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Kapitel 2
Sergio rannte. Im Laufen stopfte er die Kamera in die Tasche und klickte den Verschluss zu. Wie sollte er jetzt ins Stadtzentrum gelangen? Der Dienstwagen stand an der Wache. Sergio benutzte ihn nie. Er ging zu Fuß oder fuhr mit dem Bus. Doch zu Fuß dauerte es eine Ewigkeit bis zum Römischen Theater, und der Bus fuhr um diese Uhrzeit noch nicht.
Er lief auf den Campingplatz zu, der am äußeren Ende von San Giusto lag. Das Tor war verschlossen. Sergio rüttelte daran. An der Hütte mit der Rezeption waren die Vorhänge zugezogen, um halb sechs Uhr morgens war natürlich noch niemand da, der ihm hätte helfen können. Aus Richtung der Landstraße SP15 hörte er ein Motorengeräusch. Das musste der Wagen sein, den er vorhin zwischen den Hügeln gesehen hatte. Sergio lief den Abhang hinab und stellte sich auf die Fahrbahn. Er rückte die Dienstmütze zurecht, zog die Uniformjacke gerade und postierte sich mit erhobener linker Hand auf dem Mittelstreifen. Hoffentlich schoss nicht einer der jungen Burschen um die Kurve, denen er sonst Strafzettel verpasste.
Das Auto näherte sich mit normaler Geschwindigkeit. Ein grüner Fiat 500. Keines der neuen, geräumigen Modelle, sondern ein Relikt aus den Tagen, als Autofahrer nicht größer als einen Meter vierzig sein durften. Die Erbse rollte an den Straßenrand. Unterhalb des Masso di Mandringa blieb der Wagen stehen. Der gewaltige Tuffsteinfelsen ließ ihn noch winziger erscheinen. Eine Frau saß am Steuer. Sie schaltete den Warnblinker an, kurbelte das Fenster herunter und sah zu Sergio herüber.
Er kniff die Augen zusammen. Das war niemand aus Volterra. Niemand, den er kannte. Er zückte seinen Dienstausweis und ging auf den Wagen zu.
»Signora, ich bin Polizist der Dienststelle Volterra und muss wegen eines Einsatzes dringend in die Stadt. Bringen Sie mich bitte zum Römischen Theater.« Er hoffte, eine gute Mischung aus Freundlichkeit und Autorität in seine Stimme gelegt zu haben.
»Sergio? Bist du das?«, fragte die Unbekannte. »Pandolino?«
Ein vages Unwohlsein befiel Sergio. So hatte ihn seit seiner Schulzeit niemand mehr genannt.
»Agente Sergio Panda, Signora.« Er hatte jetzt keine Zeit für Geplänkel am Straßenrand. Sonst liebte er solche Augenblicke - eine einsame Landstraße, eine Autofahrerin ohne Begleitung. Statt über Strafzettel zu streiten, tauschte man Telefonnummern aus. Aber nicht jetzt. Pandolino hatte sie gesagt!
»Ich werde einsteigen, damit Sie mich zum Einsatzort fahren können«, erklärte er umständlich. Noch umständlicher war es, sich auf den Beifahrersitz zu zwängen. Das Handschuhfach drückte gegen seine Knie, und die Rückenlehne des Sitzes stand schräg nach vorn. Sie ließ sich nicht bewegen.
»Die muss ich mal reparieren lassen«, sagte die Fahrerin.
Hoffentlich sah ihn Alessandro so nicht. Oder ein Tourist, der dann ein Foto ins Internet stellte.
Der Wagen fuhr langsam an. Sergio presste sich gegen den Sitz. Etwas krachte, die Lehne landete auf der Rückbank. Immerhin konnte er nun aufrecht sitzen.
Das Morgenlicht veränderte die Aussicht so schnell, als würde jemand an einem Regler drehen. Im Gegensatz dazu mühte sich das kleine Auto mit Schrittgeschwindigkeit die steile Straße zum Stadtzentrum hinauf. Sergio blickte durch den Spalt zwischen Wagendach und Sonnenblende. Die Gärten am Stadthang zogen vorbei, dann die große gelbe Blume mit dem roten Schriftzug des Conad-Supermarktes.
Er musterte die Fahrerin. Sie schien klein zu sein. Ihr dunkles Haar berührte den Himmel des Wagens kaum. Ihr Kinn war so ausgeprägt wie ihre Nase.
»Woher kennen Sie mich?«, fragte er über das Brummen des Fiats hinweg.
»Pandolino!«, rief sie und lachte aus vollem Hals. »Du erinnerst dich nicht an mich?«
In Sergios Kopf schienen alle Erinnerungen ausgelöscht. Er musste wissen, wo sein Vater steckte, und nicht, welche Spitznamen er einmal getragen hatte.
»Die Grundschule in San Giusto. Wir sind in dieselbe Klasse gegangen.« Sie sah ihn an.
»Giulia!«, entfuhr es Sergio. »Giulia Fonte.« Er hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie elf oder zwölf Jahre alt gewesen war. Sie war ein verschwommenes Gesicht auf einem Klassenfoto, das man irgendwann hervorkramte und sich Fragen stellte, auf die es keine Antworten gab.
»Jawohl, Signor Agente. Die Giulia, der du als kleiner Junge hinterhergelaufen bist, nur weil ich dich einmal geküsst habe. Auf die Wange.« Ihr Gesichtsausdruck war ernst, als sie das sagte.
Der grüne Cinquecento bog nach links in die Viale Franco Porretti ein. Lachsfarbene Wolken schwebten über der Stadt.
