TITELLOSES MANUSKRIPT:
8. Entwurf
Man sagt, alle Väter sollten sich die Mühe machen, die Meilensteine im Leben ihrer Kinder mitzuerleben.
Ich war dabei, als meine Tochter geboren wurde. Ich sah ihr kleines Herz schlagen und beobachtete, wie rosafarbenes Leben sich in ihrem Körper ausbreitete, als sie ihren ersten Atemzug machte. Ich war sechs Monate später dabei, als sie ihr erstes Wort sagte: ein kurzes, zweifelndes »Ba!«. Ich war dabei, als sie ihren ersten Zahn bekam, als sie begann zu krabbeln und als sie, mit dreizehn Monaten, ihre ersten torkelnden Schritte von der Kante des niedrigen Wohnzimmertischs in meine ausgestreckten Hände machte.
Und ich war natürlich an ihrem dritten Geburtstag dabei. Dem Tag, an dem sie verschwand.
Nach ein paar Stunden, als die Dunkelheit schließlich hereingebrochen war und die Suchtrupps aus den Dünen zurückgekommen waren, blieb eine Polizeibeamtin bei mir im Strandhaus. Ihr Name war Kath Ptolemy, und sie war Detective Constable vom Alnwick CID, der man den Auftrag gegeben hatte, sich um mich zu kümmern. Sie war vielleicht zehn Jahre jünger als ich, und ich dachte unwillkürlich an diesen alten Spruch, dass man weiß, man wird älter, wenn Polizisten anfangen, jünger auszusehen.
»Glauben Sie, sie ist entführt worden?«, fragte ich sie. »Glauben Sie, sie ist tot?«
»Bitte, Richard«, sagte sie. »Solche Sachen dürfen Sie nicht sagen.«
Aber du ertappst dich dabei, solche Sachen zu sagen, nicht weil du irgendwelche Trostworte zur Antwort hören möchtest, sondern weil der Vorgang dein Gehirn nur ein paar glückselige Sekunden lang von dem schreienden Entsetzen ablenkt. Das wusste Ptolemy. Deshalb sorgte sie dafür, dass ich weiterredete.
»Was für eine Art Schriftsteller sind Sie denn?«, fragte sie.
»Ich schreibe Romane. Das ist zumindest mein Traum.«
»Haben Sie schon was veröffentlicht?«
»Ein paar Sachen. Kurzgeschichten. Kleine journalistische Texte hier und da. Aber es ist eine schwierige Zeit. Die Verleger schnallen alle die Gürtel enger. Was für Sachen lesen Sie denn?«
Sie schaute mich verlegen an. »Ich bin keine große Leserin.«
»Dafür ist immer Zeit«, sagte ich zu ihr. »Es ist nie zu spät, um ein Buch in die Hand zu nehmen.«
»Ich muss rasch mal telefonieren«, sagte sie. »Machen Sie doch eine Kanne Tee für uns. Und Sie sollten etwas essen. Sie müssen bei Kräften bleiben. Haben Sie irgendwas im Haus?«
»Im Kühlschrank ist etwas Käse. Cracker. Möchten Sie irgendwas?«
»Das wäre toll.«
Das ist noch ein Trick, siehst du? Halte sie in Atem, die, die einen Verlust erlitten haben. Bring ihnen keinen Tee oder Mitleid entgegen, weil sie nur dasitzen und die Wände anstarren und an ihr Kind denken, das an irgendeinem dunklen und furchtbaren Ort nach ihnen schreit, während du das Zimmer verlassen hast, um das Teewasser aufzusetzen und die Kekse auf einen Teller zu legen.
Deshalb ging ich in die Küche und ließ Wasser in den Kessel laufen. Ich nahm ein großes Stück reifen Cheddar aus dem Kühlschrank und schnitt ihn auf dem Schneidebrett in Scheiben. Ich legte die Scheiben fein säuberlich auf die Kekse. Ich schnitt sogar eine Tomate in vier Stücke.
»Wie lange haben Sie schon dieses Haus?«, sagte Ptolemy, die in der Küchentür erschien.
»Seit ein paar Jahren.«
»Schön. Wie oft kommen Sie hier raus?«
»Früher an den meisten Wochenenden. Seltener, seitdem Beatrice auf die Welt gekommen ist, aber es wird wieder leichter gehen, wenn -«
»Es ist ein wunderschönes Fleckchen«, sagte Ptolemy rasch. »Ich hoffe, Sie haben etwas Milch.«
Sie hatte die ganze Zeit ihr Mobiltelefon in der Hand. Manchmal hob sie es hoch und schaute auf das leere Display, bevor sie die Hand wieder sinken ließ. Gelegentlich scrollte sie nach unten, um nachzuschauen, ob sie eine SMS erhalten hatte. Und wenn sie nicht mit ihrem Handy herumspielte, schaute sie auf das Festnetztelefon auf dem Ständer neben dem Sofa. Weil - abgesehen von der Unterhaltung - das der wahre Grund für ihre Anwesenheit war. Falls jemand anrief, um zu sagen, sie hätten Beatrice gefunden.
Aber in dieser Nacht klingelte das Telefon nicht.
Ich rechnete nicht damit, schlafen zu können. Ich glaubte, ich wäre zu aufgedreht, zu verzweifelt. Zu verdammt schuldbewusst. Aber ich wurde von Ptolemy geweckt, die fest an meiner Schulter rüttelte.
