Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Nie war Lena die Leiter zum Dachboden ganz hochgestiegen. Damals, vor zehn Jahren bei ihrem Einzug in das alte Gutshaus, hatte sie lediglich den Kopf durch die Luke gesteckt und geschaut, ob die Möbelpacker auch wirklich alle Kartons hinaufgeschafft hatten. Von ihren alten Schallplatten hatte sie sich nicht trennen wollen, auch wenn sie gar keinen Plattenspieler mehr besaß. Sie hatte die Schätze ihrer Teenagerzeit im Laufe der Jahre vergessen, und erst an diesem Morgen waren sie ihr wieder eingefallen, als sie eine Liste mit den Punkten anfertigte, die bis zur Schlüsselübergabe erledigt werden mussten. Nun konnte sie den Gang auf den Boden nicht länger herausschieben. Demnächst sollte die nächste Fuhre ihrer Möbel abgeholt werden, und die Zeit drängte.
Wie immer in den letzten Wochen, die von nichts anderem als der Aufteilung des gemeinsamen Hausstandes, Ausmisten und Packen gefüllt waren, schlüpfte sie nach dem Frühstück in ihre Arbeitsklamotten und ging in den ersten Stock, wo sich die Leiter zum Dachboden befand. Ein paar tote Bienen, Mäusekötel und Flusen rieselten auf ihren Kopf, als sie die Luke langsam öffnete. Lena schloss die Augen und pustete mit vorgeschobener Unterlippe über ihr Gesicht, doch einiges blieb auf ihrer eingecremten Haut kleben. Also ließ sie es einfach dort.
Vorsichtig kletterte sie die Leiter hinauf und blieb an der Öffnung stehen, damit ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnten. Die morschen Dielen ächzten unter ihrem Gewicht, dann erinnerte sie sich an den Schornsteinfeger, der ein Jahr zuvor hier oben gewesen war, um zu schauen, was den Abzug des Kamins verstopft hatte. Lena entdeckte seine Fußabdrücke auf dem Boden, der über und über mit den Halmen von Reet aus der Dacheindeckung und Vogelkot übersät war, und hoffte, dass die wurmstichigen Planken auch sie trugen. Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und zog den Kopf ein, damit die Spinnweben, die wie Vorhänge von den Dachsparren hingen und von einer leichten Brise hin und her geweht wurden, nicht in ihrem Haar hängen blieben. Spinnen waren das Einzige, woran sie sich auch nach zehn Jahren Landleben noch nicht gewöhnt hatte. Dabei war das Reetdach des alten Hauses voll davon und sie hatte sogar aus ihren Klamotten morgens beim Anziehen immer mal wieder ein Exemplar geschüttelt.
Staub und Insekten tanzten in dem schwachen Lichtstrahl, der durch die Eulenlöcher zu beiden Seiten des Giebels fiel und nur einen kleinen Streifen des weitläufigen Dachbodens in schummriges Licht tauchte. Tauben gurrten, aber sie sah sie nicht. Die Luft roch abgestanden und leicht süßlich, als würde irgendwo ein Tier verwesen. Lena presste die Lippen aufeinander und atmete flacher. Irgendwo raschelte etwas. Sie zuckte und starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. Ihr war mulmig zumute. Sie zog das Handy aus ihrer Jackentasche und tippte auf das Symbol mit der Taschenlampe. Im Lichtkegel erschienen aufeinandergestapelte Milchkannen, die wie erstarrte Gespenster auf irgendetwas zu warten schienen. Krüge und Glasflaschen lagen herum, einige waren zerbrochen. Hölzerne Rechen und ein Schürhaken lehnten an dem Schlot des Schornsteins, und die rostige Schneide einer Sense ragte feindselig in die Luft. Das Knäuel eines verhedderten Pferdegeschirrs türmte sich in einer hölzernen Wanne, wie sie einst bei Hausschlachtungen verwendet wurde. An einem Dachsparren hing an einem Nagel eine angelaufene Bettpfanne, an einem anderen ein leerer Bilderrahmen. Seitlich von ihr bewegte sich etwas, und sofort tauchten in Lenas Fantasie Fratzen auf, wie sie es aus der Geisterbahn kannte. Dann stellte sie fest, dass es nur ein alter Spiegel war und sie sich vor sich selbst gefürchtet hatte. Die Geräusche des Hofes drangen zu ihr hinauf. Lena hörte, wie der Postbote auf das Grundstück fuhr, über den knirschenden Kies der Auffahrt lief. Der Briefkastendeckel klapperte. Wenn sie genau hinhörte, nahm sie sogar das Rauschen der Ostsee wahr, die ein Grund dafür war, dass ihr Mann und sie sich einst sofort in diesen einsamen Flecken verliebt hatten.
