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Hauptkommissar Alfred Held warf noch einen letzten Blick auf die Dresdner Semperoper, bevor er mit seinem betagten Ford Fiesta und der Dänischen Dogge Herrn Meyer vom Theaterplatz nach rechts in die Sophienstraße einbog.
Vor drei Jahren, kurz bevor seine persönliche Tragödie begann, hatten Sabine und er an einer Führung durch die Oper teilgenommen. Du bist achtunddreißig und ich vierunddreißig Jahre alt, hatte Sabine gesagt. Wir sind seit sieben Jahren verheiratet, leben schon ewig in Dresden und haben noch nie die Oper von innen gesehen. Das Gebäude gehöre zu den schönsten und berühmtesten Opernhäusern weltweit und sei ein Muss, hatte sie weiter offeriert und Karten gebucht. Auch wenn er nie in die Oper gehen würde - die Oper liebt oder hasst man -, so hatten ihn die 170-jährige Geschichte und das formvollendete Kunsthandwerk in den prunkvollen Räumlichkeiten dennoch beeindruckt.
Alfred riss sich aus der schmerzlichen Vergangenheit und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Bis er sein Ziel in Niendorf an der Ostsee erreicht hatte, vergingen sicher weit mehr als fünf Stunden. Er stöhnte. Doch niemals würde die Zeit ausreichen, nicht mit Herrn Meyer. Er warf einen kurzen Schulterblick auf die Rückbank, auf der es sich die Dänische Dogge bequem gemacht hatte und in gleichmäßigem Rhythmus schnarchte. Ab und zu hörte er ein leises Zischen und Knattern, und kurz darauf wurde es nötig, die Fenster zu öffnen.
Er wäre schon am frühen Morgen aus Dresden losgefahren, aber Herr Meyer musste zum Tierarzt, weil er dringend Tabletten gegen seinen Darminfekt benötigte. Leider brachten diese bisher nur mäßigen Erfolg, und so steuerte Alfred vorsichtshalber in geregelten Abständen einen Rastplatz an. Hauptsache, es gab keinen Stau.
Vor einem Jahr hatte er Herrn Meyer bei einem Einsatz an einer Autobahnraststätte gefunden. Am angrenzenden Waldstück war ihm ein klägliches Fiepen aufgefallen. Das kleine Tier war erst sechs Wochen alt gewesen. Halb verhungert und verdurstet hatte es, an einem Baum angebunden, seit Stunden oder länger ohne Hilfe ausgeharrt. Es ist eine Dänische Dogge, sie wird uns zu groß, stand in grotesken Zeilen auf einem Zettel, der an seiner Leine befestigt war. Alfred hatte sich sofort in den schwarzen Welpen verliebt und beschlossen, ihn mit nach Hause zu nehmen. Zwar wusste er nicht, was er in ein paar Monaten mit einer ausgewachsenen Dogge in seiner Zweizimmerwohnung, die er nach dem Verkauf ihres gemeinsamen Hauses im Rotkehlchenweg bezogen hatte, anfangen sollte, doch das kleine Kerlchen in ein Tierheim zu geben kam für Alfred nicht infrage. Du siehst aus wie mein Kollege Herr Meyer, hatte er zu dem Welpen gesagt und seine schlabberigen Wangen getätschelt. Dem Hund, der fortan der Liebling der Wache wurde, gefiel sein Name. Alfreds Kollege, Herr Meyer, sah das völlig anders.
Die letzten Strophen von Reinhard Meys Oldie-Song - Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste und Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann ., holten ihn aus seinen Gedanken heraus. Sabine hatte das Lied geliebt, es immer wieder gehört, dabei die Hüften geschwungen und meist hemmungslos geweint. Die schmerzliche Vergangenheit bohrte sich in Alfreds Magen und kroch hinauf in sein Herz. Eine Träne lief ihm über die Wangen, er wischte sie mit dem Handrücken zur Seite und konzentrierte sich wieder darauf, warum er an die Ostsee fahren musste.
