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Heideblütenfest in Schneverdingen Ende August -
zwei Wochen zuvor
Suchend fuhren Vanessa Schönfelds Finger über die Rille in der Holzleiste der Hüttentür.
Wo zum Teufel steckte der Schlüssel? Sie sah unter den Blumentopf mit den dunkellila Petunien, die Gießkanne, den Aschenbecher auf dem Verandatisch und den sitzenden Keramikfrosch mit dem "Willkommen"-Schild auf der Brust. Nichts. Verdammt! Wo hatte Vater den Schlüssel nur hingelegt? Das ist eine Sicherheitsmaßnahme, hatte er ihr beim letzten monatlichen Kontrollgang, als sie Wasservorräte und Lebensmittel ausgetauscht hatten, erklärt.
Pah, Sicherheitsmaßnahme. Wer in diese abgelegene Hütte am Pietzmoor reinwollte, kam auch rein. Und warum tauschte er ständig Wasser und Lebensmittel, als würde er einen Krieg erwarten?
Die Fünfundsechzig-Quadratmeter-Hütte gehörte ihren verstorbenen Großeltern. Als Vanessas Mutter vor zwölf Jahren von heute auf morgen verschwand, behielt Vater die Hütte. Oft fuhr er mit der damals Siebenjährigen ins Moor, zeigte ihr die Schönheit wie die Gefahren, die das dunkle, alles verschlingende Gewässer barg.
Als Heranwachsende bekam Vanessa nicht genug von dem faszinierenden Spielplatz. Viele Nachmittage verbrachte sie mit Schulfreunden im Moor. Sie alberten, lernten für die Schule und feierten in der Hütte Geburtstage. Mit zunehmendem Alter avancierte die Hütte für Vanessa zu einem Fluchtpunkt, um heimliche Verehrer zu treffen.
Nur die Schlüsselsuche nervte.
Vanessas Blick blieb an der zitronengelb lackierten Laterne hängen, die am Holzbalken der Veranda baumelte. Auf Zehenspitzen hangelte sie sich in die Höhe und öffnete die Glastür der Laterne. Neben der halb heruntergebrannten Kerze lag der Schlüssel. Endlich.
Ein Lächeln legte sich über ihre Lippen. Mit dem Feuerzeug zündete sie die Kerze an. Schon vom Parkplatz aus würde Jonas, ihr Freund, sehen, dass sie auf ihn wartete. Vanessa raffte den langen weißen Rock, rutschte auf die Porch-Swing-Schaukel und stieß sich mit den Zehenspitzen vom Verandaboden ab. Der laue Sommerwind erfrischte ihr erhitztes Gesicht. Zweiundzwanzig Uhr, noch eine Stunde, dann war sie mit Jonas verabredet.
Wäre da nur nicht dieser Streit gewesen, der beinahe diese wichtige kommende Nacht verhindert hätte. Aber Daniel und Christian, Jonas' beste Freunde, hatten nicht aufgehört, sie zu bedrängen. Dreimal war sie ihnen höflicherweise auf die Tanzfläche gefolgt, doch sie hatten nicht eingesehen, dass sie, als neue Heidekönigin, nicht für ihr alleiniges Vergnügen zuständig war. Da waren der Bürgermeister, die sieben Herren des Stadtrats, voran Jonas' Vater, der Ratsvorsitzende Gerd Knöppel, Optiker Beinlich, Erich Lindenlaub aus der Tourismuszentrale, Heiner Wildberg aus dem Reisebüro, der seine Tanzrunde als Erster nach ihrer Krönung angemeldet hatte, und Apotheker Karl-Heinz Lohfinger. Oh je, wenn sie nur an den und seine krummen Beine dachte. Ein Mann wie ein mittelalterlicher Alchemist. Schlabberkleidung, Monokel, Glatze und ein Atem, der nach Gülle stank, als hätte er nicht genug Wässerchen im Arzneischrank, um dem entgegenzuwirken.
