamotte-Öl. Und dann sagte sie als Letztes: »Das hast du wirklich gut gemacht.«
Großvater hatte zurückgehen müssen, um die Reste der abgebrochenen Abendgesellschaft abzuwickeln, all diese Freunde, die wohl verzweifelt im Speisesaal gewartet hatten, doch jetzt kam auch er zum Sofa, legte mir die Hand auf den Kopf, groß und bergend. Und dann sagte auch er es: »Das hast du wirklich gut gemacht.«
Dann wurde ich nach oben ins Bett gebracht.
In dieser Nacht träumte ich vom Hummer. Vom Hummer namens Erling Skakke.
Es ist nicht wahr, dass Hummer stumm sind. Erstens verursachen Hummer Geräusche, wenn sie am Boden des Aquariums im Kies scharren. Man hört das leise Klicken, wenn man das Ohr an die Glasscheibe legt. Oder wenn sie verzweifelt mit dem Schwanz auf den Boden schlagen und eine ebenso verzweifelte Flucht durch das Wasser unternehmen, nur um sogleich auf der anderen Seite des Bassins an die Scheibe zu stoßen und ebenso verzweifelt zu Boden zu sinken. Und wenn sie mit ihren zusammengebundenen, überdimensionierten Nussknackerzangen nah an das Glas kommen: Sie sehen dich, sie peilen dich mit ihren Antennen an. Dort, wo die Scheren am Körper zusammenlaufen, surrt und schnurrt eine Stelle in rasender Eile. Surr, surr. Leider ist das der Mund. Sie schauen dich...
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