Schweitzer Fachinformationen
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Maya ist hoffnungslos romantisch. Sie liebt nostalgische Kleider und französisches Gebäck und glaubt an die Liebe auf den ersten Blick. Als sie eines Morgens im Zug einem jungen Mann gegenübersitzt, dessen sanfte Augen konzentriert auf die Seiten eines Romans blicken, ist es um sie geschehen. Mit Schmetterlingen im Bauch steigt sie nun jeden Morgen in den Zug, doch der schöne Fremde scheint sie nicht zu bemerken. Ein kleiner Zettel soll ihrem Glück auf die Sprünge helfen - mit ungeahnten Folgen ...
Juli 2013
Maya steht auf dem dampfenden Zementboden des Bahnsteigs, an dem der Zug nach London abfährt. Auf das unebene graue Pflaster ist eine leuchtend gelbe Sicherheitslinie aufgemalt, die sich unangenehm anfühlt, als würde man auf Lego treten. Es ist Gleis 2, und Maya musste von Gleis 1 die Treppe hinunter und durch einen nach Urin stinkenden Tunnel rennen, um herzukommen. Jedes Mal, wenn sie durch diesen Tunnel läuft, fürchtet sie, ausgerechnet in diesen zwanzig Sekunden könnte ein Hochgeschwindigkeitszug oben über das Gleis donnern und das klapprige Tunneldach zum Einsturz bringen.
Es ist ein bedeckter und drückend warmer Tag, aber Maya macht es nichts aus, wieder auf ihren Zug zu warten. Bald wird sie bei ihren Freunden sein, und sie werden jede Menge Spaß haben. Sie werden über Ideen für die Herbst-/Wintersaison reden, obwohl Hochsommer ist, über das Fernsehprogramm von gestern lachen und darüber nachdenken, wie die Zukunft bezahlbarer Mode aussehen könnte (während sie sich köstlich über die Weihnachtsbaum-Jumpsuits amüsieren, die gerade angekommen sind).
Manchmal schweigen sie auch über Stunden. Maya ist gut darin, stundenlang konzentriert vor sich hinzuarbeiten und ganz in ihre Welt abzutauchen. Als sie sieben war, saß sie oft im Schlafzimmer ihrer Eltern und starrte das Bücherregal an. Es war ein staubiges Möbelstück, ungefähr zwei Meter breit, und auf den vier Regalböden waren die Bücher viel zu dicht gestellt, was die Aufbewahrungslösung ihres Vaters Herbert Flowers für eigentlich fast alles war.
Maya platzierte kleine Holzfiguren auf den Regalen, etwa so lang wie ihr längster Finger. Sie hatten schlichte Gesichter mit zwei schwarzen Punkten als Augen und einem roten Bogen als Lächeln, aber sie waren alle unterschiedlich gekleidet. Eine hatte langes, schwarzes Haar und einen roten Körper, eine andere trug einen Grasrock, und eine dritte sah - ganz in Blau - wie ein Polizist aus. Mayas Mutter hatte sie als Weihnachtsstrumpf-Befüllung für die Flowers-Kinder gekauft. Maya war verzückt gewesen!
Sie richtete ihnen Zimmer in diesem staubigen Behelfspuppenhaus ein, indem sie an strategischen Punkten Bücher hervorzog. Dann stellte sie die Puppen in die Räume oder Korridore, setzte sich hin und schaute sie an - so still, als wäre sie selbst eine Holzpuppe. Cremeweiße Haut, glattes, goldbraunes Haar, einige Sommersprossen, die im Sommer besonders klar hervortraten. Manchmal saß sie dort über Stunden und betrachtete diese ungleichen Gestalten, für die sie sich die unterschiedlichsten Szenarien ausmalte. Ihr Vater fragte sich dann immer, wo Maya steckte, während ihre Geschwister im Haus herumwirbelten. Doch sie hockte ganz ruhig dort oben und lauschte den imaginierten Gesprächen ihrer Puppen, und manchmal war sie so einen ganzen Vormittag in ihre eigene Welt abgetaucht.