Besonders Daniel Nissen, Jonas' Busenfreund, ein drahtiger Zwanzigjähriger, führte sich auf, als sei Vanessa sein Eigentum.
Du bist das hübscheste Mädchen aus Schneverdingen, hatte er ihr auf der Tanzfläche ins Ohr geflüstert.
Seit der Schulzeit stellte Daniel ihr nach. Allerdings hatte er sich bisher immer zurückgehalten. Hier und da eine Andeutung, ein unverhohlenes Lächeln, eine zufällige Berührung. Einige Male waren Jonas und er deswegen aneinandergeraten. Heute Abend war er zu weit gegangen.
Als er seine Hände auf Vanessas Hinterteil gelegt und nicht daran gedacht hatte, diese zu entfernen, hatte Jonas seinem Freund einen kräftigen Kinnhaken versetzt, sodass der die Treppen des Tanzpodests mit Purzelbäumen hinuntergesegelt war. Nur mit Mühe gelang es Jonas' und Daniels Vater, die Raufbolde zu trennen, die mit Fäusten auf den Gegner eingehämmert hatten, als hätten sie dafür tagelang geübt.
Das Heideblütenfest galt als Höhepunkt jedes Sommers in Schneverdingen. Touristen, Wochenendurlauber und Einheimische aus den umliegenden Dörfern waren auf den Beinen. Tausende Menschen, die dem viertägigen Fest beiwohnten und die Fest- und Motivwagen, Fußgruppen, Musik- und Spielmannszüge, die durch die Straßen zogen, bestaunten. Seit Tagen füllten sich Hotels, Pensionen und Ferienzimmer auf Bauernhöfen. In den Vorgärten und Stadtrabatten tauchten Kränze, Herzen, Ranken und allerlei künstlerische Gebilde aus gebundener Heide Schneverdingen in ein lilafarbenes Heideblütenmeer.
Vanessa schob eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, die aus ihrer Hochsteckfrisur gerutscht war. Die Heidekrone hatte sie abgelegt und im Fahrradkorb verstaut, als sie Richtung Moor aufgebrochen war, ebenso den bodenlangen rubinroten Samtumhang. Jetzt musste sie nur noch aus dem weißen Kleid heraus, doch das konnte warten.
Vor neun Stunden hatte ihr die amtierende Heidekönigin auf der Freilichtbühne die lilablühende Heidekrone aufgesetzt und sie zur Nachfolgerin gekrönt. Nun hieß es für Vanessa, zwölf Monate quer durch Deutschland zu reisen und Interessierten die Heideregion näherzubringen. Sie würde Touristik-Messen besuchen, Einweihungen und Empfängen beiwohnen und auf Festen umliegender Dörfer im Mittelpunkt stehen. Für Vanessa wurde ein Mädchentraum wahr. Seit ihrem fünften Lebensjahr wollte sie, wie ihre Mutter in jungen Jahren, Heidekönigin werden.
Pfirsichfarben versank der Tag über der Hochmoorlandschaft und schenkte der Wasseroberfläche eine silbrig glänzende und bizarre Spiegelung aus Grüppchen von Birkenstümpfen, Glocken- und Besenheide, Sonnentau und Torfmoosen. Ein seidiger Schleier wanderte vor den Vollmond, verdeckte sein lachendes Gesicht, während Moorfrösche mit Sumpfohreulen ihr Abendlied anstimmten.
Vanessa atmete tief ein. Der Geruch feuchter Torferde und süß duftender Jasminblüten mischte sich mit warmer Abendluft und ihrer Erwartung auf die kommende Nacht. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und verzog sich, als sie an das Gespräch dachte, das sie mit Jonas führen musste und das keinen weiteren Aufschub duldete. Viel zu lange hatte sie geschwiegen, und sie hoffte inständig, dass es noch nicht zu spät war.
