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Kapitel 1
Fast jeder weiß noch, was er gerade in dem Augenblick tat, als ihn die Nachricht von Präsident Kennedys Ermordung erreichte. Das tödliche Geschoß hatte den Präsidenten um 12 Uhr 22 (Dallas Ortszeit) getroffen. Die Meldung von seinem Tode wurde um 13 Uhr 30 veröffentlicht. Das war 14 Uhr 30 in New York, 19 Uhr 30 in London und 20 Uhr 30 in Hamburg. Peter Miller hatte seine Mutter in Osdorf, einem Vorort von Hamburg besucht, und fuhr durch den von Böen gepeitschten Regen in die Stadt zurück. Er besuchte sie immer Freitag abends, um sich zu vergewissern, ob sie auch mit allem versorgt war, was sie über das Wochenende brauchte, und weil er sich ohnehin verpflichtet fühlte, sie einmal die Woche zu sehen. Er hätte sie lieber angerufen, aber sie hatte kein Telefon; also mußte er zu ihr hinausfahren. Und genau das war natürlich der Grund, weswegen seine Mutter kein Telefon haben wollte.
Wie üblich hatte Miller das Radio eingeschaltet und hörte Musik vom NDR. Um 20 Uhr 30 befand er sich in Osdorf, zehn Minuten von der Wohnung seiner Mutter entfernt, als die Musik mitten im Takt abbrach und die Stimme des Ansagers sich meldete:
»Achtung, Achtung! Soeben erreicht uns eine Meldung. Präsident Kennedy ist tot. Ich wiederhole: Präsident Kennedy ist tot.«
Miller nahm den Blick von der Straße und sah auf die schwacherleuchtete Skala des Autoradios, als könnten seine Augen widerlegen, was seine Ohren gehört hatten, einen Sender, der Unsinn verbreitete.
»Mein Gott«, murmelte er, bremste und steuerte an den Straßenrand. Er blickte die breite, gerade Schnellstraße entlang, die durch Altona zur Hamburger Innenstadt führte. Andere Fahrer hatten dieselbe Meldung gehört und hielten ebenfalls am Straßenrand, als seien Autofahren und Radiohören auf einmal Dinge, die einander ausschlossen. Und genauso war es.
Vor sich sah er die Bremslichter der stadteinwärts fahrenden Wagen aufleuchten. Die Fahrer fuhren an die Bordsteinkante, um weitere Nachrichten nicht zu versäumen. Auf der Gegenfahrbahn strichen die Scheinwerfer stadtauswärts fahrender Wagen unruhig über den Asphalt, auch dort steuerten die Fahrer an den Straßenrand. Zwei Wagen überholten Miller, der Fahrer des ersten hupte wütend und tippte sich demonstrativ mit dem Zeigefinger an die Stirn.
Er wird es schon noch früh genug erfahren, dachte Miller.
Die Unterhaltungsmusik hatte aufgehört. Aus dem Radio kam der erstbeste Trauermarsch, den man zur Hand hatte. In gewissen Abständen verlas der Sprecher Bruchstücke weiterer Informationen, die ihm aus dem Nachrichtenraum überbracht wurden, so wie sie aus dem Fernschreiber kamen. Aus den Einzelheiten wurde langsam ein Bild: die Fahrt im offenen Wagen durch die Straßen von Dallas, der Scharfschütze im Fenster des Schulbuchlagers. Von der Festnahme verdächtiger Personen war vorerst noch nicht die Rede.
Vor Miller hatte ein anderes Auto gehalten. Der Fahrer stieg aus und ging auf Millers Wagen zu. Er trat an das linke Wagenfenster, stellte fest, daß sich der Fahrersitz auf der rechten Seite befand, und ging um den Wagen herum. Er trug eine Joppe mit einem Kragen aus Nylonpelz. Miller drehte das Wagenfenster hinunter.
»Haben Sie das gehört?« fragte der Mann und beugte sich zum Fenster herab.
»Ja«, sagte Miller.
»Entsetzlich«, sagte der Mann. Überall in Hamburg, in Europa, in der ganzen Welt sprechen fremde Menschen einander an, um über das Ereignis zu reden.
»Glauben Sie, daß es die Kommunisten waren?« fragte der Mann.
»Weiß ich nicht.«
»Wenn sie es waren, kann das Krieg bedeuten«, sagte der Mann.
»Schon möglich«, sagte Miller. Als Reporter konnte er sich unschwer das Chaos vorstellen, das jetzt überall in den Leitungsredaktionen der Bundesrepublik ausbrach. Alle verfügbaren Leute würde man zusammentrommeln, um den Lesern die auf den allerletzten Stand gebrachte Morgenausgabe rechtzeitig zum Frühstück zu liefern. Man mußte Nachrufe verfassen, aus den laufend eingehenden Informationen zusammenhängende Berichte schreiben und in die Setzmaschine geben. Schreiende, schwitzende Männer würden auf der Jagd nach immer mehr Einzelheiten sämtliche Telefonleitungen blockieren, weil in einer Stadt in Texas ein Mann mit durchschossener Kehle auf einer Bahre lag.
In mancher Hinsicht wünschte sich Miller wieder in die Redaktion einer Tageszeitung zurück, aber in den drei Jahren, in denen er inzwischen als freier Journalist sein Geld verdiente, hatte er sich auf Inlandsberichte über die Unterwelt in der Bundesrepublik und die Arbeit der Polizei spezialisiert. Seiner Mutter gefiel das ganz und gar nicht, und sie warf ihm seinen »Umgang mit schlechten Menschen« vor. Sein Einwand, daß er bald einer der gefragtesten Reporter Westdeutschlands sein werde, vermochte sie nicht von der Meinung abzubringen, die Tätigkeit eines Sensationsreporters sei ihres einzigen Sohnes unwürdig.
