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Johannes Först
Um das pastorale Konzept einer okkasionellen Pastoral besser verstehen zu können, sollen im Folgenden einige grundlegenden Linien zur theologischen Bedeutung der Gegenwart gezeichnet werden. Im Mittelpunkt steht das sinnkreative Potential der aktuellen Situation, dem angesichts zahlreicher und unterschiedlicher Konstruktionen von 'Tradition' im Raum der Kirche bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde bzw. wird. Allzu oft wird in kirchlichen Diskursen auf geschichtliche 'Tatsachen' der Tradition verwiesen, die man heute nicht mehr umgehen könne. Das sinnkreative Potential und die theologische Tiefenstruktur der gegenwärtigen Situation wird dabei regelrecht 'überfahren', als ob jene Wirklichkeit, die die Überlieferungen 'Gott' nennen, nicht auch im Heute zu finden wäre.1
In der Geschichte des Christentums entstanden immer wieder Theologien, die ein Bedeutungsgefälle zwischen Vergangenheit und Gegenwart konstruierten. Religionswissenschaftlich gesehen, sind sie wahrscheinlich typische Phänomene in Offenbarungsreligionen, die das 'Eigentliche' in einem konkreten geschichtlichen (Heils-) Ereignis festmachen.2 Insofern dieses konkrete Geschehen mit dem Zeitenlauf immer weiter in die Vergangenheit und damit temporal von der Gegenwart wegrückt, entwerfen solche Theologien einen Bedeutungsvorrang der früheren Zeit gegenüber der heutigen.
Man kann solches geschichtliches Gefälledenken zwischen 'Damals' und 'Heute' beispielswiese in den späten Schriften des Neuen Testaments lesen. Die Einsicht, dass die baldige Wiederkunft Jesu Christi ausbleiben wird, führte die Verfasser der 'Pastoralbriefe' dazu, von der charismatisch ausgerichteten 'Ekklesiologie' des Paulus mehr und mehr abzurücken und die Regeln der Bewahrung und Festigung des Glaubens durch die Zeit zu betonen. Die bei Paulus starke Gegenwartsorientierung des charismatischen Kirchenverständnisses folgte der Überzeugung: "Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt" (1 Kor 12, 7). Paulus meinte, dass die Offenbarung jedem jetzt geschenkt wird und dass sie jetzt der Gemeinde nutzt und dass die Gegenwart so zum aktuellen Vollzug des Wirkens des Geistes wird. Das Heute stand bei Paulus daher im Mittelpunkt des Heilsgeschehens und der Ekklesiologie.
Der Verfasser des Zweiten Briefes an Timotheus indes, der das Wiederkommen Christi nicht mehr unmittelbar erwartete, musste sich nun auf Dauer einrichten, weshalb er das Eigentliche in der Vergangenheit festmachte, das "es nun als apostolische Lehrverkündigung zu bewahren gilt"3. Darum forderte er dazu auf: "Halte dich an die gesunde Lehre, die du von mir gehört hast" (2 Tim 1,13). Und deshalb betonte er die Aufgabe, die ergangene Offenbarung treu zu überliefern: "Bewahre das dir anvertraute kostbare Gut" (2 Tim 1, 14). Und in 2 Tim 3,14 heißt es: "Du aber bleibe bei dem, was du gelernt und wovon du dich überzeugt hast". Kurz gesagt: Was bei Paulus in der aktuellen Gegenwart geschah, sieht der Verfasser von 2 Tim in der Vergangenheit, weshalb er das 'Eigentliche' des Glaubens durch die Zeit 'retten' muss.