Heute Morgen regnet es, und schon um 08:16 Uhr ist es unglaublich schwül. Vor langer Zeit, als sie in einer Bäckerei in Mexiko jobbte, hat Maya gelernt, dass solch ein Regen dort »chipichipi« genannt wird: ein diesiger Nieselregen, bei dem Seelen verkümmern und Haare sich kringeln. Sie steht auf dem Bahnsteig, liest das Lookbook für die nächste Saison und versucht sich Wörter zu den Bildern auszudenken, kann sich heute Morgen aber nicht so recht konzentrieren. Dieselbe Routine, dieselbe Zwei-Minuten-Verspätung auf der Anzeigetafel. Dieselben Gesichter um sie herum.
Soll ich heute Abend ein Chili kochen, denkt sie, während sie dreimal »Azteken-Muster« liest. Unschlüssig blickt sie über die vier Schienen hinweg zu der beschlagenen, schmutzigen Glasfront, durch die man in die volle Schalterhalle schaut. Sie weiß nicht, dass dort drinnen der Mensch ist, nach dem sie schon ihr ganzes Leben sucht.
Abgehetzte Berufspendler rennen von der Schalterhalle durch die Unterführung zum Bahnsteig. Als der Zug naht, richtet Maya ihren Blick wieder auf das Lookbook. Sie könnte mit geschlossenen Augen einsteigen und sich hinsetzen. Sie weiß, sogar ohne hinzusehen, dass es heute ein moderner Zug mit grünen und roten Sitzen ist, der etwas mehr Platz bietet. Keiner von den abgetakelten blauen Wagen mit zu vielen Sitzen, die zu eng zusammenstehen und fleckig sind, mit platt gedrückten Kaugummis, die sich in die Kunststoffpolster gefressen haben und an denen Dreck klebt. Die schlechteren Züge haben Verbindungstüren zwischen den Wagen, die man öffnet, indem man an einem schmierigen, runden Knauf dreht, der zu klein für normal große menschliche Hände ist. Allein der Klang des nun heranrollenden Zuges verrät Maya, dass es sich um ein neueres Modell handelt. Das Geräusch ist glatter, eleganter. Diese Züge haben Automatiktüren zwischen den Wagen und weiche Teppichböden. Ein moderner Zug bedeutet einen guten Tagesbeginn für Maya. Trotzdem blickt sie nicht auf, sondern blättert durch das Lookbook und kreist die Schlagwörter ein.
Dann - sie weiß selbst nicht, warum - wird sie von dem neonfarbenen Hahnentritt und Schottenkaro abgelenkt und bemerkt einen neuen Fahrgast auf dem Gleis. Jemanden, den sie noch nie um diese Zeit in diesen Zug hat steigen sehen.
Sie kann den Blick nicht von ihm abwenden, als er hastig seinen Schirm zuklappt, während der Zug einfährt. Er unterscheidet sich von all den anderen Männern in Anzügen und Frauen in schlecht sitzenden Kostümen, von denen sie glauben, sie würden Autorität ausstrahlen. Von all diesen üblichen Verdächtigen, die Maya zwar täglich sieht, mit denen sie sich jedoch nie unterhält. Die unscheinbare junge Frau mit dem sehr runden Kopf, den sie so langsam bewegt, dass sie wie eine Aufzieheule aussieht. Der immer schlecht gelaunte Typ mit dem Ziegenbart, der seine miese Stimmung für alle deutlich sichtbar vor sich herträgt. Die Blondine mit der Wespentaille, deren Arme wie aufgeblasen wirken und die sich hektisch in den Wagen drängelt, obwohl sie jeden Morgen einen Sitzplatz bekommt. Oder der Mann, der seine Metro hinter die Times Literary Supplement steckt und denkt, keiner würde es merken.
Dieser neue Fahrgast ist anders. Er ist groß mit schlanken Beinen und breiten Schultern; sein Haar ist so dunkelbraun, dass es schwarz sein könnte, und etwas verwuschelt - oder soll es so sitzen? Er hat einen dunkleren Teint, trägt eine schwarze, rechteckige Brille, trotz der Wärme einen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt sowie eine graue, enge Jeans in exakt demselben Ton wie die, die Maya heute anhat.
