Der Anbau in die Anderswelt
Häuser hüten Geheimnisse, besonders alte Häuser. Meins, ein kleiner Backsteinbau am Waldrand, zählt weit über hundert Jahre. Wilder Efeu bedeckt die Fassade, eine mannshohe Buchenhecke umschließt den dahinter liegenden Obst- und Gemüsegarten.
Welche Geheimnisse verbirgt dieses Haus? Neben freundlichen Wichteln, die zum Preis eines wöchentlichen Kuchens sämtliche Haus- und Gartenarbeiten erledigen, verfügt es über einen geräumigen Anbau, der nicht in dieser, sondern in einer anderen Welt existiert.
Ein fulminantes Knarzen, so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten musste, erschütterte vor einem halben Jahr mein Heim. Danach befand sich in der Stubenwand eine Tür, die in eben jenen Anbau führt: drei Butzenscheiben, durch die spärliches Licht fällt, Wände, umsäumt von Regalen, vollgestellt mit Tiegeln, Mörsern und Krügen unterschiedlichster Größen, Materialien und Farben, zudem mehrere Bücher mit Ledereinbänden, verfasst in Schriftzeichen, die ich bis heute größtenteils nicht entziffern kann. Seitdem sich der Zugang manifestiert hat - und die Wichtel den Anbau vom Staub befreit haben -, tauche ich dort immer wieder in das Vermächtnis meiner verstorbenen Großtante Walburga ein. Der Name »Hexen-Walli«, den ihr die Menschen im Dorf gegeben haben, erscheint mir inzwischen nicht ganz unberechtigt, ist sie doch offensichtlich eine begnadete Kräuterkundige und Alchemistin gewesen. Obwohl mich die Wichtel ebenfalls in diesen Künsten unterrichten, werde ich wohl noch Jahrzehnte brauchen, um mit Walburgas Können gleichzuziehen.
Lange, nachdem die Sonne untergegangen war, legte ich den Laptop zur Seite und ließ die Arbeit Arbeit sein. Gegen die Müdigkeit hatte ich vorhin ein Kännchen Mokka getrunken, doch ließ nun meine Konzentration massiv nach. Aufgedreht vom Koffein machte ich einen Abstecher in den Anbau. Beim Betreten zog ich eine Streichholzschachtel aus der Seitentasche meiner Cargohose und entzündete die Öllampen. Flosi, Ältester der Wichtel, hatte mir erklärt, dass dieser Ort ein Teil der Anderswelt sei, weshalb hier keine elektrischen Geräte - noch nicht einmal akkubetriebene LED-Lampen - funktionierten.
Langsam schritt ich an den Regalen entlang, inhalierte den Duft getrockneter Kräuter, strich mit den Fingern über die Bücher und malte mir aus, welches Wissen sie enthalten mochten. Doch halt! Obwohl es keinen Luftzug gab, flackerten die Lichter der Öllampen auf. Was war das? Ich blickte mich um und bemerkte einen Schattenwurf an der Decke, der mir bislang nicht aufgefallen war. Rasch holte ich die Trittleiter aus dem Badezimmer, nahm eine der Lampen und kletterte hinauf.
Ich entdeckte eine kreisrunde Metallscheibe, kaum breiter als meine Schultern und gewölbt wie ein Topfdeckel. An deren Rand konnte ich mit meiner freien Hand einen schmalen Spalt sowie winzige Einkerbungen ertasten. Wie war es möglich, dass ich dies erst jetzt bemerkte? Mit dem Gedanken an die nach zwei Jahren plötzlich in meinem Wohnzimmer erschienene Tür schob ich die Frage zunächst beiseite. Die Scheibe ließ sich drehen, und als ich dagegen drückte, klappte sie quietschend nach oben auf. Aus der Öffnung fiel schwaches Licht, und ein frischer Wind blies mir entgegen. Wie war das möglich? Draußen rührte sich kein Lüftchen, und jetzt, im Hochsommer, konnte selbst nachts nicht die Rede von Kühle sein. Neugierig kroch ich durch die Luke und gelangte auf den Mittelpunkt einer spitz zulaufenden Felskuppel, wohl zehn Meter im Durchmesser. Wohlgemerkt: Mein Häuschen steht am Rand eines mehrere Quadratkilometer umfassenden Waldgebiets, doch vor meinen Augen präsentierte sich eine Hochgebirgslandschaft mit zahllosen Klüften und Tälern, an deren Horizont die Gesteinsformationen bis in die Wolken hineinreichten.
Mit einem Stein blockierte ich den Mechanismus der Luke, danach wagte ich mich vorsichtig auf allen vieren durch das Geröll näher an den Kuppelrand heran. Der Blick hinunter nahm mir den Atem: Ich befand mich auf einer Felsnadel, die mehrere Hundert Meter aus einem nebelverhangenen Massiv herausragte. An den Seiten meinte ich, wie bei einer Wendeltreppe, umlaufende Stufen zu erkennen. Aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse war ich mir jedoch nicht ganz sicher.
Nach Minuten des puren Staunens riss ich mich von dem bizarren Panorama los und krabbelte zurück zur Luke. Doch anstatt mich auf den Weg zu konzentrieren, war ich gedanklich bei meinen Wichtelfreunden, denen ich sofort nach meiner Rückkehr von diesem unglaublichen Ausflug berichten wollte. So kam es, wie es kommen musste: Ich glitt aus und schlitterte hinab. Reflexartig griff ich um mich, fasste nach links und rechts, fand keinen Halt, nur lose Steine. Dann, der Kuppelrand unter meinen Beinen: Ich schrie, rutschte weiter, spürte die Leere - und fiel.
