Schweitzer Fachinformationen
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London, 2004
Schweigen heißt nicht, dass nichts zu hören ist; Schweigen ist eine Sprache. Und wie jede Sprache muss man sie erlernen. In meinem ersten Jahr in London brachten mir die Lehrerinnen in der Schule englische Wörter und Ausdrücke bei. Ich erfuhr etwas über den Schwarzen Tod und die Pulververschwörung und Guy Fawkes, der das Parlament in die Luft hatte sprengen wollen. Ich lernte meinen Akzent verlieren, damit mich die englischen und jamaikanischen Kinder nicht »afrikanischer boubou« nannten. Und zu Hause lernte ich, Tonlage und Besonderheit von Tantine Mireilles jeweiligem Schweigen zu deuten. Es gab sanftes Schweigen, das wie Wasser aus einer Quelle floss - das Schweigen, mit dem sie mich morgens begrüßte, bevor sie zum Putzen ins Krankenhaus ging, wenn sie noch erdig nach schwarzer Dudu-Osun-Seife roch. Und es gab hartes Schweigen, das wie eine pralle Regenwolke über mir hing - und kurz darauf, manchmal auch erst Tage später, entlud sich das Gewitter. Fünfzehn Jahre nach meiner Ankunft sollte ich lernen, dass man Schweigen - wie Herzen, Menschen und Versprechen - brechen kann.
Wir wohnten in Elizabeth Estate - zwei halbkreisförmige, durch einen breiten ziegelroten Gehweg voneinander getrennte Häuserblocks -, und wie alle Sozialbauten in Kilburn beherbergte auch unserer mehr als hundert Familien so dicht an dicht, dass aus dem anderen Block Bob Marleys wummerndes One Love zu hören war und gleichzeitig aus der Nachbarwohnung das plärrende Kind, das sich gerade eine gefangen hatte. Wer aufmerksam lauschte, bekam das leise Stöhnen einen Stock über uns mit; wer noch gründlicher horchte, bemerkte, dass die Stimme des Mannes anders klang als die Stimme des Mannes, der jeden Morgen zur Arbeit ging.
Im Frühling blühten die korallenroten und gelben Pfingstrosen in den Blumenampeln von Mrs Pinto, und die Betonwände von Elizabeth Estate wirkten nicht mehr so trist. Im Sommer mischte sich der Duft von gebratenen Zwiebeln, Currygemüse, Kalamata-Oliven und Ziegenfleisch mit dem Schweiß der Kinder, die den Bewohnern Klingelstreiche spielten und fünf gegen fünf kickten, obwohl im Hof ein grün-weißes Schild mit der Aufschrift BALLSPIELEN VERBOTEN stand. Und im Notting Hill Carnival drehten die jungen Leute Bashment und Dancehall ordentlich auf.
Nach dem Guy-Fawkes-Feuerwerk im November mit üblicherweise illegal beschafften Böllern fiel Elizabeth Estate wie der Rest von London ins Koma. An den Wäscheleinen hingen keine bunten indischen Kamiz-Hemden und Bettbezüge mehr, kein Eiswagen kam, dem man hätte nachrennen können, die Planschbecken waren eingemottet, die Flüche der Kinder der zweiten Generation, die darauf vertrauten, dass ihre Eltern die Kraftausdrücke nicht kannten, mit denen sie um sich warfen - Fotze, Arschloch, Wichser -, waren nicht mehr zu hören. Keine Arme ruhten mehr auf Balkonbrüstungen, keine Ciderdosen wurden auf ex geleert, keine Kippen weggeschnippt. Die einzigen Farbtupfer waren der gelbe Schein in den Doppelglasfenstern und die blau und rot zuckenden Lichter der Streifenwagen, die dem Gefühl nach immer genau in dem Moment auf?tauchten, wenn im Fernsehen EastEnders anfing. Das war die Zeit, in der die Bewohner von Elizabeth Estate schwarze und graue Mäntel trugen und sich hastig bewegten, in der ihre Gesichter so ausgebleicht waren wie die Flaggen an ihren Balkonen und verhärtet von einer stillen Trauer, als würden sie an zu Hause denken und grübeln, ob sich die Flucht ausgezahlt hatte.
An so einem Tag, zwei Wochen nachdem die Guy-Fawkes-Puppe auf der Brachfläche gegenüber Elizabeth Estate verbrannt worden war, saß Papa Pasteur in unserem Wohnzimmer, als ich heimkam. Ich hatte gerade den ersten Tag als Anwaltsgehilfin in der Kanzlei Bailey & Cunningham hinter mir und wollte mich mit Kay zu einer Fotoausstellung treffen, als Tantine Mireille anrief und mir befahl, sofort nach Hause zu kommen. Ich hasste es, wenn sie anrief. Wenn sie simste, wusste ich genau, was sie wollte - »Kauf Klopapier«, »Füll den Strom auf«, »Heute Abend Gebetswache«. Wenn sie anrief, hörte ich an ihrer Stimme, dass alles, was mich zu Hause erwartete, unweigerlich mit ihrem Schweigen enden würde. Zwölf Jahre war es her, dass ich Kinshasa verlassen hatte, seit zwölf Jahren wohnte ich bei Tantine Mireille in Elizabeth Estate, aber sie war mir so fremd wie bei der ersten Begegnung am Abend nach der Ankunft von Mama und mir am Flughafen Heathrow. Als ich anrief, um Kay abzusagen, bekam ich die automatische Mailboxstimme zu hören; ich beendete meine Nachricht, wie ich in den zehn Monaten, die wir zusammen waren, alle Telefonate mit Kay beendet hatte - love you.