Ausgerechnet an der Ostsee, in einem Kaff namens Niendorf, hatte sein Onkel ihm ein Haus vermacht. Dabei hatte er Onkel Waldemar seit über dreißig Jahren nicht gesehen. Er erinnerte sich nur, dass Waldemar ein großer, breiter Mann mit einem wilhelminischen Schnauzbart gewesen war, der ihm zu seinen Besuchen immer eine Tüte grün-weiß gestreifter Bonbons mitgebracht hatte. Bonbons, die nach Waldmeister schmeckten und mit Schokolade gefüllt waren und die er nur selten lutschte, weil sie ihm zu kostbar erschienen.
Irgendwann, als er acht Jahre alt war, hatten Onkel Waldemars Besuche aufgehört. Wenn er seine Eltern gefragt hatte, ob der Onkel bald wiederkäme, hatten sie geschwiegen. Mit den Jahren hatte er ihn vergessen. Bis vor zwei Wochen, als der Brief vom Nachlassgericht bei ihm eingetrudelt war. Onkel Waldemar sei verstorben und es gehe um eine Erbschaft. Auf die telefonische Nachfrage, worum es sich bei der Erbschaft handele, antwortete die näselnde Sachbearbeiterin, Onkel Waldemar habe ihm ein Haus an der Ostsee vermacht. Doch mehr könne sie ihm nicht sagen, er solle den Notartermin abwarten. Hatte Waldemar damals schon an der Ostsee gelebt? Alfred konnte sich nicht erinnern.
Sein Chef, Fritz Rosenbaum, meinte, Alfred könne sich glücklich schätzen, da die Immobilienpreise, wie überall, aber besonders am Meer, in utopische Höhen gestiegen seien. Es sei ein Hauptgewinn, den er mit dem Erbe bekommen hätte. Wenn es dann so wäre, dachte Alfred. Zwar war er mit dem Verkauf des Hauses am Rotkehlchenweg schuldenfrei, aber mit seinem Beamtengehalt konnte er sich dennoch keine großen Sprünge erlauben. Ein warmer finanzieller Regen käme ihm gerade recht. Hoffentlich ging der Termin beim Notar und Makler in Niendorf schnell über die Bühne, damit er wieder nach Hause fahren konnte.
Mit Sabine hatte er vor vier Jahren einen Urlaub auf Sylt verbracht. Es war ein weiterer vergeblicher Versuch, sie aus ihrer Depression herauszuholen. Auf Sylt war es ihnen zu kalt und zu nass, sodass sie das Zimmer kaum verlassen konnten. Für das Nordseewetter gibt es nur die falsche Kleidung, hatte der Concierge an der Rezeption des Hotels zu Sabine und ihm gesagt und mitfühlend auf ihre durchnässte Kleidung geblickt, die der stürmische Wetterumschwung ihnen bei einem Spaziergang fast vom Leib gefegt hatte.
Alfred liebte sein Dresden, da konnte einer über den Osten sagen, was er wollte. Er liebte seine Arbeit im kleinen, aber zuverlässigen Team seiner Kollegen. Er liebte die Oper, auch wenn er sie zwar von innen gesehen, aber nie eine Vorstellung besucht hatte. Er liebte das Theater ebenso wie den Plausch mit Hannes, dem Orgeldreher, am Elbufer, dem er ab und zu nach Feierabend ein Bier spendierte, wenn er mit dem Fahrrad vom Terrassenufer über die Augustusbrücke an ihm vorbei nach Hause fuhr. Und er liebte seinen Lieblingsbäcker, der die süßen Streuselschnecken mit Puddingfüllung herstellte, von denen er allerdings seit drei Wochen die Finger ließ, weil er sich auf Diät gesetzt hatte. Genauer gesagt hatte der Amtsarzt ihm beim Check-up geraten, zehn Kilo abzunehmen. Zehn Kilo, wie sollte das denn gehen? Obwohl, so unrealistisch fand Alfred die Zahl nicht. Zehn, so eine kleine Zahl. Dennoch stellte er sich darauf ein, dass er die nächste Zeit, wie lange wusste ja niemand, als Hungerkünstler verbringen würde.
