Schweitzer Fachinformationen
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Mein Kontakt mit Heinz kommt im Digitalen zustande, für mich ist er damals noch Herr Thelen. Ende Mai 2022, gut ein Jahr nach seinen Alpträumen, schreibt dieser Herr Thelen mir eine Nachricht. Er bedankt sich für ein Gespräch im Deutschlandfunk mit dem Autor und geistlichen Lehrer Pierre Stutz. Stutz war römisch- katholischer Priester, outete sich als homosexuell und legte im Sommer 2002 sein Priesteramt nach 17 Jahren nieder. Über sexuellen Missbrauch haben wir in dem Radiointerview nicht gesprochen, aber über Missbrauch geistlicher Autorität. Stutz kritisiert das patriarchale Machtsystem der Kirche; dagegen wolle er kämpfen, sagt er, auch wenn er die Früchte dieses Kampfes nicht mehr selbst ernten könne. »Wir stehen nicht mehr zur Verfügung für dieses Unrecht, für diesen Machtapparat«, stellte er im Interview klar.
Herr Thelen liest keine spirituellen Bücher, auch keine Sinn-Bestseller aus dem Regal »Achtsamkeit & Seele«. Aber was Pierre Stutz im Radio sagte, imponiert ihm. Ein Mann, der weiß was er will und dazu steht, schreibt er mir über den Messenger-Dienst. Ich antworte digital distanziert: Sehr geehrter Herr Thelen, vielen Dank, es freut mich, dass Sie das Interview mit Gewinn gehört haben .
Eine Viertelstunde später finde ich eine längere Nachricht in meinem Postfach. Sieben Jahre lang sei er jeden Sonntag in der Kirche eines Kinderheims missbraucht worden. Er leide heute noch darunter, schreibt der mir damals noch unbekannte Mann. Beweisen könne er den Missbrauch nicht.
Ich wurde auf das Schlimmste erniedrigt. Ich konnte mich niemandem anvertrauen. Ich wurde gezwungen, Schimmeliges zu mir zu nehmen, ich mochte es nicht, musste aber aufessen, sonst bekam ich nichts anderes. 3 lange Tage habe ich gebraucht, um das zu schaffen. Und: Ich war immer ein Mensch zweiter Klasse.
Eine Lebenserinnerung, komprimiert auf gut 1500 Zeichen, adressiert an eine Frau, die er nur aus dem Radio kennt.
In den Stunden danach trage ich zusammen, was ich über Heimerziehung weiß. In Missbrauchsgutachten, wie sie deutsche Bischöfe in Auftrag geben, kommen Menschen wie Heinz selten vor. Die meisten katholischen Heime waren entweder in der Trägerschaft von Orden oder der Caritas. Bistümer sind dafür nicht zuständig, also werden sie in den Gutachteraufträgen nicht erfasst. Die Betroffenengruppe ist groß. Zwischen 700.000 und 800.000 Kinder und Jugendliche lebten zwischen 1949 und 1975 in der Bundesrepublik im Heim, rund 500.000 waren es in der DDR. Lange wurden die vielen ignoriert.
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2001 veröffentlichte Renan Demirkan den vielbeachteten Report »Der Mond, der Kühlschrank und ich«. Kinder und Jugendliche aus Heimen kamen darin so zu Wort, wie sie es selbst wünschten. Das Buch mischt Tagebucheinträge, Gedichte, Klagen, Rap.
Die populäre Schauspielerin sensibilisierte damit ein größeres Publikum für ein randständiges Thema. Die Texte waren aktuell, erzählten von den 1990er- und 2000er-Jahren. Da hatten sich die Zeiten schon geändert. Mit Heinz' Welt haben die Schilderungen der Nachgeborenen wenig zu tun. Aber das kleine Buch ermutigte auch Heimkinder der 1950er- und 60er-Jahre zu eigener Biografie-Arbeit. Danach erschienen einige Erinnerungen von Betroffenen in kleinen Verlagen, weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit.
Publizistische, anklagende und vor allem aufklärerische Wucht entfaltete wenige Jahre nach Demirkans Textsammlung die Arbeit des Journalisten Peter Wensierski. Er veröffentlichte im Februar 2006 in der Wochenzeitung »Die Zeit« ein Dossier unter dem Titel »Das Leid der frühen Jahre«. Im selben Jahr erschien sein Buch »Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik«. Der Autor hatte mit vielen Betroffenen gesprochen und, soweit möglich, in den Einrichtungen recherchiert. Die Heimerziehung bezeichnet er als Menschenrechtsverletzung. Im Vorwort erklärt er: »Dieses Buch ist ein Befreiungsschlag von und für die Betroffenen, die sich erstmals öffentlich dazu bekennen, ein Heimkind gewesen zu sein.«
Wensierski schreibt auch über städtische Einrichtungen, nicht ausschließlich über kirchliche Heime. Aber: Mindestens zwei Drittel der Heime in der Bundesrepublik waren zwischen 1949 und 1975 kirchlich geführt; die Angaben schwanken je nach Region und Jahrzehnt. Die meisten katholischen Häuser waren in der Hand von Frauen- oder Männerorden. Wensierski fordert deshalb: »Von der Kirche muss verlangt werden, dass sie ihre Opfer um Verzeihung bittet für all das, was sie diesen Menschen angetan hat.«
Die eindrucksvolle Recherche brachte mit einem Schlag das Thema Heimerziehung auf die politische Agenda. Leugnen und Verdrängen schienen nun nicht mehr möglich. Der Petitionsausschuss des Bundestages befasste sich zwei Jahre lang mit den Themen Aufarbeitung und Entschädigung. Das Parlament könne dies nicht leisten, befand der Ausschuss und schlug einstimmig einen Runden Tisch Heimerziehung vor. Der kam 2009 zustande, sein Arbeitsauftrag beschränkte sich auf die alte Bundesrepublik. Die Fürsorgeerziehung der ehemaligen DDR wurde ausdrücklich ausgespart. Gesellschaftssystem und Pädagogik seien zu unterschiedlich, lautete die Begründung. »Stiefkinder der Republik« nannte die Historikerin Angelika Censebrunn-Benz ihr 2022 erschienenes Buch über die DDR-Heime.
