Schweitzer Fachinformationen
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Heute wissen wir, dass Mutterliebe keine natürliche Eigenschaft ist, dass das Verhältnis der Geschlechter und der Umgang von Vätern mit ihren Kindern in den verschiedenen Epochen, Kulturen und Gesellschaften unterschiedlich und sehr vielfältig war und ist (u. a. Fthenakis 1985; Maihofer 2014/2018; Lück 2015; Böhnisch 2018; Stamm 2018/2020; Schaik, Michel 2021).
Aus evolutionärer Perspektive zeigt sich, dass das Aufziehen von Kindern nicht alleinige Aufgabe der Frau ist (vgl. Schaik, Michel 2021, S. 613) und dass in 99 % der Menschheitsgeschichte ein eher egalitäres Verhältnis der Geschlechter vorherrschte (vgl. ebd., S. 599). Je weiter man prähistorisch zurückblickt, so stellt auch der Soziologe Emile Durkheim fest, desto geringer werden die Unterschiede zwischen den Geschlechtern (ebd. 1988, S. 103). Unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit trugen alle substantiell zum Familien- und Gruppenunterhalt bei. Erst mit dem Sesshaftwerden geriet das Gleichgewicht ins Wanken (vgl. Schaik, Michel 2021, S. 599).
Dabei fand das Leben und Arbeiten in vorindustriellen Zeiten noch an einem Ort statt, vor allem in der Landwirtschaft. »Sobald sie konnten trugen Kinder selbstverständlich auch zum Erfolg der Familie bei, indem sie arbeiteten« (Bründel, Hurrelmann 2017, S. 12).
Die Wurzeln unserer heutigen Familienkonstruktionen sind eng verbunden mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Der Mann als Ernährer der Familie und die Frau als versorgende Ehefrau und Mutter eines »verletzlichen« Kindes sind also aus historischer Perspektive, eine relativ neue Entwicklung des späten 19. Jahrhunderts. Erst mit der Industrialisierung und der damit einhergehenden Trennung von Arbeit und Leben wurde diese Arbeitsteilung in Nordamerika und Europa notwendig. Da diese Konstruktion historisch neu war, musste sie erst gerechtfertigt und erklärt werden (vgl. Hausen 1988; Steinbrügge 1987; Honegger 1991). Dazu diente die in Westeuropa im 18. und 19. Jahrhundert entstehende weibliche Sonderanthropologie. Mit naturwissenschaftlichem Anspruch wurden hier Wesensmerkmale aus dem weiblichen Körper abgeleitet. Frauen sprach man dabei rationales Denken und Handeln ab (daher seien sie weder für das Wahlrecht noch für höhere Bildung oder berufliche Tätigkeiten geeignet). Dagegen wurden Frauen Eigenschaften zugeschrieben, die sie für den familialen Bereich und die Kindererziehung im privaten Bereich prädestinierten (vgl. Focks 2016, S. 67ff.).
Die Wurzeln unserer Vorstellungen von der guten Mutter liegen hier begründet und bilden vor allem im Zusammenhang mit der Idee des »verletzlichen« Kindes und neoliberalen Vorstellungen zur Selbstoptimierung den Boden für die gegenwärtig vorherrschenden Idealbilder der perfekten Mutter.
Neben ganz realen Herausforderungen, die der Alltag mit einem Baby und mit Kindern mit sich bringt, werden Eltern immer auch mit den jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen und Bildern zum Elternsein konfrontiert. Vor allem haben sie viele dieser Vorstellungen auch verinnerlicht ( Abb. 1, Kap. 1).
In einer der wenigen Studien zum Thema hat Sabine Diabaté (2015, S. 208-226) vier Mutterleitbilder herausgearbeitet, die gegenwärtig in Deutschland bei den 20- bis 39-Jährigen existieren. Dabei hat sie zwei Reintypen, das berufs- und das kindorientierte Mutterleitbild sowie zwei Mischtypen, das moderate und das vereinbarkeitsorientierte Mutterleitbild identifiziert.
»Gleichzeitig wird auch deutlich, dass das allgemein vorherrschend wahrgenommene Mutterleitbild aufgrund der Widersprüchlichkeit und Komplexität der Anforderungen überfrachtet erscheint. Die Vermutung liegt nah, dass Mütter sich leicht dem gesellschaftlichen Vorwurf ausgesetzt sehen könnten, eine >Rabenmutter< zu sein, wenn sie sich zu stark auf ihr Berufsleben konzentrieren« (ebd., S. 223).
