Schweitzer Fachinformationen
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1 Monsieur Fontana, Hoflieferant, Seidenwarenhändler, Sammler und Privatgelehrter, verließ jeden Morgen um acht mit dem Schnarren seiner Repetieruhr sein Haus Zum alten Dom am Marktplatz der Haupt- und Residenzstadt Düsseldorf, um seinen gewohnten und »für die Körpermaschine leider notwendigen Spaziergang« anzutreten, was bedeutete, dass er mit grämlichem Gesicht mehrere Male das Karree um das von Chevalier Grupello geschaffene Reiterstandbild des Kurfürsten Johann Wilhelm abschritt.
An sonnigen und heißen Tagen blieb er schon einmal stehen, zog seinen Dreispitz und plauderte vor der Auberge, die gegenüber dem Rathaus lag, mit einem der Franzosen oder Italiener, die sich rund um den Marktplatz niedergelassen hatten; an bedeckten und trüben Tagen marschierte er mürrisch sein Pensum herunter und beherzigte die alte Florentiner Devise »Sine sole sileo - ohne Sonne schweige ich«.
In seiner gelben Seidenweste, seinen roten Seidenstrümpfen, seinen schwarzsamtenen Kniehosen, seinem grünen Samtüberrock sah er aus wie ein alter Papagei, den es aus einem exotischen Land hierher verschlagen hatte, und wie ein alter Papagei sprach er in späteren Jahren laut vor sich hin, wenn ihm »justement die Bücher durch den Kopf gingen«. Oft war er dabei so in Gedanken, dass er seinen Diener Jean, der ihn an der Haustüre erwartete, erstaunt fragte, ob er auch tatsächlich seinen Spaziergang schon hinter sich hätte.
»In effigie, leeven Herr«, antwortete Jean dann jedes Mal, »viermal ums Karree«.
An Regentagen, wenn ihm womöglich ein Marktknecht noch eine leere Heringstonne vor die Füße rollte, um ihn aus seinem Marschrhythmus und aus seinen Gedanken zu bringen, konnte er äußerst unangenehm werden.
Den schwarzen Ebenholzstock mit dem Silberknauf aufstampfend, marschierte er dann im Eilschritt um den Platz, die Ecken genau einhaltend, im rechten Winkel wendend, und schimpfte laut in einem eigenartigen Gemisch aus französischen, italienischen, holländischen, deutschen Wörtern auf die Welt, die Zeit, die korrupten Regierungen und ihre stockdummen Untertanen, die er alle für verrückt erklärte, für ganz und gar verblödet, für Idioten, denen man die Haut aavtrekken solle, die Menschheit überhaupt für unrettbar verloren, auf dem Marsch ins Unheil, terrible, die ganze Situation, keiner ausgenommen, basta. Und er knallte seinen Stock bei jedem terrible und jedem basta so laut auf das Kopfsteinpflaster, dass sich bald die Fenster des Rathauses öffneten und der jeweilige Maire, wie die Düsseldorfer ihren Bürgermeister nannten, ihm zuschrie, er solle sich gefälligst in sein Haus verfügen und da herumkrakeelen, worauf Monsieur Fontana höhnisch seinen Dreispitz schwenkte, den Maire abschätzig mit Baas titulierte und mit einem endgültigen »dumm Volk, Pack, elendes« aufrecht den Platz verließ und sich in sein Haus zurückzog.
Regelmäßig erschien er dann noch einmal am Fenster im ersten Stock seines Hauses, schrie sein »terrible, basta« über den Marktplatz und schloss danach eigenhändig die Fensterläden, denn der Ratsdiener hatte ihm schon einmal mit dem Rathausschlüssel ein Fenster eingeworfen, Fontana hatte mit einer ledergebundenen, silberbeschlagenen Chronik der Lombardei zurückgeworfen, und erst nach längeren Verhandlungen mit dem Maire konnten die Ratsherren wieder das Rathaus betreten und Fontana in seiner Chronik studieren.
Nach solchen Vorfällen ließ sich Monsieur Fontana, auf dem Markt nur Dummvolk genannt, von seinem Hausdiener Jean in seine Studierstube einschließen, mit dem strengen Befehl, ihn erst nach acht Tagen wieder herauszulassen, da er die Welt justement nicht mehr ertragen könne, terrible, basta, und er sich jetzt konzentrieren müsse und überhaupt nur noch Bücher sehen wolle.
Jean hatte einmal die acht Tage wörtlich genommen und aus Ärger über ausstehenden Lohn den vorzeitigen Befehl zum Aufmachen überhört, worauf Monsieur Fontana an der Regenrinne aus dem ersten Stock seines Hauses herabkletterte, an der Haustüre schellte und den arglos aufmachenden Jean mit Fußtritten in den Keller jagte, um ihn dort einzuschließen. Jean rächte sich, indem er das ganze Sauerkraut in sich hineinstopfte, das im Keller in einem großen Holzfass lagerte, was auch wieder Folgen hatte.
Stadtbekannt wurden die beiden auch mit dem ernsthaften Antrag, der Stadtrat solle beschließen, das Reiterdenkmal des Kurfürsten umzudrehen. Der Gaul reite nämlich, so Fontana, das ganze Jahr auf das Haus zu, und das könne auf die Dauer nicht gutgehen. Als ihm der Maire antwortete, dass er dann das ganze Jahr den Pferdehintern ansehen müsse, der jetzt zum Theater zeige, gab sich Fontana zufrieden mit der Bemerkung, es wäre gut, wenn das alle Bürger täten.