Der Aufprall erfolgte schneller und weicher als erwartet. Ein dichtes Gebüsch, das sich mit seinen Zweigen mannshoch auf einem Vorsprung ausgebreitet hatte, dämpfte den Fall wie eine riesige Matratze. Langsam wand ich mich aus dem rettenden Dickicht heraus. Meine Kleidung: zerrissen; mein Körper: ein einziger großer Schmerz; jedoch, einem Wunder gleich, keine gebrochenen Knochen oder gerissene Sehnen. Unsicher darüber, ob ich lachen oder weinen sollte, entschied ich mich für beides.
Nachdem der Tränenfluss versiegt war, analysierte ich die Lage. Ich befand mich auf einem Vorsprung, hinter mir der Abgrund, vor mir der Eingang zu einer Höhle, rechts und links die in den Felsen gehauene Treppe. Sollte ich den Aufstieg wagen? Bei näherer Betrachtung erwiesen sich die Treppenstufen als verdammt schmal, gerade so breit wie eine Elle, ohne Geländer oder Handlauf. Mit meinen Sneakers wäre der Weg auch bei klarer Sicht ein Wagnis - und das Licht schwand zunehmend. Mir graute bei dem Gedanken, doch würde ich hier wohl übernachten müssen. Mit einem Griff in die Seitentasche versicherte ich mich, dass ich die Streichholzschachtel beim Sturz nicht verloren hatte. Vielleicht gelang es mir, mit trockenen Zweigen unter dem Höhlenvorsprung ein Feuer zu entzünden und aus dem Strauchwerk ein Lager zu improvisieren. Zunächst sollte ich mich jedoch vergewissern, dass meine Unterkunft nicht bereits anderen Kreaturen als Heimstatt diente. Es wäre irgendwie frustrierend, den Sturz zu überleben, um danach als Bärensnack zu enden.
Nachdem ich den Höhleneingang, groß wie ein Scheunentor, passiert hatte, tastete ich mich tiefer in das Innere vor. Schon nach wenigen Metern blieb ich verdutzt stehen: Faustdicke Eisenstangen, vom Boden bis zur Decke, zogen sich in schnurgerader Linie von einer Höhlenseite zur anderen. Am Ende konnte ich ein leichtes Flackern erkennen, so als würde hinter einer Biegung ein Feuer züngeln. Wer hauste dort - und vor welchen Monstrositäten schützten diese Stangen? Der Abstand zwischen ihnen war gerade breit genug für einen Menschen. Ich wog ab zwischen der möglichen Konfrontation mit den Höhlenbewohnern und den Geschöpfen, die diese Barriere den Zutritt zu ihnen verwehren sollte. Besser ich setzte mich mit meinesgleichen auseinander, als unter dem Vorsprung von blutdürstigen Ungeheuern angefallen zu werden. Vorsichtig zwängte ich mich zwischen den Stangen hindurch, schlich zur Biegung und lugte - meinen Körper an den kühlen Felsen gepresst - mit angehaltenem Atem um die Ecke.
Ich erstarrte.
In den letzten drei Jahren meines Lebens waren seltsame Dinge geschehen: Ich hatte ein uraltes Waldhäuschen geerbt, mich mit Wichteln angefreundet, eine Reporterin genarrt, Baumgeister verärgert, Runen studiert und alchemistische Tränke gebraut. Doch nun war ich mir wirklich sicher, in einem Märchen zu sein. Vor mir befand sich eine Kaverne, groß und weitläufig wie ein Dom, sodass deren Ende in der Dunkelheit verschwand. Mehr als hundert Pechfackeln, an den Wänden aufgereiht, erleuchteten den vorderen Teil des Innenraums. Der Boden war mit riesigen Teppichen in Blau und Purpur ausgelegt, darauf verteilt mindestens zwei Dutzend Statuen in der Gestalt gerüsteter Zwerge, Elfen und anderer fantastischer Wesen: die Körper aus weißem Marmor, Rüstungen und Waffen aus Gold. Sollte ich weitergehen oder mich zurückziehen? Abenteuerlust und Vorsicht stritten in mir.
Ein Räuspern riss mich aus meinen Gedanken. Ich zuckte zusammen, fuhr herum und blickte in die smaragdgrünen Augen einer jungen Frau. Ihre Größe und Statur entsprachen der meinen, jedoch trug sie ein tiefblaues Kleid, mittelalterlich geschnitten und vom Saum bis zum Kragen mit silbernen Stickereien verziert. Auf ihrem ebenmäßigen Gesicht formte sich ein Lächeln. Dann begann ihr Mund Worte zu bilden, die eher einer Melodie als einer Sprache glichen. Kein einziges von ihnen ergab für mich irgendeinen Sinn. Ich versuchte es meinerseits, zuerst auf Deutsch, dann auf Englisch, schließlich - wenn auch stockend - auf Französisch. Sie schaute mich bloß fragend an.
Mit der flachen Hand schlug ich mir auf die Stirn, so stark, dass die Frau erschrocken zurückwich.
Wie. Unendlich. Dumm.
Das hier war die Anderswelt!
Langsam, Wort für Wort, grüßte ich sie erneut und stellte mich als Besucherin aus dem Menschenreich vor, dieses Mal auf »Snokre«, der Sprache der Wichtel. Ich hoffte, dass sie auch von anderen Bewohnern der Anderswelt verstanden wurde.
»Ich grüße dich, Besucherin«, antwortete die Frau zu meiner Erleichterung. »Man nennt mich Syn'draja. Sei Gast an meinem Tisch, habe Schutz und Obdach in diesem Heim, denn draußen lauern vielerlei Gefahren.« Sie beherrschte Snokre so elaboriert und fließend wie meine Wichtelfreunde. Mit einer weit ausladenden Geste deutete sie hinter mich. Plötzlich stand dort eine riesige Tafel, darauf...