Als ich Elizabeth Estate erreichte, war der Himmel schon pechschwarz, obwohl es noch früh am Abend war, und von der Brachfläche, wo Leute um ein Lagerfeuer saßen und tranken und lachten, stieg dicker Qualm auf. Die Guy-Fawkes-Nacht war schon zwei Wochen her, aber man hörte noch immer jeden Tag Feuerwerk krachen. An solchen Abenden, wenn die Luft so bitterkalt war, dass sie durch meine Yaki Braids drang - Farbton 1B, Naturschwarz -, vermisste ich Mama und Papa am meisten. Ich vermisste die weißen Säulen unseres Hauses in Binza und die malachitgrünen Flüsse von Mbandaka, wo ich mit Papa die Kaffeefarm besichtigt und den Fischern zugesehen hatte, wie sie die Netze voller Süßwasserfische einholten. Ich vermisste die Malstunden bei Madame Mwanza, den Swimmingpool im Garten meiner Großeltern in Gombe, aber am meisten fehlte mir die Sonne. Mein zwölf?ter Winter in London, und ich hielt die Kälte noch immer nicht aus.
Am Nachthimmel knallte Feuerwerk, und ich legte instinktiv die Hände auf den Kopf und duckte mich. Ich war sofort wieder in Kinshasa - ein verängstigtes kleines Mädchen, das mit nass gepinkeltem Schulrock auf der Rückbank des Mazda kauert, während draußen geschossen wird. Zwölf Jahre waren vergangen, aber die Soldaten, die Kinshasa geplündert hatten, sah ich noch immer vor mir. Da waren wieder die Schreie, die Feuerwand rings um das Auto; der Rauch, die an die Stoßstange krachenden Körper. Ich öffnete die Augen und schluckte schwer, um den Rauchgeruch wegzukriegen, klappte den Mantelkragen nach oben und lief schnurstracks zum Haus, damit sich Tantine Mireille nicht beschwerte, weil ich zu spät zurückkam.
Im Haus roch es nach dem Eintopfgericht aus Maniokblättern, das Tantine Mireille zu besonderen Anlässen - also sehr selten - kochte. Kaum hatte ich die Eingangstür geschlossen, hörte ich ihn so laut und samtweich französisch sprechen wie auf dem Podium während der Sonntagspredigt in The Mountain, unserer Kirche - Papa Pasteur. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Was hatte er bei uns zu suchen? Vorsichtig hängte ich meinen Mantel an den Haken und warf einen Blick auf den Kassierstromzähler. Das Notguthaben betrug gerade mal dreißig Pence. Bei der Kocherei würde das für den Abend nicht reichen, und Tantine Mireille würde mich schimpfen, weil ich nicht aufgefüllt hatte. Im Wohnzimmer saß Papa Pasteur im Sessel vor dem Fernseher, dem Sessel, in dem Kay und ich uns ein paar Wochen zuvor geliebt hatten, als Tantine Mireille zum Begräbnis von Großvater nach Kinshasa geflogen war.
»Unsere Tochter!« Papa Pasteur streckte mir lächelnd die Arme entgegen. Er trug wie üblich einen beigen Anzug und die glänzenden braunen Westons, die so laut knallten, wenn er auf dem Podium hin und her ging.
»Guten Abend, Papa Pasteur.« Ich küsste ihn auf beide Wangen.
Tantine Mireille saß mit gesenktem Kopf auf der Sofakante. Ich sagte leise »Guten Abend«, aber sie antwortete nur mit Schweigen und nickte.
Nachdem ich aus dem Bahnhof Kilburn High Road gekommen war, hatte ich Kay noch mal angerufen und wieder nur ihre Mailbox erreicht, aber jetzt, beim Anblick von Papa Pasteur im Wohnzimmer, wurde mir klar, dass etwas passiert sein musste. Jemand hatte uns zusammen gesehen, ich war mir ganz sicher. Ich passte immer auf, wenn ich mit Kay ausging, aber unsere Gemeinde war inzwischen so viel größer geworden - jeder konnte uns gesehen haben. Kay war anders als alle Menschen, die ich zuvor gekannt hatte, ob in der Schule, an der Uni und erst recht in The Mountain. Sie hatte straffe Basketballerinnenbeine, und ihre Haut war rötlich braun wie abgefallenes Laub im Herbst, und ihr Blick ging so...
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