Nach der Frage, ob seine Seele oder das kleine Bäuchlein schwerer wog, setzte er sich an den Computer und recherchierte im Internet nach geeigneten Diäten. Das Leichteste zuerst, überlegte er.
Die Auswahl war immens. Da gab es welche, bei denen man keine Kohlenhydrate essen durfte. Wieder andere Diäten schworen darauf, dass kein Fett und Zucker das ultimative Programm zum Abnehmen sei. Auch ein Intervallfasten kam für ihn nicht infrage. Wie sollte er sechzehn Stunden ohne Essen auskommen? Dazu kamen das Einkaufen und die teils aufwendige Kocherei. Er kochte kaum noch.
Früher, mit Sabine, hatte er gerne am Herd gestanden. Alleine oder auch mit ihr zusammen. Heute reichten ihm zwei Spiegeleier auf Toast oder Pasta mit Tomatensoße, wenn er nicht ins Restaurant ging.
Seit einer Woche ernährte er sich größtenteils von Knäckebrot und Möhren, lag kein Fleisch mehr auf seinem Teller. Geschweige denn eine Streuselschnecke, ein Stück Dresdner Eierschecke oder nur ein einziges klitzekleines Quarkkäulchen. Selbst auf die hausgemachten Maultaschen aus dem Augustiner Restaurant, gefüllt mit Blutwurst, Äpfeln und Zwiebeln, serviert mit Rahmsauerkraut, verzichtete er, ebenso wie auf das Braumeisterschnitzel mit Schinken, Gewürzgurken, Speck und dem Kartoffel-Gurken-Salat.
Essen Sie mehr Fisch und Gemüse, hatte Doktor Harmsfeld ihn aufmuntern wollen, dann klappt es schon mit dem Abnehmen. Alfreds Einwand, dass sein Gewicht sich mit der Zeit regulieren würde, sobald sein Körper den Zustand ohne Zigaretten akzeptiert hätte, verwarf der Amtsarzt. Alfred verstand das Gehabe nicht. In den letzten fünf Jahren war er nicht einen Tag krankgeschrieben. Außerdem hasste er Fisch und ebenso das Meer, in denen diese glubschäugigen Tiere umherschwammen.
Vor zehn Jahren hatte ihn sein Chef nach Husum geschickt, um die dortigen Kollegen bei einer Ermittlung zu unterstützen. Ein Dresdner Unternehmer war auf einer Geschäftsreise erschossen worden. Es dauerte zwei Wochen, bis er den Mord aufgeklärt hatte. Durch die Seeluft hatte sich auf jeder freien Hautstelle ein grauenhafter roter Ausschlag entwickelt. Überall juckte und brannte es ihm, bis hinunter an . na ja, zwischen die Beine. Und das, obwohl er schon bei über dreißig Grad eine lange Hose, dicke Socken und ein langärmliges Hemd getragen hatte. Mit Sabine lief in der Zeit nichts, also nichts Betttechnisches. Sie nahm es gelassen. Damals hatte sie noch zu ihm gesagt: Je älter du wirst, umso besser siehst du aus. Wie ein amerikanischer Actionheld der Sechzigerjahre. Dreitagebart, dennoch korrekt in Anzug gekleidet, aber immer mit diesem distanzierten, dunklen Blick, der die Frauenherzen reihenweise einfängt. Und nun musste er wieder ans Meer.
Es dämmerte bereits, als er die Autobahn an der Ausfahrt Ratekau verließ und auf der Landstraße der Beschilderung Richtung Timmendorfer Strand...
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