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Und neun Tage trieb ich, von wütenden Stürmen geschleudert, über das fischdurchwimmelte Meer; am zehnten gelangt' ich hin zu den Lotophagen, die blühende Speise genießen .
Homer, Odyssee
Auf ihre eigene verworrene Art hatte meine Großmutter alles getan, um mich vor dem Gemetzel des Lebens zu wappnen. Trampelnde Hufe, vorbeirauschende Streitwagen, raubgierige Gesellen . dank Granny wusste ich im Alter von zehn Jahren schon mehr oder weniger über alles Bescheid.
Doch dann erwies sich die Welt als ganz anders als das noble Schlachtfeld, auf das sie mich vorbereitet hatte. Die Herausforderungen waren kümmerlich, die Menschen fad und feige, meine Amazonenkünste nutzlos. Und ganz bestimmt war nichts von dem, das meine Großmutter mir an langen Nachmittagen bei Pfefferminztee und erfundenen Ungeheuern beigebracht hatte, dazu geeignet, mir in den wendigen Wetterlagen des Hochschullebens Halt zu geben.
An diesem speziellen Nachmittag im Oktober - an dem Tag, als alles begann - wurde ich etwa bei der Hälfte meines Vortrags von unerwartetem Gegenwind fast umgeworfen. Nach einem Blick zu Professor Vandenbosch in der ersten Reihe sprang die Diskussionsleiterin auf und deutete mit einer verstohlenen Schnittbewegung über ihre Kehle an, dass mir noch genau null Minuten blieben, meinen Vortrag zu beenden. Ein Blick auf meine Armbanduhr bestätigte mir zwar, dass ich perfekt in der Zeit lag - jedoch lag meine akademische Zukunft in den Händen dieser erlesenen Gelehrten.
»Um also zum Schluss zu kommen .« Ich sah kurz zu Professor Vandenbosch, der mit verschränkten Armen und übereinandergeschlagenen Beinen dasaß und mich streitlustig musterte. »Es ist offensichtlich, dass die tollkühnen Amazonen trotz all der bildhaften Beschreibungen ihrer Paarungsgewohnheiten für die griechischen Dichter nie mehr waren als fiktive, quasi-erotische Gespielinnen.«
Anerkennendes Raunen ging durch die Reihen des Hörsaals. Zu Beginn waren alle durchnässt und verdrießlich aus dem verregneten College-Hof hereingekommen, aber mein Vortrag hatte die Stimmung im Raum offenbar angeheizt.
»Das Wissen jedoch«, fuhr ich mit einem Nicken in Richtung der Diskussionsleiterin fort, um anzuzeigen, dass ich fast fertig wäre, »dass diese blutrünstigen Kriegerinnen reine Fiktion waren, hielt unsere Dichter nicht davon ab, sie als abschreckendes Beispiel für die Gefahren ungezügelter weiblicher Freiheit zu benutzen. Warum?« Ich musterte die Zuhörerschaft und versuchte, Gleichgesinnte zu erspähen. »Warum fühlten sich griechische Männer gezwungen, ihre Frauen im Haus gefangen zu halten? Wir wissen es nicht. Aber all die Panikmache um Amazonen hatte sicher auch den Zweck, ihre Frauenfeindlichkeit zu rechtfertigen.«
Sobald der Applaus verebbt war, überging Professor Vandenbosch die Diskussionsleiterin, indem er einfach aufstand, sich mit strengem Blick umsah und damit die vielen eifrig erhobenen Hände zum Verschwinden brachte. Mit fast hämisch zu nennendem Grinsen drehte er sich wieder zu mir. »Danke, Dr. Morgan. Ich freue mich überaus, feststellen zu können, dass ich nicht länger der antiquierteste Gelehrte in Oxford bin. Um Ihretwillen hoffe ich, dass sich die Akademie eines Tages wieder dem Feminismus zuwenden wird, aber der Rest von uns hat ihn, wie ich erleichtert sagen kann, hinter sich gelassen und die alte Streitaxt begraben.«
Obwohl er seine Anklage wie einen Witz klingen ließ, war die Bemerkung dermaßen unverschämt, dass niemand lachte. Selbst ich, gefangen hinter meinem Rednerpult, war zu schockiert, um zum Gegenschlag auszuholen. Der Hörsaal stand auf meiner Seite, da war ich sicher . trotzdem wagte niemand, sich zu meiner Verteidigung zu melden. Die Stille war so absolut, dass man das schwache Prasseln der Regentropfen auf dem Kupferdach hörte.
Zehn demütigende Minuten später konnte ich dem Hörsaal endlich entfliehen und im feuchten Oktobernebel untertauchen. Ich zog meinen Schal fest um den Hals und versuchte, mir die heiße Teekanne vorzustellen, die mich später zu Hause erwartete . doch ich war zu aufgebracht.
Professor Vandenbosch hatte mich noch nie gemocht. Einem bösen Gerücht zufolge hatte er seine Kollegen einmal mit der Geschichte unterhalten, wie ich aus Oxford entführt würde, um in irgendeiner »Mädchen-an-die-Macht«-Serie die Heldin zu spielen. Allerdings hegte ich den Verdacht, dass er mich nur benutzte, um seine Rivalin, meine Mentorin Katherine Kent, zu provozieren und ihre Position zu schwächen, indem er einen ihrer Lieblinge attackierte.