Für ein weiteres Beispiel eines solchen Gefälledenkens mache ich einen großen zeitlichen Sprung in das 19. Jahrhundert hinein. Ein wesentliches Thema der Kirche seit der Neuzeit war (und ist es bis heute) die Auseinandersetzung mit der Modernisierung. Charles Tylor beschreibt die gesamte jüngere Geschichte des Christentums als eine Auseinandersetzung mit dem Modernisierungsprozess4 und damit als Auseinandersetzung mit manchen Entwicklungen, die von der Kirche damals als glaubensgefährdend angesehen wurden. Der bekannte Syllabus errorum (1864) eines Pius IX. versammelte eine große Anzahl an Modernisierungsphänomenen (bspw. der Verzicht der Kirche auf weltliche Macht und die Religionsfreiheit5), die aus damaliger Sicht der Kirche den Glauben bedrohten. In Reaktion auf die Bedrohungslage betonten die Piuspäpste vermehrt die Distanz zwischen einer von Irrtümern gekennzeichneten Gegenwart und der Zeit der Apostel. So entstand ebenfalls ein gedachtes Gefälle zwischen 'Damals' und 'Heute', das die Gegenwart dem Damals als theologiegenerativen Ort unterordnete. Beispielsweise atmet das Motu proprio Sacrorum antistitum (1910) in dieser Hinsicht ganz den Geist der 'Pastoralbriefe', wenn es die Irrtümer der Gegenwart herausstellt und von der Bewahrung der Lehre des Anfangs spricht.6 Das Bewahren diene dazu, dass nicht das festgehalten werde,
"was gemäß der jeweiligen Kultur einer jeden Zeit besser und geeigneter scheinen könnte, sondern damit die von Anfang an durch die Apostel verkündete unbedingte und unveränderliche Wahrheit 'niemals anders geglaubt, niemals anders' verstanden werde."7
Aktuell tauchen solche Theologien in Form einer Zeitgeistschelte auf. Mit dem Wort Zeitgeist wird die Gegenwart zumeist pauschal theologisch abgewertet, insofern diese dem christlichen Glauben widerspräche. Zeit rückt dabei grundsätzlich in eine minderwertige Perspektive, weil sie vergänglich, veränderlich und schnelllebig sei. Eine Anpassung der Christen an die zeitliche Welt und Gesellschaft stünde deshalb im Widerspruch zum Anspruch des Evangeliums, das solcher Zeitlichkeit nicht unterworfen sei.8 Bischof Stefan Oster etwa vertrat in einem Interview mit dem evangelikal orientierten Peter Hahne, das im Fernsehsender Phoenix ausgestrahlt wurde, die These, dass es eine Angleichung der Kirche an die Welt nicht geben dürfe. Aktuelle Kultur und Glaube, so der Bischof, seien schwer vermittelbar.9
Vermutlich geht der gegenwartsskeptische Gebrauch des Wortes "Zeitgeist" auf die Epoche der Aufklärung und die Zeit seit der Französischen Revolution zurück. In dieser Zeit erhielten auch die antimodernistischen katholischen Bewegungen ihren Ausgangsimpuls.10 Louis de Bonald und Félicité de Lamennais verfassten in dieser Zeit ihre traditionalistischen Schriften und die Action Française bildete sich allmählich in Frankreich heraus.11 Man geht daher nicht zu kurz in der Annahme, dass die gegenwartskritische Verwendung des Wortes Zeitgeist in der Kirche ein Erbe der antimodernistischen Traditionen Europas ist. J.G. Herder und J.W. von Goethe gebrauchten diesen Begriff auch, allerdings nicht derart pejorativ. Sie bezeichneten mit Zeitgeist die typischen Eigenschaften der Völker beziehungsweise bestimmter Gruppen. Damit wurde der Begriff Zeitgeist von ihnen reflexiv, quasi analytisch-empirisch zur Rekonstruktion der kulturellen Identität einer Gesellschaft gebraucht.12 In dieser Verwendung ist er also ein Vorgängerbegriff des modernen Kulturbegriffs. Denn auch dieser versteht sich als wertfreier, deskriptiver Begriff, der das Gesamt an Denk- und Handlungsweisen, Strukturen und Einrichtungen, kurz: der "alles, was im Zusammenleben von Menschen der Fall ist"13, im Blick hat.
Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Papst Paul VI. in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi (08.12.1975) die Kulturen der Welt, also auch die moderne, theologisch gewürdigt hat. Evangelium und Kultur seien nicht schlechterdings dasselbe, doch Menschen, die das Evangelium verkünden, seien selbst stets an eine bestimmte Kultur gebunden. Die Kulturen der Welt könnten deshalb das Evangelium aufnehmen, ja Gott könne nicht darauf verzichten, sich bestimmter Elemente der Kulturen zu bedienen, so der Papst:
"Das Evangelium und somit die Evangelisierung identifizieren sich natürlich nicht mit der Kultur und sind unabhängig gegenüber allen Kulturen. Dennoch wird das Reich, das das Evangelium verkündet, von Menschen gelebt, die zutiefst an eine Kultur gebunden sind, und kann die Errichtung des Gottesreiches nicht darauf verzichten, sich gewisser Elemente der menschlichen Kultur und Kulturen zu bedienen. Unabhängig zwar gegenüber den Kulturen, sind Evangelium und Evangelisierung jedoch nicht notwendig unvereinbar mit ihnen, sondern fähig, sie alle zu durchdringen, ohne sich einer von ihnen zu unterwerfen."14
Die Verbindung zwischen Gott und Kultur ist bei Paul VI. also menschlich-personal vermittelt. Insofern der Mensch stets kulturell gebunden ist, wird auch das Evangelium, das ihm gilt und das er selbst 'verkörpert', immer wieder kulturell situiert. In der Linie dieses Gedankens ist es nicht korrekt, die darauffolgende Bruchmetapher in Evangelii nuntiandi kulturpessimistisch gegen den Text auszulegen, wie dies mitunter zu lesen ist. Bei Paul VI. heißt es: "Der Bruch zwischen Evangelium und Kultur ist ohne Zweifel das Drama unserer Zeitepoche [.]."15 Manche theologische Kommentatoren...
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