Auch die Ergebnisse der Studie von Margit Stamm (2020) belegen eindrücklich die Überfrachtung der kulturellen Symbolik und der Stereotype zu Mutterschaft. Ob sie wollen oder nicht, müssen sich Frauen mit diesen gesellschaftlichen Vorstellungen und Idealen der »perfekten Mutter« auseinandersetzen, dass in vielen Ländern Europas und Nordamerikas gegenwärtig vorherrscht und mit einer Glorifizierung des Mütterlichen einhergeht. Ausgehend von Ihren Studien spricht Margit Stamm hierbei vom »Supermama-Mythos«:
»Der Supermama-Mythos ist keine individuelle Angelegenheit, sondern ein kulturelles Mandat und als solches wesentliche Ursache dafür, dass viele Frauen einem überdimensionierten Mama-Ideal folgen und die Hauptverantwortung in der Familie übernehmen - auch wenn sie unter dieser Last manchmal zusammenbrechen. Mütter müssen immer - ob berufstätig oder nicht - beweisen, dass sie ihre Kinder nicht vernachlässigen, sie über die eigenen Bedürfnisse stellen und auch für sie verantwortlich sein, wenn sie fremdbetreut werden. Das setzt viele Mütter unter psychischen und physischen Druck und führt zu Konkurrenzbeziehungen zu anderen Frauen, vor allem dann wenn sie alternative Familienmodelle leben und andere Ideologien verfolgen« (ebd., S. 19).
Auch wenn es gegenwärtig verschiedene Familienmodelle gibt und unterschiedliche Möglichkeiten, Muttersein zu gestalten, gibt es seit einigen Jahren in Europa und Nordamerika spezifische vorherrschende Anforderungen an Mutterschaft. Alle Frauen* mit Kind werden mehr oder weniger deutlich mit diesen Anforderungen konfrontiert und müssen sich mit diesen immer wieder auseinandersetzen:
Hauptverantwortung in der Familie (egal ob berufstätig oder nicht),
die Bedürfnisse des Kindes über die eigenen Bedürfnisse stellen,
das Kind und seine Potentiale von Anfang an bestmöglich zu fördern,
die Familie über die Berufstätigkeit zu stellen,
im Beruf die Familienverpflichtungen herauszuhalten,
die Anstrengungen der Vereinbarkeitsleistung nicht zu zeigen,
Widersprüche und Überforderungen durch weitere individuelle Anstrengungen zu kompensieren,
sich bemühen gut auszusehen,
das Kind immer und jede Sekunde zu lieben.
Die hier beschriebene vorherrschende Mütterlichkeit ist eine gesellschaftliche Konstruktion. Diese beinhaltet auch, Teil eines heterosexuellen Paares zu sein. Diese Zuschreibungen und gesellschaftlichen Konstruktionen der hegemonialen Mütterlichkeit beeinflussen seit einigen Jahren das Leben von Frauen* in Europa und Nordamerika mehr oder weniger stark und sind immer auch im Zusammenhang zu sehen mit einer verstärkten Kindorientierung.
Kaum eine Frau* entspricht dieser vorherrschenden Mütterlichkeit, denn diese Anforderungen sind in sich widersprüchlich, überfordernd und lebensfremd. Zudem sehen viele Frauen* dieses Ideal durchaus kritisch und lehnen es für sich ab. Und dennoch müssen sich Frauen* mit Kind - unabhängig davon, welches Familienmodell sie wählen und welches Selbstverständnis sie haben - mit dieser hegemonialen Mütterlichkeit bzw. mit den entsprechenden Anforderungen immer wieder auseinandersetzen. Dieses gesellschaftliche Leitbild beeinflusst auf unterschiedliche Art und Weise und in unterschiedlicher Intensität die Lebenswelten und kann sich vor allem in Krisen oder neuen Situationen, wie zu Beginn der Elternschaft, stärker auswirken. Einige der möglichen Auswirkungen werden im Folgenden benannt:
Überhöhte Ansprüche an sich selbst Mütter* stehen heute vor immer neuen Herausforderungen in der Erziehung von Kindern durch eine sich stetig verändernde Gesellschaft auf der einen Seite und durch immer neue Anforderungen an und Trends zu Erziehung und Bildung von Kindern auf der anderen Seite. Das Ideal der »perfekten Mutter« birgt das Risiko, dass alles, was mit dem Kind zu tun hat, als Anspruch an sich selbst erlebt und verarbeitet wird. Der Versuch, diesem Ideal zu entsprechen, kann zu überhöhten Ansprüchen an sich selbst und zu Überforderung führen (wie wir damit umgehen können Kap. 5.1).
Druck und Beobachtung Mutterschaft ist nicht einfach die Beziehung zwischen einer Frau* und ihrem Kind. »Mutterschaft ist vor allem ein fortlaufender Prozess, der verhandelt und wieder verhandelt wird von Müttern, ihren Partnern, ihren Unterstützungssystemen, vom Freundeskreis, der weiteren beruflichen Umgebung, der Gesellschaft und den Medien, die daraus entstehenden Meinungen führen...
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