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1. Kapitel
Das tote Mädchen auf der Schneewehe sah aus, als schliefe es. Eine Hand war unter die Wange geschoben, die Haare über die bauschige Schneeverwehung gefächert. Nur die blau-roten Warnlampen des Streifenwagens, deren Schein auf ihr Gesicht fiel, störten die Ruhe. Lola Wicks kramte ein Notizbuch aus den Tiefen ihres Parkas und drängte sich in den Kreis der Uniformen, der den Leichnam umgab.
»Was ist passiert?« Niemand antwortete ihr. Lola trat zwischen zwei Stammespolizisten. »Grundgütiger, das ist ja Judith Calf Looking!«
Einer der Beamten löste sich aus der Gruppe. »Was zum Teufel machst du hier?« Die Stammespolizisten wandten ihre Aufmerksamkeit von dem toten Mädchen ab und dem lebendigen Streit zwischen der Reporterin und dem Sheriff zu.
»Ich habe es durch den Polizeifunk erfahren. Was machst du hier? Befinden wir uns hier nicht im Res? Dafür sind doch die zuständig.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Stammes-Cops, die die neugierigen Blicke verlegen senkten.
Abgesehen von seiner Uniform hätte Charlie Laurendeau, der erste indianische Sheriff des Landkreises, einer von ihnen sein können. Er war braunhäutig, kräftig und trotz seines Gewichts ziemlich leichtfüßig. Während sich Lola durch den tiefen Schnee zu ihm durchkämpfte, verfluchte sie innerlich den Impuls, der sie dazu verleitet hatte, am Ende des Sommers, nur wenige Wochen bevor der Winter hereinbrach, von Baltimore nach Montana umzuziehen. Charlie kam ihr entgegen. Er achtete nicht auf seine Schritte und geriet trotzdem nicht ins Stolpern. »Der Bezirk wird automatisch informiert, wenn ein Verbrechen vorliegt. Momentan weist noch nichts auf ein Verbrechen hin, aber sicherheitshalber ist auch die Staatspolizei schon unterwegs.«
Die Mienen der Stammespolizisten versteinerten. Selbst in der kurzen Zeit, in der Lola nun in Montana lebte, hatte sie bemerkt, dass das endlose Gerangel zwischen Stammespolizei und Ordnungshütern von außerhalb des Reservats ein verwirrendes Netz von lokalen, bundesstaatlichen, staatlichen und auf indianischen Gesetzen basierenden Vorschriften gesponnen hatte, das jede beteiligte Behörde behinderte, sobald es um ein Verbrechen ging, in das Blackfeet verwickelt waren. Charlie war Indianer und gleichzeitig Sheriff des weißen Landkreises, der das Reservat zum größten Teil umgab, was seine Arbeit zu einem wahren Drahtseilakt machte. Gerieten die Söhne der Blackfeet außerhalb des Reservats auf die schiefe Bahn und landeten in Charlies Gefängnis, warfen empörte Mütter ihm vor, er habe seine Wurzeln vergessen. Die weißen Bewohner hingegen murrten, dass indianische Jugendliche während Charlies Amtszeit als Sheriff ungeschoren davonkamen, solange sie nicht einen Mord begangen hatten. Und dann war Lola aufgekreuzt.
»Ich dachte, du hörst den Polizeifunk nicht mehr ab«, sagte Charlie. »Jan ist doch für die Polizeiberichterstattung zuständig, seit .«
»Seit du und ich miteinander ins Bett gehen?«
Die Stammespolizisten hoben den Blick. Lola konnte sich gut vorstellen, wie sie sich schieflachen würden, wenn sie die Geschichte später zum Besten gaben. Lola hatte Charlie im Sommer kennengelernt, als sie nach Montana gekommen war, um eine Freundin zu besuchen, die hier arbeitete. Doch bei ihrer Ankunft war Mary Alice tot gewesen - ermordet. Während der Ermittlungen waren sich Lola und Charlie nähergekommen - so nah, dass er es geschafft hatte, sie zu überreden, ihren Job bei einer Zeitung in Baltimore aufzugeben und bei der kleinen Tageszeitung in Magpie anzuheuern. Der Daily Express deckte die Nachrichten in einem Landkreis ab, dessen Bevölkerung in ein einziges Viertel von Baltimore gepasst hätte. Lola hatte sehr darunter gelitten, dass man sie bei ihrer alten Zeitung von ihrem Auslandsposten in Kabul abgezogen und zu einem Job in einer Lokalredaktion verdonnert hatte. Deshalb war ihr der Umzug wie der perfekte Abgang von der Zeitung in Baltimore erschienen. Jetzt, vor allem nachdem sie sich mit den winterlichen Gegebenheiten in Montana auseinandersetzen musste, war sie sich dessen nicht mehr so sicher.