Der Rundfunk brachte weitere Meldungen. Peter Miller überlegte fieberhaft, ob sich aus dem sensationellen Ereignis für ihn die Möglichkeit zu einer speziell innerdeutschen Story ergab. Die Berichterstattung über die Redaktion der Bundesregierung war Sache der Bonner Korrespondenten, und die obligaten Rückblicke auf Kennedys Besuch in West-Berlin würden die dortigen Journalisten liefern. Eine brauchbare Bildreportage aber für eine der zahlreichen westdeutschen Illustrierten, die zu den besten Kunden seiner Schreibe gehörten, schien auch nicht drin zu sein.
Der Mann am Wagenfenster merkte, daß Miller mit den Gedanken woanders war. Er setzte ebenfalls eine nachdenkliche Miene auf.
»Ja, ja«, murmelte er wie jemand, der das alles hatte kommen sehen, »gewalttätige Menschen sind das, diese Amis. Denken Sie an meine Worte – gewalttätige Menschen. Die haben alle eine gewalttätige Ader, und das wird unsereinem hier immer unbegreiflich bleiben.«
»Sicher«, sagte Miller abwesend.
Der Mann begriff endlich.
»Tja, dann werde ich mich mal wieder auf die Socken machen«, sagte er.
»Ich muß nach Hause. Guten Abend!« Und er ging zu seinem Wagen zurück.
»Guten Abend«, rief Miller ihm aus dem geöffneten Wagenfenster nach und kurbelte die Scheibe rasch wieder hoch, denn der Wind peitschte vom Fluß her Schneeregen landeinwärts. Immer noch kamen die getragenen Klänge des »marche funebre« aus dem Radio. Der Ansager erklärte, das für diesen Abend ursprünglich vorgesehene Unterhaltungsprogramm sei abgesetzt worden; es werde ausschließlich Musik gesendet, die dem Ernst des Ereignisses angemessen sei, nur unterbrochen von den neuesten Meldungen aus Dallas.
Miller lehnte sich in die bequemen Ledersessel seines Jaguars zurück und steckte sich eine filterlose Roth-Händle an. Seine Vorliebe für diese Zigarette gehörte ebenfalls zu den Dingen, die seine Mutter an ihrem einzigen Sohn auszusetzen fand.
Nur allzu gerne versuchte man sich auszumalen, was geschehen wäre, wenn … Gewöhnlich sind solche Denkspiele müßig, denn was hätte sein können, wird man nie wissen. Dennoch: Peter Miller hätte seinen Wagen mit Sicherheit nicht an den Straßenrand gesteuert und dort eine halbe Stunde lang geparkt, wenn an jenem Abend sein Radio nicht eingeschaltet gewesen wäre. Weder hätte er den Unfallwagen gesehen noch jemals von Salomon Tauber und Eduard Roschmann etwas gehört, und aller Wahrscheinlichkeit nach hätte der Staat Israel vierzig Monate später nicht mehr existiert.
Miller rauchte seine Zigarette zu Ende, drehte das Wagenfenster wieder hinunter und warf den Stummel fort. Ein leichter Druck auf den Gashebel ließ den 3,8-l-Motor unter der langgestreckten, flach gewölbten Kühlerhaube des Jaguar XK 150 S einmal aufheulen, dann fiel die Maschine in ihr gewohntes Brummen. Es klang wie das Knurren eines gefesselten Raubtieres. Miller schaltete die beiden Scheinwerfer an, blickte zurück und reihte sich in den dichter werdenden Verkehr auf dem Osdorfer Weg ein.
Die Ampel an der Ecke Stresemann-Daimlerstraße zeigte Rot, als er hinter sich das Signal des Unfallwagens hörte. Mit an- und abschwellendem Sirenengeheul raste der Wagen links an ihm vorbei, bremste leicht ab, bevor er bei Rot auf die. Kreuzung fuhr, und bog unmittelbar vor Miller nach rechts in die Daimlerstraße ein. Miller reagierte reflexhaft. Er legte den Gang ein, der Jaguar schoß mit einem Satz nach vorn, bog kreischend um die Ecke und folgte dem Unfallwagen im Abstand von zwanzig Metern.
Schon im nächsten Augenblick wünschte sich Miller, er wäre geradeaus, auf dem direkten Weg, heimgefahren. Vermutlich kam bei der Verfolgung des Unfallwagens nichts heraus, aber man konnte nie wissen. Wo ein Unfallwagen hinfuhr, da waren immer Menschen in Not, und wo Menschen in Not waren, da gab’s vielleicht Stoff für eine Reportage, besonders, wenn man als erster an Ort und Stelle war und die von den Redaktionen geschickten Kollegen erst eintrafen, wenn schon alles gelaufen war. Es konnte sich um einen schweren Verkehrsunfall, ein Großfeuer in einem Hafensilo oder ein brennendes Mietshaus handeln, in dem Kinder von den Flammen eingeschlossen waren. Es konnte sich um alles mögliche handeln. Miller hatte stets eine kleine Yashica mit Blitzlicht im Handschuhfach seines Wagens, weil man nie wußte, was sich im nächsten Augenblick vor der eigenen Nase abspielen mochte. Er kannte einen Mann, einen Engländer, der am 6. Februar 1958 durch München ging, als nur wenige hundert Meter vor ihm das Flugzeug mit der Mannschaft von Manchester United abstürzte. Sofort hatte der Mann,...
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