Lena tastete sich weiter vorwärts, fühlte mit einem Mal etwas Weiches unter ihrer Sohle und zog erschrocken den Fuß hoch. Mit Schaudern blickt sie auf die vertrockneten Reste eines Vogels. Sie schubste die Vogelmumie mit ihrer Schuhspitze aus dem Weg und wirbelte gleichzeitig eine kleine Staubwolke auf. Ganz hinten an der Giebelwand unterhalb einer der Uhlenfluchten, wie die Leute hier auf dem Land die Eulenlöcher nannten, standen ihre Kartons. Hell und glatt leuchtete die Pappe im Lichtkegel des Handys. Zielstrebig steuerte sie darauf zu. Plötzlich splitterte Holz, ihr linker Fuß brach durch eine Latte. Sie ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Schweiß trat auf ihre Stirn und ihr Blut hämmerte in den Ohren. Sachte zog sie ihr Bein hoch, aber der Fuß steckte fest. Vorsichtig ging sie in die Knie und brach mit der Hand die splittrigen Holzteile ab, die sich in ihren Knöchel bohrten. Als das Loch groß genug war, zog sie ihren Fuß heraus und blieb reglos auf den Knien sitzen. Sie fühlte sich wie auf einer Eisfläche, die jederzeit brechen konnte. Sie angelte nach ihrem Handy, das sie vor Schreck hatte fallen lassen und nun eine Armlänge entfernt von ihr im Schmutz lag. Sie zog das Telefon zu sich heran und leuchtete in das Loch, um ein Foto des Schadens für ihren Vermieter zu machen, auch wenn er damit noch mehr Grund zum Meckern bekam. Lena seufzte, als sie daran dachte, wie oft er unangemeldet auf den Hof gefahren war und sie wegen allem und nichts ermahnt hatte. Vor allem der Löwenzahn und die Gänseblümchen, die sie wegen ihrer Bienen nicht spritzte, waren ihm ein Dorn im Auge. Wenigstens das würde sie nicht vermissen, dachte sie und fühlte einen Hauch von Erleichterung inmitten des Stress und der Furcht vor ihrer unbekannten Zukunft. Sie richtete ihr Handy auf den mit zerbröseltem Stroh und Holzsplittern angefüllten Hohlraum, tippte auf den Auslöser und prüfte, ob das Foto scharf genug und auch alles drauf war. Lena stutzte, zog das Bild mit den Fingern größer und betrachtete es mit gerunzelter Stirn. Unter einer der geborstenen Planken, die sie aus ihrer Position nicht einsehen konnte, lugte etwas hervor, das anders aussah als der übrige Dreck, der sich in dem Loch gesammelt hatte. Sie beugte sich vor, legte ihren Kopf auf die Seite und leuchtete mit ihrem Handy unter das Dielenbrett. Dann wischte sie mit ihrer freien Hand Holzstückchen und Stroh zur Seite und zog ein Büchlein in der Größe eines Notizbuches hervor. Ungläubig betrachtete sie ihr Fundstück und blies über den ledernen Einband, sodass eine kleine Wolke aufwirbelte. Das Leder war fleckig und abgewetzt, hier und da ganz rau, aber gleichzeitig auch so weich, wie Leder nur dann wurde, wenn man es täglich benutzte. Ein derber Zwirn, der entlang des Buchrückens verlief und an zwei Stellen durch Leder und Papier gezogen war, hielt die Seiten zusammen. Wie ein rohes Ei hielt Lena ihr Fundstück in den Händen und betrachtete es von allen Seiten. Sie legte es in ihrem Schoß ab, wischte ihre Hände mehrmals an ihrer Hose sauber und öffnete behutsam den Deckel. Das kräftige Papier war vergilbt und angelaufen, an den Kanten bröckelte es etwas. Mit Fingerspitzen blätterte sie vorsichtig durch die Seiten, die eng mit einer Schrift beschrieben waren, die Lena kaum lesen konnte. Nur das Datum ganz oben auf der ersten Seite konnte sie entziffern. 12. 5. 1649 las sie und hielt vor Aufregung die Luft an. Behutsam blätterte sie durch die vergilbten Seiten. Auf einigen befanden sich Skizzen von Pflanzen, auf anderen waren rechteckige Flächen, daneben Symbole, die an Möhren oder Rüben erinnerten und die Lena als Pflanzpläne deutete. Andere Aufzeichnungen sahen aus wie Rezepte, mit Mengenangaben und einer Erklärung zur Zubereitung oder Anwendung. »Wahnsinn«, entfuhr es ihr, als sie weiter hinten Zeichnungen von Bienen, Bienenkörben und Imkerzubehör entdeckte, das genauso aussah wie die Geräte, mit denen sie in ihrer Imkerei arbeitete. Der unbekannte Zeichner hatte eine Gänsefeder abgebildet, mit der auch sie ihre Bienen von den Waben wischte. Auf einer anderen Seite war eine Art Kescher, den sie im Frühsommer beim Einfangen von Schwärmen benutzte, und außerdem ein unförmiges Ding mit einem Schleier, das sie als Imkerhut identifizierte. Sie entdeckte die Skizze eines Baumes, an dem ein Mensch mit einem Stück Wabe in der Hand von einem Astloch hinabkletterte. Ungläubig betrachtete Lena die Zeichnungen und auf einmal kamen ihr Bilder in den Kopf, wie sie sie aus Filmen von alten Zeiten kannte.
Ihre Kartons und der bevorstehende Umzug waren vergessen. Sie klappte das Buch zu und ließ ihren Fund in ihren Hosenbund gleiten. Bedächtig erhob sie sich und schlich zur Luke zurück. Als sie auf der ersten Sprosse der Leiter stand, fasste sie sich an den Hosenbund und überzeugte sich, dass ihr Schatz sicher verstaut war; erst dann kletterte sie hinab. Sie ging ins Wohnzimmer, setzte sich an den Esstisch und legte das Buch auf die Tischplatte. Einen Moment betrachtete sie es nur, als hoffte sie, dass es allein dadurch sein Geheimnis preisgeben würde, dann klappte sie den Einband auf und versuchte die Wörter zu entziffern. Als es ihr nicht gelang, holte sie ihren Laptop aus ihrem Büro, in dem sich Honiggläser, Verpackungsmaterial und etliche andere Sachen aus ihrer Imkerei stapelten, für die sie ebenfalls einen neuen Ort finden musste. Zurück am Esstisch, googelte sie »Alte Schrift« und fand sofort, was sie suchte. Mühsam gelang es ihr, ein paar der Buchstaben anhand der altdeutschen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.