Wie Stiefkinder müssen sich auch die Betroffenen aus Westdeutschland am Runden Tisch gefühlt haben. Drei ehemalige Heimkinder saßen an dem symbolischen Möbelstück - eine kleine Minderheit inmitten von Profis aus Politik, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Wissenschaft. Nach knapp zwei Jahren legte der Runde Tisch im Dezember 2010 einen Abschlussbericht vor.
Mittlerweile waren viele Missbrauchsfälle in der römisch-katholischen Kirche bekannt geworden; auch dazu gab es 2010 einen Runden Tisch. Der Abschlussbericht zu den Heimen verweist darauf:
»Etwa ein Drittel der Betroffenen, die sich an die Infostelle des Runden Tisches gewandt haben, berichtet von sexuellen Übergriffen unterschiedlichster Art und erwartet eine auf diese Erfahrungen bezogene Lösung. Die Bundesregierung hat zum Thema des sexuellen Missbrauchs - auch in Institutionen - im April 2010 einen Runden Tisch eingerichtet, der über den Umgang mit dem Thema berät. Um dieser Arbeit nicht vorzugreifen, werden hier keine spezifischen Vorschläge zu dieser besonderen Problematik unterbreitet. Um jedoch sicherzustellen, dass eine einheitliche Lösung für die von sexuellem Missbrauch betroffenen Menschen erreicht wird, sind die besonderen Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch gegen sexuellen Missbrauch zu berücksichtigen.«
Die Kirchen hatten an Runden Tischen nichts Scharfkantiges zu befürchten. Sie wurden als Verhandlungspartner betrachtet, nicht als Verantwortliche, geschweige denn als Beschuldigte oder Angeklagte. Die CDU-geführte Bundesregierung achtete auf das Wohlergehen kirchlicher Würdenträger. Die Bischöfe sowie die Vertreter von Diakonie und Caritas mussten nicht ernsthaft damit rechnen, dass der Staat eine unabhängige Instanz mit der Aufarbeitung der Gewaltgeschichte beauftragen würde. Akten beschlagnahmen, Zeuginnen und Zeugen vernehmen und gründlich untersuchen, was die Schläge im Namen des Herrn angerichtet haben - das blieb aus. Eine Kommission mit solchen Befugnissen war nicht erwünscht. Die Bischöfe bestimmten Verfahren und Tempo. Der Staat brauchte 2010 die Kirchen als großen Player im Sozial- und Bildungsbereich, Konfrontation war unerwünscht.
Daran hat sich auch 15 Jahre später nichts geändert. Runde Tische gleichen Pokerrunden: Kirchen und Staat spielen auf Zeit, wohlwissend, dass viele Betroffene diese Zeit nicht haben.
Zu einer systematischen, unabhängigen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in kirchlichen Einrichtungen kam es 2010 nicht - trotz der Querverweise von einem Runden Tisch an den anderen, trotz großer medialer Aufmerksamkeit für das Thema Missbrauch. Katholische wie evangelische Kirche lancierten gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit ihre Erzählung, es handele sich um »bedauerliche Einzelfälle«, aber man stelle sich der »schmerzvollen Geschichte«. Die Bundesregierung ließ sich einlullen. Sie verweigerte, was Betroffene schon damals forderten: von Menschenrechtsverletzungen zu sprechen und das Unrecht umfassend aufzuarbeiten. Die Kirchen ließen sich dazu herab, die eigene Schuldgeschichte kurz anzuschauen. Oder sie unterließen sogar diesen flüchtigen Blick. Das Wort »Aufarbeitung« klingt massiv, wurde aber zum schwer fassbaren Gnadenakt.
Ende September 2018 veröffentlichte die Deutsche Bischofskonferenz während ihrer Herbstvollversammlung in Fulda eine Studie mit dem Titel »Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz«, besser bekannt als MHG-Studie. Jeder der in Fulda Vollversammelten muss gewusst haben, dass die Geschichte von den »Einzelfällen« schon 2010 nicht stimmte, aber alle hatten sie verbreitet. Nach der MHG-Studie wurde die Lüge diskret entsorgt; nun war von einem bischöflichen »Lernprozess« die Rede. Der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, bekundete...
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