»Richard«, sagte sie. »Wir müssen aufbrechen.«
Ich lag auf dem Sofa unter einer dünnen Decke. Ich konnte es nicht ertragen, im Schlafzimmer zu sein, weil man dafür an dem Gästezimmer vorbeigehen musste, das wir im letzten Sommer für Beatrice eingerichtet hatten.
Furcht ergriff mich. »Was ist passiert? Hat man sie gefunden?«
»Nein. Kommen Sie. Ziehen Sie sich an, wir müssen gehen.«
Ich konnte angesichts des dünnen, grauen Lichts sofort erkennen, dass es gegen sechs Uhr sein musste. Wenn wir mit Beatrice hier waren, war das die Zeit, in der mein Tag begann. Indem ich Toast und Kaffee machte, Rice Krispies in eine Schale schüttete, barfuß neben der offenen Küchentür stand und dem Meeresrauschen auf der anderen Seite der Dünen zuhörte.
Auf ihr Rufen aus dem ersten Stock und den Aufschwung meines Herzens wartete.
»Wohin gehen? Ich darf hier nicht weg. Was ist, wenn .?«
»Ziehen Sie sich an, Richard. Bitte.«
Irgendwo habe ich gelesen, dass die größte Chance, ein vermisstes Kind lebendig und wohlauf zu finden, innerhalb der ersten vier Stunden nach seinem Verschwinden besteht. Danach verringert sich die Wahrscheinlichkeit exponentiell mit jeder Stunde, die verstreicht. Von all den Dingen, über die wir an jenem ersten Abend sprachen, war dies das Einzige, was Ptolemy nicht erwähnte - weil sie wusste, dass es das Einzige war, was mich zu einem kleinen Häufchen Elend reduziert hätte.
Die ersten beiden Stunden, nachdem Beatrice verschwunden war, wurden folgendermaßen verbracht: still dastehend, auf die leere Rückentrage auf dem Boden starrend; ihren Namen rufend; fluchend; am Strand auf und ab gehend; nach oben in die Dünen steigend; Leute fragend, ob sie das Kind gesehen hätten; den Strand hinauf- und hinunterrennend; suchend durch die Brandung streifend; zurück zum Haus rennend; zurück zum Strand rennend; noch ein paarmal ihren Namen rufend; stehend, sitzend, nachdenkend, in Panik geratend, betend.
Die nächste Stunde wurde mit Warten darauf verbracht, dass die Polizei auftauchte, und als sie da war, mit der Erklärung, dass ich Beatrice nur zwei Minuten aus den Augen gelassen hatte, während ich in meiner Spur zurückging und den Sonnenhut suchte, den sie von der Rückentrage aus weggeworfen hatte. Zwei verdammte Minuten. Sie war drei Jahre alt - wie weit konnte sie gegangen sein? Die Polizisten schauten mich an, als wollten sie sagen: Allein oder mit jemand anderem?
Die vierte Stunde - die letzte Stunde, in der die Chancen, ein vermisstes Kind wiederzufinden, gut stehen - wurde damit verbracht, das gleiche Gebiet des Strandes, der Dünen und der Brandung mit zwei Polizisten in Uniform abzusuchen. Den gleichen Leuten die gleiche Frage zu stellen: Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen? Drei Jahre alt, braunes, lockiges Haar, leichtes Sommerkleid mit Tupfen?
Und danach verringerte sich die Wahrscheinlichkeit, sie wiederzufinden, mit jeder Stunde, die verstrich, exponentiell.
Als Ptolemy mich weckte, war Beatrice seit sechzehn Stunden verschwunden.
Das Strandhaus liegt am Ende einer Sackgasse, die so ziemlich in den Dünen selbst aufhört. Es hört sich schrecklich eindrucksvoll an, wenn jemand sagt, wir haben ein Wochenendhaus an der northumbrischen Küste, aber an unserem ist nichts Eindrucksvolles. Glaubt mir, einige der anderen Häuser im Dorf haben größere Garagen. Margaret und ich kauften es spottbillig von der Gemeinde, weil sie auf diese Weise um die Abrisskosten herumkam. Es sollte unser »work in progress« werden, etwas, an dem wir herumbastelten, sobald das Geld verfügbar war. Das eingeschossige Steingebäude, das von Dünen und Strandhafer fast verborgen wurde, beherbergte mal zu der Zeit, als Rettungsboote wenig stabile Ruderboote aus Holz waren, das Bamburgher Rettungsboot. Das ganze Ding steht immer noch auf den originalen Holzpfählen; unter dem Fußboden gibt es einen Hohlraum mit festgetretener Erde, worüber wir nicht allzu gern nachdenken, wenn wir im Bett liegen und dem Krächzen und Stöhnen des Hauses in einer windigen Nacht zuhören. Von dort, wo sich jetzt die Küche befindet, führte früher eine Holzrampe über den Sand, und das Boot wurde von Pferden direkt ins Meer gezogen.
Heutzutage kommen die Rettungsboote aus Seahouses oder Berwick-upon-Tweed. Es sind kräftige Schiffe auf dem neuesten technischen Stand mit großen Motoren und Radar, mit denen sie in der Lage sind, große Meeresgebiete abzusuchen. Sie arbeiten mit den Sea King Seenotrettungshubschraubern zusammen, die auf dem...