Schweitzer Fachinformationen
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Und während die Zeitgenossen angesichts all der abgeschlagenen Köpfe noch rätseln, ob das Bewusstsein der Geköpften vom Körper getrennt noch weiterleben kann, entwirft László F. Földényi in seinem bildreichen Essay seine ganz eigene Erzählung des langen 19. Jahrhunderts - ausgehend von unserem Eintritt in die Kopflosigkeit. Zur gleichen Zeit hält auch die neue Technik der Fotografie Einzug. Erst ihre flächendeckende Verbreitung ermöglicht es, den Moment aus der Vergänglichkeit des Lebens zu lösen, ihn gleichermaßen zu verewigen wie zu töten. Das führt nicht nur zu einem neuen Verständnis von Zeit und Raum, sondern zu einer Veränderung der Wahrnehmung selbst. Als würde der Schnitt des Fallbeils sich ab da unendlich fortsetzen, wirkt fortan alles fragmentiert: die Körper, die Stadt, die Dichtung und die Malerei. Ein ganz und gar neues Bild des Menschen entsteht, das ihn als ein bizarres, ein gewaltlüsternes, ein kopfloses Wesen zeichnet und das bis in unsere Gegenwart fortwirkt.
Oh! In Paris herumstreifen - anbetungswürdiges und köstliches Dasein. Flanieren ist eine Wissenschaft, ist die Feinschmeckerei des Auges. Spazierengehen ist vegetieren; Flanieren ist leben.
Balzac, Physiologie der Ehe
Kehren wir noch ein letztes Mal zu Barbara Bansi zurück: Nachdem sie in Paris als Malerin eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte, siedelte sie 1802 nach Rom um und heiratete 1808 einen Arzt, Doktor Lorenzo Nannoni, mit dem sie in verschiedenen italienischen Städten lebte. Ihr Mann starb nur vier Jahre später, Bansi behielt auch als Witwe den Namen Madame Nannoni. 1814 kehrte sie aus Italien nach Paris zurück und zog in das verwinkelte Bohemeviertel in der Nähe des Louvre. Später unterrichtete sie als Zeichenlehrerin (maîtresse de dessin) in den Schulen Saint-Denis und Sainte-Clotilde. Sie starb 1863, sechsundachtzigjährig, in völliger Vergessenheit.
In Paris stellte sie im Salon vom November 1814 ein Ölgemälde mit dem Titel Die Heilige Jungfrau aus (Une vierge, Seriennummer 1412). Im gleichen Salon stellte auch der damals siebenundzwanzigjährige Louis Daguerre, der spätere Erfinder der Daguerreotypie, ein Ölgemälde aus (Seriennummer 1350), und Barbara Bansis alter und immer erfolgreicherer Bekannter Ingres zeigte sein Gemälde Don Pedro de Tolède baisant l'épée d'Henri IV (Seriennummer 533), das er bis 1832 noch in drei weiteren Fassungen anfertigen würde. Ingres wird im Katalog als ein in Rom lebender Maler geführt. Barbara Bansi gibt unter ihrem Namen »Nannoni, née Bansi (Mad)« die Adresse Rue du Doyenné 3 als Wohnort an. Wie lange sie dort lebte, ist nicht bekannt. Wegen der vermutlich niedrigen Miete wohl bis zum Anfang der 1850er-Jahre, als man mit dem Abriss der Straße und des benachbarten Viertels begann, womit der fast zwei Jahrzehnte währende Umbau von Paris seinen Anfang nahm. Das bei den Künstlern beliebte Viertel, in dem sie lebte, und vor allem die kleine Straße, in der sie wohnte, waren berühmt, ja berüchtigt. In seinem 1846 erschienenen Roman Cousine Bette beschreibt es Balzac so: »Zwischen dem Portal, das zum Pont du Carrousel führt, bis hin zur Rue du Musée fällt jedem, der, und sei es nur für ein paar Tage, nach Paris kommt, ein knappes Dutzend Häuser mit baufälligen Fassaden auf, an denen die entmutigten Besitzer keinerlei Reparaturen vornehmen [.]. Die Rue und die Impasse du Doyenné bilden die einzigen Zufahrtstraßen zu diesem düsteren, menschenleeren Komplex. [.] Wenn man im Kabriolett an jenem halbtoten Viertel entlangfährt und der Blick auf die Ruelle du Doyenné fällt, fröstelt einem die Seele, und man fragt sich, wer wohl dort wohnen und was abends dort vorgehen mag, wenn sich diese Gasse in eine Räuberhöhle verwandelt, wo die Laster von Paris, in den Mantel der Nacht gehüllt, ungehindert gedeihen.«
Lange vor Balzac muss auch Heinrich von Kleist das Doyenné-Viertel im Sinn gehabt haben, als er im Sommer 1801 in einem Brief Folgendes über die Gegend um das Palais Royal schrieb: »Zuweilen gehe ich, mit offnen Augen durch die Stadt, und sehe - viel Lächerliches, noch mehr Abscheuliches, und hin und wieder etwas Schönes. Ich gehe durch die langen, krummen, engen, mit Kot oder Staub überdeckten, von tausend widerlichen Gerüchen duftenden Straßen, an den schmalen, aber hohen Häusern entlang, die sechsfache Stockwerke tragen, gleichsam den Ort zu vervielfachen, ich winde mich durch einen Haufen von Menschen, welche schreien, laufen, keuchen, einander schieben, stoßen und umdrehen, ohne es übelzunehmen, ich sehe jemanden an, er sieht mich wieder an, ich frage ihn ein paar Worte, er antwortet mir höflich, ich werde warm, er ennuyiert sich, wir sind einander herzlich satt, er empfiehlt sich, ich verbeuge mich, und wir haben uns beide vergessen, sobald wir um die Ecke sind - Geschwind gehe ich nach dem Louvre und erwärme mich an dem Marmor, an dem Apoll vom Belvedere, an der mediceischen Venus«.