Katherine hatte mich davor gewarnt, eine weitere Vorlesung über Amazonen zu halten. »Wenn du diesen Analyseansatz weiter verfolgst«, hatte sie geradeheraus gesagt, »landest du irgendwann in der Sackgasse.«
Ich weigerte mich, das zu glauben. Eines Tages würde das Thema wieder aktuell werden, und Professor Vandenbosch könnte die hochschlagenden Wellen nicht mehr eindämmen. Wenn ich nur endlich die Zeit hätte, mein Buch fertig zu schreiben, oder besser noch, endlich die Historia Amazonum in Händen hielte! Ein weiterer Brief nach Istanbul, diesmal handgeschrieben, und Grigor Rezniks Schatztruhe würde sich vielleicht doch noch öffnen . Ich war es Granny schuldig, es wenigstens zu versuchen.
Den Kragen als wenig geeigneten Schutz vor den Elementen hochgeklappt eilte ich gedankenverloren die nasse Straße entlang und merkte erst an der Kreuzung zur High Street, dass mir jemand folgte, da dieser Jemand plötzlich seinen Schirm schützend über meinen Kopf hielt. Er war wohl um die sechzig und anscheinend kein Akademiker, denn unter seinem makellos glatten Trenchcoat trug er einen teuren Anzug, und ich ging davon aus, dass seine Socken exakt zur Krawatte passten.
»Dr. Morgan .«, sprach er mich an, und sein Akzent ließ auf eine südafrikanische Herkunft schließen, »Ihre Vorlesung hat mir sehr gefallen. Hätten Sie wohl einen Moment für mich Zeit?« Er nickte in Richtung des Grand Café auf der Straßenseite gegenüber. »Darf ich Ihnen einen Drink spendieren? Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen .« Ich sah auf meine Uhr. »Aber leider bin ich für einen weiteren Termin bereits spät dran.« Das stimmte tatsächlich. Im Fechtclub der Universität lief gerade die Schnupperwoche, und ich hatte versprochen, nach der Arbeit vorbeizukommen und bei einer Präsentation zu helfen - was sich zufällig als sehr passend erwies, da ich meiner momentanen Stimmung entsprechend gute Lust hatte, ein paar imaginäre Feinde niederzustechen.
»Oh.« Der Mann folgte mir, als ich weiterging, und die äußeren Enden seiner Schirmspeichen stachen mir ins Haar. »Wie wäre es später? Hätten Sie heute Abend Zeit?«
Ich zögerte. Die Augen dieses Mannes hatten etwas Beunruhigendes an sich, sein Blick war ungewöhnlich durchdringend und irgendwie starr - nicht unähnlich dem der Eulen auf den Bücherregalen meines Vaters.
Anstatt in die dunkle und meist wenig frequentierte Magpie Lane abzubiegen, blieb ich mit einem, wie ich hoffte, freundlichen Lächeln an der Ecke stehen. »Ich fürchte, ich habe Ihren Namen nicht verstanden .«
»John Ludwig. Hier .« Der Mann durchsuchte kurz seine Taschen, dann schnitt er eine Grimasse. »Keine Karte. Aber egal. Ich habe eine Einladung für Sie.« Er sah mich einen Moment lang prüfend an, als wollte er sich meiner Tauglichkeit versichern. »Die Stiftung, für die ich arbeite, hat einen sensationellen Fund gemacht.« Er hielt inne und sah sich stirnrunzelnd um, wohl, weil ihm die exponierte Position in der Öffentlichkeit nicht behagte. »Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht auf ein Getränk einladen kann?«
Trotz meines unguten Gefühls überkam mich die Neugier. »Könnten wir uns vielleicht morgen kurz treffen?«, bot ich an. »Auf einen Kaffee?«
Mr Ludwig beobachtete einige Passanten, die vornübergebeugt an uns vorbeieilten, und lehnte sich näher. »Morgen«, raunte er im vertraulichen Flüsterton, »werden Sie und ich auf dem Weg nach Amsterdam sein.« Mein schockierter Gesichtsausdruck hielt ihn nicht davon ab zu lächeln. »Erster Klasse, natürlich.«
»Ja, natürlich!« Ich tauchte unter dem Schirm hervor und bog in die Magpie Lane ein. »Schönen Tag noch, Mr Ludwig.«
»Warten Sie!« Behände folgte er mir in die holprig gepflasterte Gasse. »Ich spreche von einer Entdeckung, die eine Neuschreibung der Geschichte zur Folge haben wird. Es handelt sich um eine brandneue Ausgrabung, streng geheim, und nun raten Sie mal: Wir wollen, dass Sie einen Blick darauf werfen.«
Ich verlangsamte meine Schritte. »Warum ich? Ich bin keine Archäologin, ich bin Philologin. Und wie Sie sicherlich wissen, geht es in der Philologie nicht ums Ausgraben, sondern um das Lesen und Entziffern von .«
»Genau!« Nach einem weiteren Durchforsten derselben Taschen, denen keine Visitenkarte zu entlocken gewesen war, zog Mr Ludwig eine leicht zerknitterte Fotografie hervor. »Wir brauchen jemanden, der das hier entziffern kann .«
Selbst im schummrigen Licht der Magpie Lane konnte ich erkennen, dass das Foto die Inschrift an einer offenbar altertümlichen Wand zeigte. »Wo wurde das aufgenommen?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Nicht, bis Sie sich einverstanden erklären, mit mir zu reisen.« Mr Ludwig trat näher und fuhr geheimnisvoll leise fort: »Wir haben einen Beweis gefunden, dass die Amazonen tatsächlich existierten, verstehen...
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