Charlie nahm Lola am Arm und zerrte sie ein paar Schritte zur Seite. »Lola. Was soll das?«
»Jan ist mit einer anderen Story beschäftigt«, sagte sie. »Außerdem bin ich fürs Reservat zuständig, das weißt du doch. Im Funk wurde nur etwas von einer Leiche erwähnt, nichts von einem Verbrechen. Liegt hier ein Verdacht vor? Wenn ja, dann hole ich Jan weg von dem, woran sie gerade arbeitet.« Sie klopfte sich mit dem Bleistift an die Zähne - sie hatte rasch herausgefunden, dass Tinte bei Minusgraden einfror - und wartete auf seine Antwort. Ihr formloser Parka, dessen glatte Synthetikoberfläche anzeigte, dass er eine Neuerwerbung war, reichte ihr fast bis zu den Knien. Sie war mit ihren knapp eins achtzig beinahe so groß wie die anwesenden Männer. Allerdings waren diese um die Schultern und die Hüften ziemlich breit, solide wie die Getreidespeicher in den Orten der High Plains, während Lola mit ihrer schlaksigen Figur in dem weit geschnittenen Parka regelrecht zu versinken schien. Ein heftiger Windstoß brachte sie ins Wanken. Die Männer blieben reglos stehen. Lolas Atem fing sich in den Locken, die unter ihrer Strickmütze hervorlugten, und gefror dort. Winzige Eiszapfen glitzerten, als sie Charlie aufmunternd zunickte. Der Sheriff trug keine Mütze, und seine Lippen waren in der Eiseskälte blau angelaufen. Erschöpfung zeigte sich in den dunklen Ringen unter seinen Augen und grub grausame Furchen zwischen Mund und Kinn. Er war wegen eines Unfalls mit einem Sattelschlepper, bei dem der Fahrer zu Tode gekommen war, den Großteil der Nacht unterwegs gewesen, und jetzt das. Der Wind schlug ihm den Saum seiner Uniformhose um die Knöchel. Lola hatte ihm am Morgen beim Anziehen zugesehen; sie hatte die Decke bis ans Kinn gezogen, während er in eine lange Seidenunterhose geschlüpft war und danach in eine aus Baumwolle im traditionellen Waffelmuster, bevor er schließlich seine Uniformhose angezogen hatte. Bei den Füßen ging es wieder von vorn los: Erst kamen Füßlinge, dann zwei Paar Socken. Das Radio hatte minus achtundzwanzig Grad angekündigt. »Manche Cowboys tragen Strumpfhosen unter den Jeans«, erklärte er, als er merkte, dass sie ihm zusah. »So weit bin ich nie gegangen. Aber an einem derart kalten Tag bin ich fast versucht, es zu tun.«
Judith spürte die Kälte längst nicht mehr. Was gut war, dachte Lola, während sie die Männerhose mit den nachlässig hochgekrempelten Hosenbeinen musterte, die Judith trug, und die nackten Füße des Mädchens, die in billigen Sneakern steckten. In ihrer Zeit als Auslandskorrespondentin hatte Lola in umkämpften Gebieten gearbeitet, die sich hauptsächlich durch den Einfallsreichtum der Tötungsmethoden unterschieden hatten. Diese Erfahrung lag noch nicht weit zurück. Deshalb war sie fast dankbar für die gnädigerweise meist noch recht intakten Leichen in ihrer Heimat. Ein Stammespolizist zog einen Fotoapparat aus dem Mantel und machte zwei Fotos von Judiths Leiche. Die Tätowierung unter ihrem Ohrläppchen, etwa so groß wie ein Zehncentstück, schimmerte wie neu auf der mittlerweile wächsernen Haut. Der Mann ging ein paar Schritte und schoss noch ein paar Aufnahmen aus einem anderen Winkel, bevor er den Apparat rasch wieder einsteckte. Etwas Dünnes, mit Spitze Gesäumtes flatterte unter Judiths Kapuzenshirt. Lola beugte sich vor, um das Kleidungsstück genauer zu betrachten. »Das sieht ja fast aus wie ein Nachthemd«, sagte sie zu Charlie. »Du hast nicht gesagt, ob du glaubst, dass es Mord war. Was hält sie denn da in der Hand?«
»Eine Adlerfeder.«
»Seltsam. Findest du nicht auch?«
»Hör auf, mich auszuhorchen, Lola. Wahrscheinlich ist sie erfroren. Wir haben sie noch nicht umgedreht, aber es gibt keine offensichtlichen Verletzungen. Vielleicht hat sie versucht, per Anhalter nach Hause zu kommen. Sie ist letztes Jahr aus dem Reservat verschwunden. Wenn jemand sie in der vergangenen Nacht mitten in dem heftigen Sturm an der Abzweigung abgesetzt hat, hat die Kälte sie erwischt, bevor jemand anders vorbeikam. Es ist ein Jammer. Sie hätte es nicht mehr weit gehabt.«
»Wie ist sie denn an diese Stelle gelangt, wenn sie per Anhalter gefahren ist?«, fragte Lola. »Hat ein Adler sie vom Himmel fallen lassen?« Die Köpfe der Stammespolizisten drehten sich im Einklang zu der etwa eine Viertelmeile entfernten Straße. Lola war mit ihrem Pick-up über die gefrorenen Furchen der Prärie gerumpelt, und diese Fahrt hatte sogar ihre Zahnfüllungen auf die Probe gestellt.
Charlie gab ihr keine Antwort. Er ließ seine Handschuhe in den Schnee fallen, streifte sich Latexhandschuhe über und beugte sich über Judiths Leiche. Er hakte eine Fingerspitze in den Ärmel des Sweatshirts und streifte ihn über Judiths Ellbogen hoch. Offenbar wollte er nachsehen, ob Judith wieder Drogen gespritzt hatte. Jeder wusste, dass das Mädchen jahrelang sämtliche Drogen genommen hatte, die gerade erhältlich waren.
Lola beugte sich über Charlie. »Verdammt«, entfuhr es ihr. Blutergüsse um Einstichstellen zogen sich über die bleiche Haut von Judiths Innenarm.
Aber das war nicht alles. Charlie hielt den Atem an. Die Stammespolizisten drängten sich um sie herum. Charlie ignorierte die Einstiche und fuhr mit einem behandschuhten Finger über eine schiefe Herzform. Die Linien waren erhaben, braun und glänzend.
»Das ist neu, stimmt's?«, fragte Lola.
»Ja«, knurrte Charlie schroff.
»Bei dieser Tätowierung war kein Profi am Werk.«
»Das ist keine Tätowierung«, sagte Charlie. »Das ist ein...
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