Baron Haussmann, der das neue Paris entwarf, hasste den Place du Carrousel und dessen Umgebung, das Doyenné-Viertel, und sorgte schon 1852, noch bevor er zum préfet de la Seine ernannt wurde, dafür, dass diese Gegend gesäubert wurde. Der Abriss des von unzähligen Gassen geprägten Viertels war aber schon viel früher geplant worden. Am 24. Dezember 1800 hatte es in der benachbarten Rue Saint-Nicaise ein fehlgeschlagenes Attentat auf Napoleon gegeben, bei dem mehrere Menschen ihr Leben verloren hatten. Daraufhin hatte Napoleon beschlossen, die labyrinthartig verschlungenen Straßen zu beseitigen, um den Platz zwischen dem Louvre und den Tuilerien zu öffnen. Doch bis auf den Abriss einiger Häuser geschah nichts. Auch ein Paris-Reiseführer von 1823 spricht vom geplanten Abriss der Straße (in der gleich mehrere Apfelweinhändler erwähnt werden).
Das als »la bohème du Doyenné« bekannte Stadtviertel war im Paris der damaligen Zeit allgemein bekannt. Hier lebten Schriftsteller und Maler, darunter der junge Gérard de Nerval, der um 1835 in die Sackgasse Doyenné 3 zog, Théophile Gautier, Arsène Houssaye, der spätere Direktor der Comédie-Française, oder auch der Schriftsteller und Kritiker Jules Janin, der 1829 seinen aufsehenerregenden Schauerroman Der tote Esel und die guillotinierte Frau (L'Âne mort et la femme guillotinée) veröffentlichte, in dem das Schicksal eines Mädchens namens Henriette geschildert wird, die in Paris immer weiter hinabrutscht und schließlich am Place de Grève guillotiniert wird, worauf ihre Leiche zu medizinischen Zwecken tranchiert wird. Nerval bekam hier mehrmals Besuch von Delacroix. Auch der Maler Corot verkehrte hier regelmäßig; als Gautier einen großen Maskenball veranstaltete, übernahm Corot die Gestaltung der Wohnung. Es ist nicht auszuschließen, dass an diesem Ball auch Barbara Bansi teilnahm, die in der Nachbarschaft lebte. Neben zahlreichen Bordellen wurde hier auch ein Männerbordell betrieben, bis es 1826 von der Polizei geschlossen wurde. Vielleicht auf Geheiß Monsieur Palluys, des commissaire de police, der laut Pariser Adressenverzeichnis in der Rue du Doyenné 4 wohnte. Zudem führt die über fünfhundertseitige Ausgabe des beliebten Reiseführers Galignani's New Paris Guide von 1839 die Rue du Doyenné 12 als Redaktionsbüro der Zeitung La Gazette de France. Zu diesem Zeitpunkt war das Viertel bereits mehr oder weniger ruinös.
Die Rue du Doyenné, die zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts gestaltet wurde und steil zur Seine hinabführte, verlief in unmittelbarer Nähe zum Louvre und mündete in den Place du Carrousel, wo am 21. August 1792 - und daran konnte sich Barbara Bansi gewiss gut erinnern - die Guillotine aufgestellt wurde und im Verlauf einiger Monate fünfunddreißig öffentliche Hinrichtungen stattfanden. Wiederum in dieser Gegend waren ein paar Tage zuvor, am 10. August, fast siebenhundert Mitglieder der Schweizergarde niedergemetzelt worden. Später, am 2. August 1793, errichtete man auf dem Platz eine Holzpyramide zu Ehren Marats und stellte am gleichen Ort auch die Badewanne aus, in der er ermordet wurde. Das Viertel, das stellenweise schon damals ruinös war, reichte bis zur Seine hinab, und die Gegend, die sich Richtung Rue de Richelieu erstreckte, war sumpfig.
Eine der ersten Verfügungen Napoleons III. im Jahr 1852, nur zehn Tage, nachdem er durch einen Putsch den Thron bestiegen hatte, bestand darin, die Gegend um den Place du Carrousel einschließlich des Doyenné-Viertels zu beseitigen. (Er beauftragte damit noch nicht Baron Haussmann, sondern dessen Vorgänger Jean-Jacques Berger.) Voller Melancholie beschwört Baudelaire 1859 in seinem Gedicht »Der Schwan« (Le cygne), das er dem im Exil lebenden Victor Hugo widmet, das alte Stadtviertel herauf, das samt dem einstigen Place du Carrousel verschwinden musste, um dem »Neuen Carrousel« Platz zu machen. Mit dem Abriss dieses Viertels nahm die radikale Neugestaltung von Paris ihren Anfang. »Das alte Paris ist nicht mehr« (Le vieux Paris n'est plus), schreibt Baudelaire, verschwunden sind die »alten Vorstädte«. Vieux faubourgs, so nannte man die Gegend um den Carrousel: »faubourg de Doyenné«, über die es in der Übersetzung von Friedhelm Kemp heißt:
Nur im Geiste seh ich noch dieses ganze Barackenlager vor mir
diese Haufen grobbehauener Kapitelle und Säulenschäfte,
das Unkraut und die großen Blöcke, die vom Wasser der Pfützen grüne Flecken hatten,
und, hinter Scheiben blitzend, des Werkzeugs wüster Stapel.
Die Stadt verändert sich...
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