In sternklaren Nächten sah man ihn mit einer Laterne am Giebelfenster seines Hauses, stundenlang sah er in den dunklen Sternenhimmel, saß da in seinem roten, seidenen Schlafrock, richtete das Fernglas, das er einem holländischen Kapitän abgekauft hatte, von Stern zu Stern und sinnierte vor sich hin.
Zogen Wolken auf, stieg er hinunter in sein Studierzimmer, das vollgestellt war mit Globen, Atlanten, schweren, metallbeschlagenen Chroniken, Musterbüchern von alten Seidenweberfamilien, ein Bücherberg, in dessen Höhlen sich nur Monsieur Fontana auskannte, denn langsam waren Gänge und Ausbuchtungen entstanden, von einem Zimmer konnte nicht mehr die Rede sein, ein Büchermassiv erfüllte den Raum, in dem er geduldig herumkletterte.
Er übersetzte die Chroniken aus dem Griechischen und Lateinischen ins Französische und Italienische, das dann wieder ins Deutsche, verglich die einzelnen Auszüge und Aufzeichnungen mit alten Handschriften, Briefen, Korrespondenzen, verglich die Entfernungen und die Zeitangaben mit den Maßstäben seiner Globen und Atlanten, entzifferte Buchstaben, Worte, Sätze und unverständliche Abkürzungen in kaum lesbaren Handschriften, verglich Stoffmuster, Webarten, Farbzusammenstellungen und übertrug seine Erkenntnisse in eine eigene Chronik, an der er seit zwanzig Jahren arbeitete.
Wenn Jean bei Tagesanbruch mit dem Frühstück kam, fand er seinen Herrn oft gedankenverloren vor einem Globus sitzend, den er immer schneller antrieb, so dass Kontinente und Meere zu einem Bild verschmolzen, saß da und murmelte, Afrika, Amerika, Asien, Europa, zeigte dann mit dem Finger auf den sich drehenden Globus und fragte Jean jeden Morgen: »Nun sieh dir dat an, Jean, wo soll dat all hinführen?« Und Jean antwortete jeden Morgen: »Ja, leeven Herr, dat sind so Sachen, wat soll man dazu sagen.« Dann wachte Monsieur Fontana aus seinen Gedanken auf und fragte Jean: »Sach, Jean, wo bin ich eigentlich?«
»In Düsseldorf, leeven Herr.«
»Und wat mach ich in Düsseldorf?«
»Dat weiß nur der liebe Gott.«
»Und wie komm ich hierher?«
»Ach, leeven Herr, dat weiß nich mal der liebe Gott.«
Dann saß er wieder einsam zwischen seinen Chroniken, die von einem Ereignis zum anderen sprangen, von einer Person zur anderen, Geschichten erzählten, deren Sinn er nicht kannte, die aber festgehalten wurden, aufgeschrieben wurden, also einen Sinn haben mussten. Er verglich sie mit den Erzählungen, die er noch kannte, mit den Geschichten, die ihm erzählt wurden, obwohl er oft nicht mehr wusste, wer was gesagt hatte, welches Ereignis in welcher Zeit geschah, Personen und Zeit und Geschichte durcheinanderbrachte, weil ein anderer ihm berichtet hatte, was ein anderer gesagt hatte, und wieder andere von Ereignissen berichteten, die auch sie nur vom Hörensagen kannten, die man auch ihnen nur erzählt hatte, die wiederum von Menschen stammten, denen man es auch nur erzählt hatte.
Es war ein Puzzle, das ihm immer wieder aus den Händen fiel, sobald es die Klarheit eines Bildes vermittelte, so genau die einzelnen Teile waren, sie fügten sich doch nie zusammen, obwohl sie eine Einheit bildeten, unzweifelhaft zusammengehörten, ein Bild darstellten; immer wieder gab es neue Lücken, immer wieder entfernte sich die Wahrheit, die diesem Bild zugrunde lag, die Wahrheit, die er suchte.
Wichtiges war verloren, Unwichtiges zwar genau berichtet, ein Sinn aber nicht zu erkennen, bestenfalls zu erahnen in diesen Geschichten von Stolz und Vernunft, von Gewissheit und Zweifel, Demut und Ausharren, Armut und Elend, Tod und Leben, diesem sich ständig wiederholenden Totentanz, der immer weitertrieb, hastig vorübertanzte. Personen traten für Sekunden in den Mittelpunkt, klar erkennbar, erfassbar in einem Moment ihres Lebens und traten wieder zurück hinter ein anderes Leben, das wiederum von einem anderen Leben abgelöst wurde. Unzusammenhängende Fragmente und doch erkennbar eine immer wieder auftauchende von klarem Verhalten diktierte Haltung zur Welt, im Einzelnen undeutlich, erkennbar erst im Nacheinander der Generationen, in der Folge der Geschichten und Ereignisse. Eine Haltung, die nirgends verzeichnet war, keine Mahnung war, nirgendwo ausgesprochen oder festgehalten wurde, die einfach da war und immer wieder die Geschehnisse bestimmte oder mitbestimmte, und wenn sie sie nicht bestimmen konnte, ertrug, nach ihren inneren Maßstäben ertrug, sie anderen Generationen mitgab, auf andere Generationen vertraute.
2 Die Häuser standen dicht neben dem Förderturm, aneinandergebaute, ineinandergebaute, vom Ruß geschwärzte Mauern, die in der Nacht unsichtbar waren. Wenn sich die Gestalten auf den Weg machten, aus den Türen kamen, sich kurz zunickten, schweigend zum Förderturm gingen, kamen ihnen andere Gestalten entgegen, die hinter den kurz geöffneten Türen verschwanden, sich hinter...
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