Sergio kramte in seiner Erinnerung. »Du hast Volterra nach der Grundschule verlassen«, sagte er. »Deine Familie ist ans Meer gezogen, nicht wahr?«
»Du hast ein gutes Gedächtnis«, erwiderte Giulia.
»Tägliches Futter vom Geschwätzmenü der Trattoria.«
»Das Il Gusto gibt es also noch?«, fragte Giulia.
»Mein Vater hält durch. Ich helfe nach Dienstschluss aus.« Der Gedanke an seinen Vater ließ ihn verstummen. Zum Glück war das Ziel bald erreicht.
Der Wagen legte sich nach rechts in die Kurve und näherte sich der Porta Fiorentina. Über dem Eingang des uralten Stadttors wölbte sich ein verwittertes Wappen aus dem Mauerwerk heraus. Das steinerne Oval sah von Weitem aus wie ein Gesicht mit strenger Miene. Schon zu dieser frühen Stunde waren etliche Touristen unterwegs. Im Juli erreichte der Besucherstrom in Volterra seinen jährlichen Höhepunkt.
Giulia hieb die flache Hand auf die Hupe und hielt sich vor dem Tor rechts, um den kleinen Parkplatz am Eingang zum Römischen Theater zu erreichen. Doch bis dorthin kam sie nicht. Die Einsatzwagen der Misericordia versperrten den Weg. Zwischen den hohen Bäumen dahinter war ein rot-weißes Band gespannt. Giulia trat auf die Bremse, und Sergio musste sich abstützen, um nicht mit der Stirn gegen die Windschutzscheibe zu prallen.
»Grazie«, bedankte er sich hastig und sprang aus dem Wagen. Sie rief ihm noch etwas hinterher.
Sergio bückte sich unter dem Flatterband hindurch. Als er sich wieder aufrichtete, stand Alessandro vor ihm.
»Schneller ging's nicht«, sagte Sergio.
»Du solltest dich wirklich mal an einen Dienstwagen gewöhnen«, maulte Alessandro und bat einen Mann mit weißer Schürze, hinter der Absperrung zu bleiben. »Immer dasselbe«, sagte Alessandro. »Es sind die Einheimischen, nicht die Touristen, die vor Neugier platzen und uns bei der Arbeit stören. Signori!«, rief er. »Bitte bleiben Sie zurück!«
Sergio nahm den Kollegen beiseite. »Was ist denn passiert?«
»Morelli hat mich rausgeklingelt«, berichtete Alessandro. »Er hatte Nachtschicht. Die Besitzerin des Lebensmittelgeschäfts an der Via Guarnacci saß bei ihm in der Wachstube. Sie wohnt an der Via dei Lecci, nahe dem Römischen Theater, und hat die Tote entdeckt, als sie ihren Hund ausführte. Als ich herkam, waren die Rettungssanitäter schon da und sagten mir, dass es sich um Stella Aurora handelt. Und weil ich gestern Abend beim Boccia gehört habe, dein Vater sei mit der Diva in die Stadt hinaufspaziert .« Alessandro sprach nicht weiter und wandte sich wieder der Absperrung zu. »Bitte bleiben Sie zurück!«
Sergio seufzte. Der Tratsch im Viertel war der schnellste Informationskanal der Welt. Vor allem die Trattoria Mortale und die Bocciabahn von San Giusto galten als Zentren der Nachrichtenübermittlung.
Er ging zu den vier Helfern der Misericordia. Die in blau-gelbe Overalls gekleideten Männer lehnten an einer Mauer am Eingang zur Theaterruine und unterhielten sich angeregt. Erste-Hilfe-Ausrüstung lag auf dem Boden, schien aber nicht zum Einsatz gekommen zu sein. Die Notfallgeräte waren noch in Plastik verpackt.
»Giorno«, grüßte Sergio. »Wie sieht's aus bei euch? Wo ist Stella Aurora?«
»Da hinten.« Silvano Arpini, einer der Rettungssanitäter und Sergios ärgster Rivale beim Boccia, deutete auf das Gelände des Teatro Romano. Zwischen den Säulen des antiken Bühnengebäudes waren weitere blau-gelbe Overalls zu sehen. »Sprich mit Clara.«
Sergio kannte die Notärztin Clara Manfredi von gemeinsamen Einsätzen bei den Verkehrsunfällen auf Volterras kurvigen Steilstraßen. Er nickte Silvano zu und gab Alessandro ein Zeichen. Weitere Schaulustige versammelten sich an der Absperrung. Der Tag trieb die Menschen aus den Häusern, direkt dorthin, wo es etwas Neues zu erfahren gab.
»Du gehst da allein rüber!«, rief Alessandro im Befehlston. Dabei hob er verschwörerisch die Augenbrauen.
Natürlich! Für einen Moment hatte Sergio vergessen, dass Alessandro kein Blut sehen konnte. Wie er es trotzdem geschafft hatte, Polizist zu werden - sogar kommissarischer Leiter der Wache von Volterra -, war ein Rätsel, das Sergios Kollege hinter beharrlichem Schweigen und freundlicher Miene unter Verschluss hielt. Gab es einen Unfall oder eine Schlägerei, war deshalb stets Sergio zur Stelle. Im Gegenzug für diese Gefälligkeit lotste Alessandro Touristen, die ihn nach dem Weg fragten, zum Il Gusto.
»Schon gut. Ich übernehme das«, sagte Sergio und ging an dem kleinen Kassenhäuschen vorbei zum Ausgrabungsgelände des Teatro Romano. Die antike Bühne gehörte zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Die Morgensonne leuchtete das weite Areal bereits aus. Sergio knöpfte seine Uniformjacke auf, während er sich auf die riesige Zuschauertribüne zubewegte, auf deren Stufen schon vor zweitausend Jahren Theaterbesucher gesessen...
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