Aus der Stadt wehte der Wind die Töne der Musikzüge herüber, die die Kinder mit ihren kerzenlichtscheinenden Laternen sowie zahlreiche Fackelträger der Freiwilligen Feuerwehr vom Rathaus bis Ortsausgang Verdener Straße geleiteten.
Erneut sah Vanessa auf ihre Armbanduhr. Noch eine halbe Stunde. Erwartungsvoll blickte sie über den Steg zum Parkplatz. Kein Auto in Sicht.
Als sie von der Schaukel aufstehen und in die Hütte gehen wollte, entdeckte sie ein rundes Licht ähnlich einer Fahrradlampe zwischen den Bäumen auftauchen. Unwirklich flackerte der gelbe Schein in der Dunkelheit. War das Jonas? Er wollte doch mit dem Auto fahren und Wein, Baguette und gegrilltes Huhn mitbringen, so wie sie es im vergangenen Jahr in der Bretagne an der Küste bei La Mine d Or in den Dünen im warmen Sand gegessen hatten.
Das Licht flackerte heller, und Vanessa erkannte deutlich ein Fahrrad, das über die Holzbohlen Richtung Hütte rumpelte. Nur wer war das? Ein einziger Steg führte zur Hütte, und der war ein Privatweg. Hatte sich jemand verfahren? Durch das Pietzmoor führte ein fünfeinhalb Kilometer langer Rundweg aus Holzbohlenstegen. Die Gegend war ein Anziehungspunkt für Naturliebhaber, vor allem bei Sonnenaufgang und in den Abendstunden.
Seit Jahrhunderten galt das Moor als Sitz von Geistern und Göttern und als Pforte zum Jenseits. Viele unterschiedliche Rituale waren hier vollzogen und unzählige Menschen- und Tieropfer dargebracht worden. Immer wieder loderten alte Geschichten durch die Lüneburger Heide. Anhänger verschiedener Religionen streiften bei Vollmond durch das Moor, tanzten in weiten weißen Gewändern und sangen in merkwürdig fremder Sprache Leierlieder.
Vanessa erschauderte. Sie war weder abergläubisch noch ein Angsthase, und sie kannte das Moor von Kind auf. Aber heute, in später Abendstunde, allein im Moor, mit einem Unbekannten, der immer näher kam, wurde es ihr doch etwas unheimlich. Vor allem, da es nicht Jonas war, der da auf dem Fahrrad saß. Die Gestalt trug keine farbenprächtige Tracht wie ihr Freund, der auf dem Motivwagen die Jugendgruppe der Schützen aus Schneverdingen präsentiert hatte, sondern war von Kopf bis Fuß dunkel gekleidet.
Vanessas Herz begann zu rasen, und Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Haut. Ihre Finger schlossen sich fest um den Schlüssel in ihrer Hand. Ob sie in die Hütte gehen und die Tür versperren sollte? Vielleicht hatte der Fahrer sie ja noch nicht gesehen und würde umkehren, wenn er merkte, dass es nicht weiterging, dass die Hütte am Ende des Stegs lag. Oder hatte jemand von ihrem Hofstaat geplaudert und ihrem Vater das Treffen mit Jonas verraten? Und jetzt war er auf dem Weg zu ihr? Nein. Er würde, wie er es immer tat, mit dem Auto zum Parkplatz fahren und zu Fuß zur Hütte gehen. Und er hätte sie auf ihrem Handy angerufen oder ihr eine WhatsApp-Nachricht geschickt. Außerdem hatte sie ihm gesagt, sie würde bei ihrer Freundin Martina schlafen. Nicht, dass sie das in ihrem Alter müsste, doch für ihren Vater war Vanessa sein Ein und Alles, und manchmal verhielt er sich wie eine Glucke mit Scheuklappen, die nicht sah, dass ihr Küken flügge geworden war. Und Jonas, dem Sohn von Gerd Knöppel, dem Schneverdinger Ratsvorsitzenden, traute er kaum über den...
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