Sie beobachtet, wie er an ihr vorbei zum vorderen Ende des Bahnsteigs schreitet, an dem bremsenden Zug entlang, den Mund halb offen vor Staunen. Sein Anblick fühlt sich irgendwie beruhigend und vertraut an. Dieses Gefühl hat Maya schon seit Jahren nicht mehr gehabt, und es will nicht weggehen. Maya verlässt den dürftigen Schutz der leckenden Überdachung aus den Dreißigerjahren und folgt ihm weiter nach vorn auf dem Bahnsteig.
Als Maya diesem erstaunlichen neuen Fahrgast über den unebenen Bahnsteig hinterhereilt und seine langen Beine vor sich sieht, kommt es ihr vor, als würde eine sanfte Hand auf ihrem Rücken liegen und sie behutsam weiterschieben.
*
Als Maya das Zugabteil betritt, erscheint es ihr heute merkwürdig still. Niemand spricht, und die Atmosphäre wirkt irgendwie angespannt. Maya versucht, nicht über den Mittelgang zu dem Mann zu schauen, der Hundert Jahre Einsamkeit liest. Doch sie kann nichts dagegen tun.
Ist er verheiratet?
Maya malt sich ihren schönen Mitreisenden in einem Infinity-Pool irgendwo in den Tropen aus, an seiner Seite eine lächerlich glamouröse Frau mit lächerlich langen Beinen, die sie um ihn geschlungen hat. Frustriert blickt Maya nach unten.
Er trägt keinen Ring.
Dieser Mann, der Bahn-Mann, sitzt Maya schräg gegenüber auf der anderen Seite des Wagens. Zweimal zwei Sitze, die durch einen kleinen Tisch getrennt sind, unter dem ein Kaugummi klebt. Auf dem Tisch vor dem Bahn-Mann liegen Krümel, und er hat seine Brille zum Lesen abgenommen (aha, kurzsichtig) und sie auf die Krümel gelegt. Er sitzt in der Ecke am Fenster, entgegen der Fahrtrichtung. Maya weiß nicht, dass er ungern mit dem Rücken in Fahrtrichtung sitzt - sie kommt gar nicht auf den Gedanken. In ihrer Vierernische hat sie den Blick nach vorn gerichtet und neigt sich zum Fenster, berührt es aber nicht.
Könnte ich ihm doch direkt gegenübersitzen und sehen, ob seine Seele aus dem Blickwinkel genauso hübsch ist.
Maya möchte in seine nicht bebrillten Augen schauen, stattdessen steckt sie den Kopf in das Lookbook auf ihrem Schoß. Als sie die Beine übereinanderschlägt, ist ihr nicht bewusst, dass die Spitze ihres orangefarbenen Schuhs auf den Unbekannten zeigt.
Der Zug hält an dem einzigen Bahnhof vor der Endhaltestelle, und diverse unglückselige Fahrgäste steigen ein. Unglückselig, weil sie in diesem unglückseligen Ort wohnen und weil die letzten noch freien Sitzplätze inzwischen weg sind. Pech, aber dafür kostet ihre Monatskarte auch sechsundsiebzig Pfund weniger. Diese Leute wohnen an einem weniger netten, gedankenlos zusammengeklotzten modernen Ort, und sie müssen stehen.
Maya wäre gern kein solcher Snob. Ihre Labour-wählenden Eltern wünschten gleichfalls, sie wäre kein Snob, auch wenn sie sich bemühen, es als witzig abzutun.
Wie heißt er? Er sieht nach einem netten Namen aus, intellektuell, aber sexy. Vielleicht Seth oder Milo. Ja, Milo gefällt mir. Was machst du beruflich, Milo?
Mayas Fantasie beginnt davonzugaloppieren und fliegt vorbei an roten Klatschmohnblüten, die in einem Kornfeld leuchten....
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